Leseprobe:
Die Augen tränten. Die Richterin war froh, das Büro für sich allein zu haben. Ein Organ der Rechtspflege mit solch nassen Augen sähe aus, als würde es über den Akten weinen.
Sie nahm den Kalender, blätterte, blies die Wangen auf. Sie hatte den Termin beim Augenarzt nicht vergessen. Da klingelte das Telefon in ihrer Manteltasche. Sie ging zur Garderobe und fischte es hervor. Eine Schweizer Nummer stand auf dem Display. Ihr Herz klopfte schneller. Sie hatte keine Lust abzuheben. Mut oder Lust, was wusste sie schon über den Anrufer, jetzt jedenfalls war nicht der richtige Zeitpunkt dazu. Sie setzte sich wieder hin und überlegte, was geschähe, würde sie den Augenarzt anrufen und eine Verspätung ankündigen. Sie würde nicht rechtzeitig zur Besprechung ihres eigenen Befundes kommen. Die Sprechstundenhilfe würde sie natürlich mit dem Doktor verbinden.
Gabrielle schaute das Telefon überlegend an und wählte nicht die Nummer. Natürlich wäre der Arzt da, bereit, und würde sie konfrontieren. Aber womit? Mit guter oder schlechter Prognose. Die Richterin spürte den Widerwillen, doch sie war verantwortungsbewusst, besonders in ihren persönlichen Belangen. Egal. Sie würde das Gespräch ja nicht absagen, hatte nur zu viel zu tun im Augenblick und gleich eine Verhandlung zu führen. Sie würde später oder morgen wegen eines neuen Termins anrufen und dann vorbeikommen. Sie erledigte stets alles sofort, nur nicht, was ihr selbst zu Leibe rückte.
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© 2020 Haymon Verlag, Innsbruck