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Leseprobe 1
Die Abendsonne tauchte das Moos auf der Waldlichtung in sanftes Licht, als Keija in einer fließenden Bewegung die Arme hob. Kräfte durchfluteten ihn, trafen auf die Erde und strömten in die Umgebung. Wie im Zeitraffer schlugen die Bäume aus und der Winterwald verwandelte sich in ein grünes, wogendes Meer. Für Keija existierte in diesen Augenblicken keine Zeit. ![]() Als Nerya zur Schlucht der Seelen ging, um als Mensch geboren zu werden, war Keija bei ihr. Er wollte jede Sekunde, die ihm noch blieb, mit ihr verbringen. Keija hielt ihre Hand und hoffte, sie würde es sich noch einmal anders überlegen. Aber ihr Sehnen war spürbar und machte diese Hoffnung zunichte. Ein letzter Blick und sie löste sich voller Schwermut. Verzweiflung stieg in ihm auf. Leise flossen ihre Worte in seine Gedanken. Seelen wie unsere werden sich immer wieder finden! Ihre Gestalt wurde ein letztes Mal von dem Engellicht umflutet, dann ließ sie sich in die Schlucht fallen. Sie verschwand in dem Nebel des beginnenden Lebens. Gebrochen sank Keija auf die Knie. Er fühlte sich, als hätte ihn ein Schwert durchbohrt. Engel vermochten die Umwelt ihrer Heimat nur durch Vorstellungskraft und Gefühl zu gestalten. Keija wollte nicht, dass ihn jemand so sah. Nebel wallte von den Wiesen auf. Bäume stiegen aus dem Boden empor, richteten ihre blattlosen Zweige zum Himmel und verbargen ihn. Die Umgebung reagierte auf seine Gefühle und Wind erhob sich. Kälte zog in sein Herz und er sah, wie der Boden gefror. Keija versuchte, die Kontrolle über seine Empfindungen zurückzuerlangen. Als der Wind endlich verebbte, die Kälte auf ein erträgliches Maß sank, drang eine tiefe Leere in ihn. Es fehlte der Teil, der ihn vollständig gemacht hätte. So wie den Bäumen, die kahl und leblos blieben, die Blätter. Eine lange Zeit verharrte er dort und war nicht mehr fähig, seinen Aufgaben nachzugehen. Irgendwann erklang ein Geräusch, wie von einem Windspiel. Eine Brise umwehte ihn und die Landschaft veränderte sich. Die Bäume schlugen aus und weiße Blüten bildeten sich an den Zweigen. Der Nebel wich zurück und eine schmale Gestalt erschien neben ihm. KeijaYrahel, du könntest ebenso handeln. Du bist einer meiner leitenden Engel, aber ich würde jemanden finden, der deine Aufgaben übernimmt. Keija schüttelte den Kopf. Ich will ein Engel sein! Willst du das wirklich? Ich will ich möchte nur bei Nerya sein. Keija schlang die Arme um sich. Die Vorstellung, seine Unsterblichkeit aufzugeben, um ein Mensch zu werden, ängstigte ihn. Eine halbe Ewigkeit lebte ich mit ihr zusammen, passte mich ihr an, wurde männlich für sie. Jetzt war alles umsonst! Sanfte Hände fuhren über Keijas helles Haar. Nur wenigen Engeln wird diese Form der Liebe und Hingabe für eine andere Seele zuteil. Ihr werdet dieses Gefühl nicht verlieren. Das ist nicht wahr!, begehrte Keija auf. Selbst wenn ich ebenso handle wie sie. Ich kann nicht wissen, ob ich Nerya finde oder sie erkenne, wenn ich sie gefunden habe. Vielleicht werde ich sie nicht einmal suchen, weil ich sie vergessen habe! Ja, das kann passieren. Der Bewahrer der Engel legte beruhigend seine Hand auf Keijas Schulter. Wie um sich selbst Trost zu schenken, wiegte sich Keija sachte vor und zurück. Ein Entschluss reifte in ihm und er wusste, dass dies eine Wandlung in ihm bewirkte, die der Bewahrer sehr genau wahrnahm. Ach, Keija Werdet Ihr mir verzeihen, Herr, wenn ich Euch auf diese Art verlasse? Ja bedenke aber, dass dein Weg nur von deinen Entscheidungen geprägt sein wird. Wisse, dass ein Preis gezahlt werden muss, der nicht nur dir Schaden zufügen wird. Ich weiß. Keija sah ihn an. Wird mir trotzdem eine Bitte gewährt? Der Bewahrer nickte. Ich weiß, was du von mir erflehst und ich werde es dir schenken. Du wirst NeryaSariel finden. Ich werde dafür Sorge tragen. Werde ich sie erkennen?, fragte Keija unsicher. Erinnere dich an den Satz, den sie zuletzt zu dir gesagt hat. Dadurch wirst du wissen, dass sie es ist. Dieser Satz hatte sich in Keijas Seele eingebrannt. Seelen wie unsere werden sich immer wieder finden! Der hohe Engel erhob sich langsam, strich über Keijas Wange. Leb wohl, KeijaYrahel. Bis wir uns wiedersehen. Als er davonging, begegnete Keija noch einmal seinem besorgten Blick. Wind rauschte leise durch die Bäume und die weißen Blütenblätter fielen wie Schnee auf ihn nieder. Nein, er wollte nicht als hilfloser Mensch geboren werden, wollte nicht wie andere Engel, die ihrem inneren Drang nachgaben, sein Dasein aufgeben. Keija wollte nur eines: Nerya. Er konnte nicht warten, bis sie ihren Lebenskreislauf beendet hatte und als Seele zu ihm zurückkehrte. Zwar spielte Zeit für ihn kaum eine Rolle, aber jeder Augenblick, der verging, schien ihn zu zerreißen. Wenn er sie nicht suchte, würde er an der Leere, die sie in ihm hinterlassen hatte, zerbrechen. Langsam richtete er sich auf, stellte sich nah an die Schlucht. Der Nebel, der aus ihr emporstieg, schien nach ihm greifen zu wollen. Keija wich nicht zurück, denn er musste zur Grenze der Welten, nur dort konnte er sein Vorhaben umsetzen. Er war nicht der Erste und würde nicht der Letzte sein, der diesen dunklen Weg beschritt. Was aus denen geworden war, deren Beispiel er nun folgte, wusste er nicht, wollte er nicht wissen. Doch instinktiv ahnte er, dass sie zurückgekehrt waren. Welchen Preis mochten sie gezahlt haben? Ein letztes Mal sah sich Keija um. Der Nebel breitete sich über die Ebene aus und verbarg seine Heimat vor ihm. Ein furchtbares Gefühl der Schuld ergriff ihn. Dennoch begann er vorsichtig die Felsen der Seelenschlucht hinabzusteigen. Ihm war klar, dass er nicht zur Grenze schweben konnte, er musste dies aus eigener Kraft, ohne Engelfähigkeiten, bewältigen. Die scharfkantigen Steine der Wand schnitten in seine Hände. Es schmerzte auf seltsame Weise. Je näher er dem Übergang kam, desto intensiver spürte er dies. Als er nach oben blickte, verbarg sich der Rand der Schlucht im grauweißen Dunst. Keija verlor die Orientierung, kletterte trotzdem immer weiter nach unten, bis ein waberndes Licht, das sich wie eine geschlossene Wolkendecke überallhin ausbreitete, vor ihm erschien. Noch kannst du dich fallen lassen, flüsterte die Stimme des Bewahrers. Instinktiv schaute sich Keija um. Er war allein. Absolute Stille umgab ihn. Ließe er sich jetzt fallen, würde er Neryas Pfad folgen und als Menschenkind geboren werden. Aber die Zeit, die auf der Erde bereits vergangen war, konnte man kaum einschätzen. Es wäre ihm schier unmöglich, Nerya zu finden. Zumindest empfand Keija es so und schloss diese Option für sich aus. Er brauchte eine Weile, um den Mut zu finden, weiter abzusteigen. Als sein Bein das regenbogenfarbene Licht traf, zuckte er zusammen. Es zerrte an ihm. Seine Gedanken glitten wieder zu Nerya. Ihr Bild vor Augen, setzte er einen Fuß vor den anderen und tauchte bis zur Hüfte in die Lichtschlieren ein. Er stand zwar noch auf einem felsigen Absatz, doch sein Engelkörper wurde in der anderen Welt bereits unsichtbar. Hier an diesem Ort konnte er sich selbst nicht mehr richtig erfassen. Keija hockte sich hin, überwand die Grenze, hielt sich aber mit der rechten Hand krampfhaft in der Engelwelt fest, sodass sein Arm immer noch dort verankert war. Diese Verbindung würde er brauchen, um seine Kräfte nutzen zu können. Keijas Fähigkeiten erleichterten ihm nun den weiteren Schritt. Er streckte die Linke nach unten aus und konzentrierte sich. Ohne einen stofflichen Körper wäre seine Suche nach Nerya sinnlos, sie würde ihn niemals erkennen. Also musste er sich einen erschaffen. Als die Macht durch seine Adern rauschte und von da in den Nebel der Menschen schoss, fühlte er, wie sich beide Welten kurz aufbäumten. Dann floss wie aus dem Nichts Wasser zu ihm. Erde, Staub und Holzpartikel vermischten sich mit der Flüssigkeit und Keija keuchte auf, als die Substanzen in ihn strömten und sich unter Schmerzen mit ihm verbanden. Seine Hand krallte sich in die Felsen der Engelwelt, jegliche Kontrolle schien ihm zu entgleiten. Er spürte, wie seine Gabe, die Zeiten zu beeinflussen, durcheinander geriet und ihn im Geiste hin und her warf. Aber er gab nicht auf, auch wenn er nicht einschätzen konnte, wie viel Zeit in der Menschenwelt verging. Jahre? Womöglich Jahrzehnte? Alles fügte sich zusammen und er wandelte die Erdsubstanzen so um, dass der Körper, den er sich erschuf, lebensfähig sein würde. Der Schmerz verblasste in der Trance seines Wirkens. Irgendwann spürte er, dass die Wandlung vollbracht war. Seine Hand rutschte von den Felsen, das Licht über ihm verblasste und bildete eine Barriere, die er in diesem Zustand nie mehr würde durchschreiten können. Ein Gefühl der Enge ergriff seine Brust und Keija tat einen ersten verzweifelten Atemzug. Geschockt von dem Gefühl, Luft in seinen Körper einströmen zu spüren, strauchelte er leicht, seine Hand glitt vom Fels. Rasch klammerte er sich an den nächsten Vorsprung im Gestein. Dann hörte er tief in sich leises Weinen. Bilder flackerten in seinem Geist auf, von sterbenden, wie versteinerten Bäumen, von einer vertrockneten Ebene, die weiß wie Schnee geworden war Die Stimmen der Naturhüter klagten in seiner Seele und Keija kauerte sich zusammen. Was habe ich getan?! Er schluchzte leise. Keija spürte, wie die Zeit ihm weiter entglitt, bis er diese Gabe endlich in sich löste und freigab. Diese besondere Kraft fiel hinab und für einen kurzen Augenblick blitzte etwas Gläsernes vor Keijas Auge auf. Mühsam verdrängte er den Kummer der ihm einst anvertrauten Natur und riss sich zusammen. Noch immer stand er auf dem schmalen Grat, verharrte seltsam zwischen den Zeiten. Unter ihm jedoch war nichts, nur der allumfassende Nebel, der sich nun mit klammen Fingern auf seine neue empfindsame Haut legte. Wo war der Boden? Zur Sicherheit würde er wohl durch den Nebel schweben müssen, denn die Felswand hörte unter ihm einfach auf. Sein Engellicht schoss wie Flügel aus seinem Rücken, verwandelte sich in Schwingen. Keija konzentrierte sich auf Nerya und ließ sich fallen. Doch die Lichtflügel waren völlig unbrauchbar geworden. Die Erde raste auf ihn zu! Als Keija das begriff, packte ihn pure Panik. Er stürzte unaufhaltsam durch die Luft, eine weiße Ebene tauchte vor ihm auf, viel zu schnell! Es gab kein Entrinnen, kein Aufhalten! Der Aufprall schließlich raubte ihm den Atem und das Einzige, was blieb, war Schmerz. Weitere Leseproben
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