|
Leseprobe 2 aus FARBLOS
Mit einem zufriedenen Seufzen stieg William ins Auto. Den Vertrag, den Nilsson tatsächlich unterschrieben hatte, legte er mit einem Lächeln auf den Beifahrersitz.
Dieser Schritt wäre also getan. Nun würde er abwarten, was sich entwickelte. Denn irgendetwas war im Gange. Er spürte es!
Auf der Rückfahrt zur Station hing er seinen Gedanken nach. Eigentlich sollte er nach Hause fahren, aber die Hochebene schien ihn zu rufen und er gab diesem Drang nur zu gerne nach.
Als er nach einer Weile in höhere Bereiche kam und um eine Biegung fuhr, die ihm freie Sicht auf den Abendhimmel gewährte, hielt er an und stieg aus.
Eine Böe wirbelte Staub und Blätter auf. Er atmete die Kälte ein, sog sie in sich auf und genoss die Frische. Jedes Mal aufs Neue fasziniert, starrte William auf die Lichter am Himmel, die in diesem Gebiet stets zu sehen waren. Wie Polarlichter breiteten sie sich aus, waberten in der Luft. Trotzdem wirkten sie völlig anders. Als läge hinter diesem bunten Teppich aus Licht eine andere Welt. Die Ränder faserten auseinander, als wäre nur ein Teil von diesem Wunder zu sehen. Denn feststand, dass es eben keine Polarlichter waren. Sie blieben stets über dieser Ebene, auch wenn keine chemischen Prozesse in der Erdatmosphäre gemessen werden konnten.
Trotzdem hatte die Regierung schon ein paar Mal überlegt, die Gelder zu streichen. Man wollte die Station sogar schließen, erachtete sie nicht mehr für wichtig, fand sich mit den Phänomenen ab, die seit einigen Jahren nicht mehr so gravierend und erschreckend waren, wie zu Anfang. Die Natur schien sich beruhigt zu haben. Wozu öffentliche Gelder für etwas verschwenden, was zwar unerklärlich war, aber offensichtlich auch ungefährlich?
William schnaubte, doch dann stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Bis die gläsernen Steine vor einigen Wochen auftauchten. Sie versetzten die Regierung wieder in Aufruhr, die Station war finanziell seitdem bis auf Weiteres gesichert.
Gläserne Steine ohne Substanz! Williams Puls beschleunigte sich, wenn er nur daran dachte! Er hatte eine ganz eigene Theorie, auch wenn er sie noch weitestgehend für sich behielt. In ihnen schien die Zeit gefangen zu sein. Ein unvorstellbarer Gedanke, doch etwas anderes fiel selbst ihm nicht ein.
Dieses Gestein war durchlässig und versenkte man zum Beispiel eine Blume darin, verwelkte sie auf unerklärliche Weise wie im Zeitraffer. Glücklicherweise gab es nur kleine Bereiche davon, die man abgesperrt hatte. Eine Erklärung gab es nicht. Eines jedoch wusste William. Das Warten hatte sich gelohnt. Die jahrelange Arbeit würde sich endlich bezahlt machen, denn etwas geschah! Nie war er sich einer Sache sicherer gewesen.
Für die Station hatte er seine Familie vernachlässigt, viele Jahre schon. Die Schwangerschaft seiner Tochter ignorierte er regelrecht, verdrängte alle Empfindungen dazu. Er wurde Großvater und es berührte ihn nicht einmal. Die Forschung war in all den Jahren zu seinem Lebensinhalt geworden. Dass seine Ehe an einem seidenen Faden hing, war offensichtlich der Preis, den er zahlen musste.
Als er, eher durch Zufall, Elias Nilssons Akte in die Hände bekam, verdichtete sich auf unerklärliche Weise das Gefühl, das etwas geschehen würde.
Damals hatte ein Ärztekongress in einem der großen Hotels von Östersund stattgefunden und in einem der Nebenräume besuchte er eine Zusammenkunft mit einigen hochrangigen Wissenschaftlern. Später mischten sich die Besucher und William lernte einen Oberarzt kennen, mit dem Dr. Nilsson zusammengearbeitet hatte. Der flüchtig ausgesprochene Name des jungen Mannes versetzte William in Aufregung − er konnte nicht sagen, was dieses Gefühl ausgelöst hatte, aber er forschte nach diesem Arzt, der so außergewöhnliche Referenzen besaß, in mehreren Gebieten, und trotzdem so unglücklich zu sein schien. Natürlich war Nilsson kein Physiker und noch weniger ein Geologe, aber schon in der Ausbildung schien er gewisse Dinge durchschaut zu haben, die jeden anderen Assistenzarzt in die Verzweiflung getrieben hätten. Wer wusste schon, was der junge Mann herausfinden oder bewirken könnte? Außerdem war es an der Zeit, sich medizinisch abzusichern. Seit die Glassteine aufgetaucht waren, konnte man nie wissen, ob sich nicht doch einer der Mitarbeiter mal ernstlich verletzen würde. Bisher waren sie ohne Arzt zurechtgekommen, aber nun? So rechtfertigte er auch vor der Regierung den Nutzen von Dr. Nilsson. Widerwillig stockten sie die Mittel ein weiteres Mal auf und ließen ihn gewähren.
William starrte auf die sich im Wind wiegenden Fjällbäume, die nur als Schattenumrisse im Zwielicht zu erkennen waren. Plötzlich verdunkelte sich die Ebene. Überrascht sah er auf.
Die Lichter waren fort!
Entgeistert starrte William in den Himmel, an dem nun erste Sterne blitzten. Sein Herzschlag geriet kurz aus dem Takt, er griff sich an die Brust, konnte zuerst nicht fassen, was er dort sah. Das Phänomen war verschwunden! Einfach so. Als hätte jemand das Licht ausgeknipst.
Die Grenze ist durchschritten, hörte er tief in sich und ein Schauder überfiel ihn.
Was für eine Grenze?, murmelte er.
Eine Antwort blieb aus.
Wieder stieg diese Ahnung in William auf, dass etwas geschehen würde! Wie ein Feuer ergriff das Gefühl seine Sinne und belebte ihn für den Moment.
Entschlossen stieg er ins Auto und raste zurück zur Station.
Fünf Wochen später fuhr Elias eine lange gewundene Straße durch das Skandengebirge. Seine Habseligkeiten befanden sich bereits in der neuen Wohnung in Östersund und warteten in Kartons darauf, dass er sie auspackte.
Sein erster Arbeitstag begann um 9 Uhr und er kam bereits jetzt zu spät. Die Fahrtzeit war schwer einzuschätzen gewesen und er hoffte, dass Grant ihm nicht sofort eine Standpauke halten würde.
Elias hielt kurz und studierte die Landkarte. Was war das nur für ein verzwickter Weg?
Schließlich kam er an eine Kreuzung. Rechts führte ein Weg in einen Tannenwald, links versperrte etwas weiter hinten eine Schranke die Straße. Er konnte eine Pforte erkennen. Langsam bog er ab und kramte nach dem Ausweis, den er zugeschickt bekommen hatte.
Unsicher sah er sich um. Das Gebiet war weiträumig abgesperrt. Was verbarg sich hier?
Elias hielt vor der Schranke und gab dem Pförtner den Ausweis. Dieser prüfte ihn sorgsam, reichte ihn zurück und winkte ihn durch. Langsam fuhr er weiter und folgte dem schmalen Weg. Dann bremste er abrupt.
Was war das?!
Die Ebene, die vor ihm lag, schien völlig farblos zu sein! Selbst die Stämme der kleinen Fjällbäume zeigten ausschließlich eine weiße Färbung. Ihre kahlen Äste hingen windschief über den Felsen.
Für den Augenblick vergaß Elias die Pünktlichkeit, stellte das Auto an den Straßenrand und lief über das Plateau.
In einiger Entfernung sah er die mittelgroße Station zwischen unnatürlich hellen Felsen. Sie schmiegte sich fast unsichtbar in die Landschaft ein.
Er war zwar kein Geologe, aber hier stimmte doch etwas nicht. In einigen Stellen am Boden gab das Gestein so nach, als würde ihm die Festigkeit fehlen. Als er darüberlief, versank er wie in dichtem Moos. Andere Felsen wirkten wie aus Glas und das Areal um sie war abgesperrt. Vorsichtig beugte er sich hinunter und streckte die Hand unter die Absperrung.
Lassen Sie das lieber sein!
Grants Stimme hallte seltsam über die Ebene und Elias zog die Hand rasch zurück.
Mit den Gläsernen muss man verdammt vorsichtig sein. Der Rest ist aber harmlos.
Was ist das hier?!, flüsterte Elias erstaunt.
Sein Forscherdrang erwachte. Elias kniete sich hin, ließ Steinstaub durch seine Finger rieseln.
Willkommen in Färglös, Dr. Nilsson. Ich habe mir gedacht, dass ich Sie hier draußen finden würde.
Elias wunderte sich nicht über Grants Erscheinen, richtete sich auf und gab ihm pflichtschuldig die Hand. Guten Morgen.
Und? Haben Sie keine Fragen?
Elias sog zischend den Atem ein. Hunderte!
Dr. Grant gab ein seltsames Lachen von sich. Glauben Sie, die haben wir auch.
Das ist nicht erforscht? Aber Sie haben gesagt
William Grant unterbrach ihn. Wir forschen zwar seit Jahren, aber eine endgültige Antwort haben wir noch nicht gefunden.
Sie wissen nicht
? Aber das ist unglaublich! Man muss doch herausfinden können
Glauben Sie mir, Elias. Das ist weitaus schwerer, als es den Anschein hat. Was denken Sie denn?
Elias gefiel es nicht besonders, dass er ihn so vertraut beim Vornamen nannte. Der Mann strahlte etwas aus, das in ihm Unbehagen auslöste.
Mir kommt es so vor, als ob der Umgebung
hm
die Substanz entzogen worden wäre.
Grant lächelte zufrieden. Ich hatte gehofft, dass Sie das recht schnell erkennen würden. Aber dies wird nicht Ihre Aufgabe sein. Sie wissen ja, die Zipperlein der Forscher fallen eher in Ihr Gebiet.
Elias seufzte innerlich.
Allerdings, fuhr William Grant fort, habe ich nichts dagegen, wenn Sie sich im Forscherteam mit Ihren Gedanken ein wenig einbringen. Sofern es Ihre Zeit zulässt.
Jetzt verstehe ich auch diesen Mafiavertrag.
Grant zuckte mit den Schultern. Sie werden für Ihr Schweigen gut bezahlt.
Allerdings. Das wurde er.
Beim Näherkommen stellte er fest, dass die Station selber eher veraltet war. Grant führte ihn durch die kahlen Forschungsräume, stellte ihm einige Mitarbeiter vor und brachte ihn in seinen eigenen Bereich.
Sie werden sich wahrscheinlich etwas einrichten wollen. Sehen Sie sich in Ruhe um. Heute wird sicher kein Notfall zu Ihnen hereinplatzen.
Danke.
Ach, Elias? Oder möchten Sie lieber mit Dr. Nilsson angeredet werden? Der Professor musste an seinem Gesichtsausdruck erkannt haben, dass er Letzeres für angebrachter hielt. Wenn Sie nicht jeden Abend den weiten Weg nach Östersund fahren wollen
hier gibt es geräumige Wohnbereiche, die genutzt werden können. Fredrik Ingarsen wird Ihnen bei etwaigen Fragen weiterhelfen.
Mit diesen Worten verschwand Dr. Grant und Elias war allein.
Willkommen in Färglös, hatte der Professor gesagt. Färglös bedeutete Farblos. Wie passend, dachte Elias nüchtern.
Weitere Leseproben
[Zurück zum Buch]
|
|