Roman.
Wien: Picus, 2020.
336 Seiten, geb.; 25 Euro.
ISBN: 978-3-7117-2098-6.
Autorin
Leseprobe
Wenn einem ein Buch schon auf der zweiten Seite das Herz bricht, ist beim Weiterlesen erhöhte Vorsicht angeraten. Denn dass dieses Kind, das von allen verlassen im Krankenhaus um sein Leben schreit, überhaupt heranwachsen darf, ist zu Beginn keinesfalls ausgemacht. "Sie steht nicht auf", lautet der erste Satz des neuen Romans von Gabriele Kögl  und die folgenden 330 Seiten stehen im Dienste seiner Widerlegung.
Das mit einer Geheinschränkung geborene Mädchen Anna wächst in einer armen, bäuerlichen Familie heran, deren Leben fest im Griff der katholischen und patriarchalen ländlichen Verhältnisse der Steiermark verläuft. Gefühlskälte und eine schon fast absurde Sparsamkeit bestimmen den Alltag. Beim Brot war es "ein Prinzip der Mutter, dass immer das alte zuerst gegessen werden musste. Erst wenn es weg war, gab es das frische, das dann auch schon alt war." (S. 19) Der vor allem von den Männern der Familie ständig drohenden und immer wieder ausgeübten Gewalt steht als Schutz nur fallweise die Großmutter entgegen. Ihre unerschöpfliche Zuneigung und Liebe zum von allen anderen als lästig und unbrauchbar empfundenen Mädchen ist für weite Strecken im Roman die einzige positiv geschilderte menschliche Beziehung. Doch sie ermöglicht selbst in diesen widrigen Verhältnissen das Erlebnis jenes Grundvertrauens, ohne das der spätere Widerstands- und Gerechtigkeitsgeist der Heranwachsenden kaum glaubwürdig zu schildern wäre. Dennoch ist auch diese Beziehung eine, in der das Kind zuweilen in echten Notsituationen mehr Verantwortung übernimmt, als überhaupt möglich erscheint: Für die seltsamen, lebensbedrohlichen Anfälle, die die Großmutter erleidet, fühlt sich Andrea ganz allein verantwortlich. Es erzeugt Erstaunen, "dass die Kleine solche Situationen mutterseelenalleine bewältigte" (S. 67).
Auf das wuchtige erste Drittel, in dem die Lebensrealitäten des Kindes einer ständigen existentiellen Gefährdung gleichen, folgt im zweiten Drittel die Schilderung eines Heranwachsens am Lande in nun schon etwas milderem Ton. Auch die nunmehr erkennbare zeitliche Verortung in den späten 60ern und frühen 70ern unterstützt diesen Effekt der gesteigerten Sicherheit beim Lesen. Der Alltag im katholischen, von starren Klassenhierarchien geprägten Dorf wird anschaulich beschrieben, wobei die individuelle Sichtweise des Mädchens die vorgegebenen Strukturen durchaus neu zu deuten versteht.
Die Genauigkeit der Erzählung sowie der Fokus auf eine gesellschaftliche Schicht, die doch seltener als andere in den Blick gerät, mögen vielleicht der Grund gewesen sein, warum der Verlag Kögls neues Buch in die Nähe der Werke von Didier Eribon und Annie Ernaux zu rücken sucht. Der Vergleich lässt dann aber doch die Unterschiede deutlich werden: Ja, sie teilt den scharfen Blick auf die Klassen- und Machtverhältnisse mit Didier Eribon, ohne dessen soziologisches und theoretisches Vokabular anzuwenden. Und ja, sie ist in ihrer Exaktheit der Beschreibung des alltäglichen Lebens, dessen unmerklicher, aber beständiger historischer Wandel dadurch als paradigmatisch erkennbar wird, Annie Ernaux ähnlich. Aber Kögls Erzählstimme ist viel beweglicher als die der französischen AutorInnen, ihre Perspektive lässt sich nicht auf ein einzelnes, konsequent durchgehaltenes Konzept festlegen. So hält die Erzählstimme zwar meist eine merkbare Distanz zu Andrea, ihr Verhältnis zu ihr kann jedoch durchaus wechseln: Zu Beginn scheint sie fast auf Seiten der Eltern zu sein und die Gewalt gegen das nutzlose Kind sogar gutzuheißen, dann nähert sie sich wieder empathisch Andrea an und übernimmt ihre kindliche Perspektive. Aus letzterem entspringt viel von der Komik, die Kögls Roman stellenweise zu bieten hat. Die verlässlichste Stimme im Buch ist die von Andrea selbst, wenn sie spricht, ist ihr zu trauen – und nicht der Erzählposition. Erkennen lässt sich das allerdings erst in der Rückschau.
Es dauert zwar eine Weile, bis das Kind, die Kleine, überhaupt zu einem Namen kommt, doch spätestens am Schluss besteht kein Zweifel mehr, dass sich diese Andrea auch in ihrem weiteren Leben einen solchen machen wird. Der Roman zeichnet dabei auch die Voraussetzungen für diesen Aufstieg nach, der sich nicht zuletzt dem politischen Wandel unter Bruno Kreisky verdankt. Wenn der Vater als Schulbusfahrer endlich Anerkennung erfährt, dann hat das Auswirkungen auf das ganze Familiengefüge.
Im Roman wird aber auch deutlich, was es bedeutete, als Mädchen in dieser Zeit heranzuwachsen. Die versuchten Zurichtungen, die Zwänge und Vorgaben, aber auch die Widerstände werden an Hand weiblicher Lebensrealitäten geschildert. Probleme beim BH-Kauf, die Auswirkungen der Ananas als Massenprodukt auf die regionale Küche oder die erfolgreiche Auflehnung gegen das Dirndl sind Themen, die in männlichen Biographien kaum eine Rolle spielen, bei Kögl aber ernst genommen werden. Während die Beziehungen zwischen den Geschlechtern die längste Zeit kaum über formalisierte Begegnungen oder Gewaltverhältnisse hinausgehen, sind es vor allem die Beziehungen zwischen Frauen, die Kögl in all ihrer Vielfalt herausstellt: So ist die eigene Mutter weit vom Idealtypus entfernt und zum Beispiel nur allzu bereit, ihre Tochter für die erhofften Kreditzusagen beim entsprechenden Herren allein im Auto mitfahren zu lassen. Als eine etwa Gleichaltrige an der Grippe stirbt, hört Andrea immer wieder den Satz "Wer weiß, was ihr erspart geblieben ist" von den trauernden Frauen. Die Perspektivlosigkeit des zu erwartenden Frauenschicksals lässt sich kaum deutlicher formulieren. Doch Andrea hört eben auch das "Bleib immer dein eigener Herr" ihrer Großmutter.
Im letzten Teil des Buches öffnet sich der Roman auch geographisch, war Graz zuerst nur das Ziel einer einzelnen Einkaufsfahrt voller Wunder und Aufregung, wird es dann zum Schulort, mehr noch allerdings zum Begegnungsort verschiedener sozialer Schichten. Vorurteile und Blindheiten vermag Andrea dabei durchaus zu ihrem Vorteil zu nutzen, spätestens bei der Konfrontation mit der kaum verhüllten Weiterexistenz nationalsozialistischer Denk- und Lebensformen verlässt sie allerdings ihre ironische Deckung und scheut auch den Zusammenprall nicht. Lag das "Gipskind" zu Beginn des Romans bewegungsunfähig im Krankenhaus, ist es nun am Ende des Romans zu jeder Reise bereit. Die Freude und Erleichterung, die wir deswegen empfinden, zeugt von Gabriele Kögls Kunst, uns am Weg ihrer Protagonistin Anteil nehmen zu lassen.
Holger Englerth
10. 11. 2020
Originalbeitrag.
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