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Philipp Blom: "Der taumelnde Kontinent":Wir Taumelnden

Unsicherheit, Terror, Globalisierung: Die Welt rast ins Unbekannte, die Menschen sind nervös - Philipp Blom beschreibt die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als die unsrige.

T. Speckmann

Diese Geschichte kommt ohne die Geschichte aus. Zumindest versucht sie das. Es ist die Geschichte der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Doch dieser Blickwinkel ist bereits der erste Fehler gewöhnlicher Erzählungen jener Epoche. So sieht es jedenfalls Philipp Blom. Daher verändert der Wiener Historiker die Perspektive.

aufgang nur für herrschaften klingelschild an einem haus in berlin um 1900

Wohnhaus in Berlin, um 1900.

(Foto: Foto: oH)

Kein Idyll, keine "gute alte Zeit" vor dem "Sündenfall", keine "Belle Époque" leuchtet hier auf. Bloms Welt ist eine andere. Es ist die Welt der Menschen im damaligen Europa. Ihre Briefe, Tagebücher, Romane, Zeitungen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen lassen bei Blom eine alte Epoche neu erstehen, die der heutigen verblüffend ähnlich scheint: Sie ist erfüllt von Unsicherheit und Erregtheit.

Die Gespräche der Menschen und die Zeitungsberichte sind geprägt von Themen, die auch die Agenda des frühen 21. Jahrhunderts dominieren: neue Technologien, Globalisierung, Terrorismus, neue Formen der Kommunikation und Veränderungen im Sozialgefüge. Auch damals ist das allgemeine Gefühl weit verbreitet von einem Leben in einer sich mehr und mehr beschleunigenden Welt, die ins Unbekannte rast.

Blom lädt nicht nur ein auf eine Reise in diese faszinierende Zeit. Er wagt zugleich ein Gedankenexperiment: Der Leser soll sich vorstellen, er wisse nichts vom Mord in Sarajevo, von der Schlacht an der Somme, vom Börsenkrach, von der Reichspogromnacht, von Auschwitz, Stalingrad, Hiroshima, den Gulags, Vietnam oder der Berliner Mauer. Er soll vielmehr die Jahre von 1900 bis 1914 ohne die langen Schatten der Zukunft sehen, sie allein als lebendige Momente in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit und vor allem mit ihrer noch immer offenen Zukunft betrachten.

Das Tableau, das Blom hier sprachgewaltig entfaltet, hat in der Tat seine Reize. Mit ihm sind noch einmal Leistungen monumentaler Größe zu bewundern: Sigmund Freud beginnt, die dunklen Seiten der Seele zu erforschen. Die Physik entlockt der Materie das Geheimnis der Atome. Die Malerei befreit sich von den Gegenständen. Die europäische Aristokratie verabschiedet sich nach und nach von der öffentlichen Bühne.

Aggression und Verunsicherung

In den Jahren zwischen der Weltausstellung von 1900 und August 1914 durchleben die Europäer einen grundlegenden Wandel, der alle Bereiche ihres Alltags, ihrer Kunst, ihrer Wissenschaft und nicht zuletzt ihrer Politik erfasst. Das Kind dieser Epoche ist das moderne Europa - eine Kultur, der alle Gewissheit fragwürdig ist und die in eine offene, vollkommen ungewisse zukünftige Zeit treibt.

Als zentrale Umwälzung behandelt Blom dabei den Wandel im Verhältnis zwischen Mann und Frau. Patriarchalische Strukturen werden von Frauen in Frage gestellt, die zum ersten Mal in der europäischen Geschichte in größerem Rahmen Zugang zu Schulbildung und zu Universitäten haben, ihr eigenes Geld verdienen und nicht nur das Wahlrecht und effektive Empfängnisverhütung verlangen, sondern zum Teil auch eine völlige Umgestaltung der Gesellschaft. Sie weisen nicht zuletzt darauf hin, dass die traditionellen männlichen Eigenschaften - körperliche Kraft, kriegerische Tugenden - in einer industriellen Gesellschaft bedeutungslos geworden sind.

Die Männer wiederum reagieren oftmals mit Aggression und Verunsicherung: Niemals zuvor waren auf den Straßen so viele Uniformen zu sehen. Niemals zuvor wurden so viele Duelle ausgefochten. Niemals zuvor gab es in den Zeitungen so viel Werbung für Behandlungen, die versprachen, "Männerkrankheiten" und "Nervenschwäche" zu heilen. Und nie zuvor wurden so viele Männer mit Symptomen wie Erschöpfung und "Nervosität" in Sanatorien und Krankenhäuser eingewiesen - Phänomene, die vor einigen Jahren Joachim Radkau in seinem Buch "Das Zeitalter der Nervosität" beschrieben hat.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie die Männlichkeit in Frage gestellt wird.

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