Thomas Bernhard: Der Untergeher (Roman) |
Kritik: "Der Untergeher" besteht aus einem scheinbar ungegliederten inneren Monolog. Wie in einem Musikstück werden die Themen in längeren und einzelne Wörter in kürzeren Zyklen wiederholt und variiert. "Der Untergeher" ist eine virtuos erzählte Geschichte über Virtuosität. ![]() |
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Thomas Bernhard: |
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Inhalt: Während Glenn Gould seine Persönlichkeit auslöscht und sich zur perfekten "Kunstmaschine" macht, zerbrechen seine beiden fiktiven Studienfreunde an der Begegnung mit dem Genie. Statt ihren Traum von einer Karriere als Klaviervirtuose zu verwirklichen, versucht jeder der beiden vergeblich, ein Buch zu schreiben. ![]() |
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Thomas Bernhard: Der Untergeher |
Inhaltsangabe:
Der namenlose Erzähler betritt das schäbige Gasthaus "Dichtelmühle" in Wankham bei Attnang-Puchheim an der Bahnstrecke von Salzburg nach Linz (Seite 7), steht in der Gaststube (Seite 22), schaut sich nach der Wirtin um (Seite 26), stellt seine Reisetasche auf den Boden (Seite 39) und geht ein paar Schritte auf das Fenster zur Küche zu, aber das ist so verschmutzt, dass er nicht hindurchsehen kann, in das "österreichische Küchenschmutzchaos" (Seite 49f). Endlich kommt die Wirtin herein (Seite 106) und begrüßt ihn. Ein Gericht hatte ihr das Wirtshaus übereignet, als der Besitzer, ein Onkel von ihr, in einem Indizienprozess wegen Mordes zu zwanzig Jahren Kerker verurteilt worden war. Drei Jahre lang war sie mit einem Arbeiter verheiratet gewesen – bis er vor neun Jahren in einer Papiermühle zermalmt wurde. Der Erzähler nimmt ein Zimmer und geht dann zum Jagdhaus nach Traich hinüber (Seite 134). Der Steinway, dachte ich im Gasthaus stehend und mich umsehend, war gegen die Meinigen gerichtet. Ich bin auf das Mozarteum gegangen, um mich an ihnen zu rächen, aus keinem anderen Grund, um sie für die Verbrechen zu bestrafen, die sie an mir verbrochen hatten. Nun hatten sie einen Künstler als Sohn, eine von ihnen aus gesehen verabscheuungswürdige Figur. Und ich missbrauchte das Mozarteum gegen sie, setzte alle seine Mittel ein gegen sie. Wenn ich ihre Ziegeleien übernommen und das ganze Leben auf ihrem alten Ehrbar gespielt hätte, wären sie zufrieden gewesen, so hatte ich mich von ihnen abgetrennt durch den im Musikzimmer aufgestellten Steinway, der ein Vermögen gekostet und tatsächlich aus Paris in unser Haus transportiert werden hatte müssen [...] Der Steinway war mein Bollwerk gegen sie, gegen ihre Welt, gegen den Familien- und gegen den Weltstumpfsinn. (Seite 22) Mit Abscheu erinnert er sich an seine Lehrer am Mozarteum und an der Wiener Akademie.
Was für miserable Lehrer haben wir zu erdulden gehabt, haben sich an unseren Köpfen vergriffen. Kunstaustreiber waren sie alle, Kunstvernichter, Geisttöter, Studentenmörder. (Seite 20)
1953, vor achtundzwanzig Jahren, lernte er auf dem Mönchsberg in Salzburg Glenn Gould kennen. Ein paar Tage später stieß auch Wertheimer dazu, der ebenfalls den Kurs des berühmten Pianisten Wladimir Horowitz (1904 - 1989) am Mozarteum besuchte. Weil sie die Altstadt von Salzburg unausstehlich fanden, mieteten sie sich für die zweieinhalb Monate, die der Kurs dauerte, zu dritt ein Haus in Leopoldskron. Zwei Jahre später, als Glenn Gould bei den Salzburger Festspielen die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach spielte, kam Wertheimer eigens aus Wien. Nach dem Konzert trafen sie sich alle drei in der Gaststätte "Ganshof" in Maxglan. Glenn war das Genie, Wertheimer war nichts als Ehrgeiz, dachte ich. (Seite 100)
Wertheimer verkaufte seinen Flügel und wandte sich den Geisteswissenschaften zu. Der Erzähler schenkte seinen Steinway einem tumben Lehrer in Neukirchen bei Altmünster für dessen neunjährige, völlig unbegabte Tochter, die den wertvollen Flügel denn auch innerhalb von kurzer Zeit ruinierte. Er zog sich in das inzwischen geerbte Haus seines Onkels in Desselbrunn zurück, bekam aber dort irgendwann das Gefühl, in eine Sackgasse geraten zu sein. Er [Glenn Gould] verabscheute Menschen, die nicht zu Ende Gedachtes redeten, also verabscheute er beinahe die ganze Menschheit. Und vor dieser verabscheuten Menschheit hat er sich schließlich schon vor über zwanzig Jahren zurückgezogen. Er war der einzige weltbedeutende Klaviervirtuose, der sein Publikum verabscheute und sich auch von diesem verabscheuten Publlikum tatsächlich und endgültig zurückgezogen hat. Er brauchte es nicht. Er kaufte sich das Haus im Wald und richtete sich in diesem Haus ein und perfektionierte sich. (Seite 25) Der Erzähler erinnert sich, dass Glenn Gould unglaublich kräftig war. Einmal, als er sich von einer Esche vor seinem Fenster beim Klavierspielen gestört fühlte, fällte er sie kurzerhand und zersägte den mehr als einen halben Meter dicken Stamm in Holzstücke, die er an der Hauswand aufschlichtete. Dann erst fiel ihm ein, dass er nur die Vorhänge hätte zuziehen und die Rollläden herunterlassen müssen, um die Störung zu beseitigen. (Seite 75) Selten ging Glenn Gould vor vier Uhr morgens ins Bett, und auch dann tat er es "nicht um zu schlafen, sondern um die Erschöpfung ausklingen zu lassen" (Seite 42). Glenn Gould erlag 1982 im Alter von einundfünfzig Jahren einem Schlaganfall, während er gerade wieder die Goldberg-Variationen spielte. Wie Wertheimer und der Erzähler hatte Glenn Gould übrigens an Tuberkulose gelitten. Aber Glenn ist nicht an dieser Lungenkrankheit zugrunde gegangen, dachte ich. Die Ausweglosigkeit hat ihn umgebracht, in welche er sich in beinahe vierzig Jahren hineingespielt hat, dachte ich. Er hat das Klavierspiel nicht aufgegeben, dachte ich, naturgemäß, während Wertheimer und ich das Klavierspiel aufgegeben haben, weil wir es nicht zu dieser Ungeheuerlichkeit gemacht haben wie Glenn, der aus dieser Ungeheuerlichkeit nicht mehr herausgekommen ist, der auch gar nicht den Willen dazu gehabt hat, aus dieser Ungeheuerlichkeit herauszukommen. (Seite 9) Glenn Gould habe sich zur "Kunstmaschine" (Seite 86) gemacht, denkt der Erzähler. Im Grunde wollen wir Klavier sein, sagte er [Glenn Gould], nicht Menschen sein, sondern Klavier sein, zeitlebens wollen wir Klavier und nicht Mensch sein, entfiehen dem Menschen, der wir sind, um ganz Klavier zu werden, was aber misslingen muss, woran wir aber nicht glauben wollen, so er. (Seite 77) Wertheimer, für den Glenn Gould den Spitznamen "Untergeher" (Seite 19) geprägt hatte, wollte ein Buch veröffentlichen. Dazu kam es jedoch nicht, weil er das Manuskript so oft änderte und darin herumstrich, bis am Ende nur noch der Titel übrig blieb: "Der Untergeher".
Wertheimer war unselbstständig, dachte ich. In vielem feinfühliger als ich, aber, das war sein größter Fehler, letzten Endes nur mit falschen Gefühlen ausgestattet, tatsächlich ein Untergeher, dachte ich. (Seite 96f) Seit Wertheimers Eltern mit ihrem Auto bei Brixen in eine Schlucht gestürzt waren, hatte er nur noch seine Schwester. Mit ihr wohnte er zwei Jahrzehnte lang am Kohlmarkt in Wien, bis sie mit sechsundvierzig einen Schweizer Chemiekonzernbesitzer namens Duttweiler heiratete und zu ihm nach Zizers bei Chur zog. An dem Tag, an welchem ihn seine Schwester verlassen hat, schwor er ihr ewigen Hass und hat alle Vorhänge der Kohlmarktwohnung zugezogen, um sie nie wieder zu öffnen. Immerhin hat er sein Vorhaben vierzehn Tage durchhalten können, am vierzehnten Tag öffnete er die Vorhänge der Kohlmarktwohnung wieder und stürzte wie wahnsinnig auf die Straße, ausgehungert nach Essen und Menschen. Der Untergeher ist aber schon auf dem Graben zusammengebrochen, wie ich weiß. Nur dem Glück, dass ein ihm Verwandter gerade vorbeiging, hatte er es zu verdanken, dass er gleich wieder in seine Wohnung zurückgebracht worden ist, dachte ich, sonst hätten sie ihn wahrscheinlich in die Irrenanstalt am Steinhof eingeliefert, denn sein Aussehen war das eines Irrsinnigen. (Seite 30)
Der Erzähler, der nach der Aufgabe seines Traums von einer Klaviervirtuosenkarriere "Weltanschauungskünstler" (Seite 49) geworden war und vor neun Jahren damit begonnen hatte, ein Buch über Glenn Gould zu schreiben, hielt es schließlich in seinem Haus in Desselbrunn nicht mehr aus, weil es zum Symbol seiner Selbstaufgabe geworden war. Inzwischen lebt er in Madrid. |
Buchbesprechung:
"Der Untergeher" ist ein Künstlerroman über drei ehrgeizige und hoch begabte Musiker. Während Glenn Gould seine Persönlichkeit auslöscht und sich zur perfekten "Kunstmaschine" macht, zerbrechen seine beiden Studienfreunde – Wertheimer und der namenlose Erzähler – an der Begegnung mit dem Genie.
[...] Glenn Gould war es gelungen, zum Inbegriff des "modernen Interpreten", ja für manche sogar zum "Pianisten des 20. Jahrhunderts" schlechthin zu werden [...] |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 |
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