Patrick Modiano: Dora Bruder (Roman) |
Patrick Modiano: Dora Bruder |
Inhaltsangabe:Im Dezember 1988 stößt der Autor in der Ausgabe der Zeitung "Paris Soir" vom 31. Dezember 1941 auf folgende Suchanzeige: Paris. Gesucht wird ein junges Mädchen. Dora Bruder, 15 Jahre, 1,55 m, ovales Gesicht, graubraune Augen, sportlicher grauer Mantel, weinroter Pullover, dunkelblauer Rock und Hut, braune sportliche Schuhe. Hinweise erbeten an Monsieur und Madame Bruder, 41 Boulevard Ornano, Paris. Das Schicksal dieses Mädchens lässt ihn nicht mehr los. Er versucht, so viel wie möglich über Dora Bruder herauszufinden, aber die Recherche ist mühsam. Ich habe vier Jahre gebraucht, um ihr genaues Geburtsdatum ausfindig zu machen: der 25. Februar 1926. Und zwei weitere Jahre waren notwendig, um den Ort dieser Geburt zu erfahren: Paris, zwölftes Arrondissement. Im Februar 1996 fragt er im Standesamt des Rathauses im zwölften Arrondissement nach Dora Bruders Geburtsurkunde. Weil er jedoch nicht mit ihr verwandt ist, benötigt er eine Sondergenehmigung, und schließlich rät man ihm, sich an den Procureur de la République zu wenden. Von dort erhält er folgende Mitteilung: Am fünfundzwanzigsten Februar eintausendneunhundertsechsundzwanzig, um einundzwanzig Uhr zehn, wurde in der Rue Santerre Nr. 15 Dora, weiblichen Geschlechts, geboren. Eltern: Ernest Bruder, geboren in Wien (Österreich), am einundzwanzigsten Mai eintausendachthundertneunundneunzig, Hilfsarbeiter, und seine Ehefrau Cécile Burdej, geboren in Budapest (Ungarn), am siebzehnten April eintausendneunhundertsieben, ohne Beruf, beide wohnhaft in Sevran (Seine-et-Oise), Avenue Liégeard Nr. 2. Ausgefertigt am siebenundzwanzigsten Februar eintausendneunhundertsechsundzwanzig, um fünfzehn Uhr dreißig, gemäß der Erklärung von Gaspard Meyer, dreiundsiebzig Jahre, beschäftigt und wohnhaft in der Rue de Picpus Nr. 76, welcher bei der Geburt zugegen war und nach der Verlesung in unserem Beisein unterzeichnet hat, Auguste Guillaume Rosi, stellvertretender Bürgermeister. Weitere Nachforschungen ergeben, dass sich Ernest Bruder zur französischen Fremdenlegion gemeldet hatte. Allerdings findet der Ich-Erzähler nicht heraus, wann das gewesen war. Im Alter von 25 Jahren lebte Ernest Bruder jedenfalls in Paris. Wahrscheinlich hatte man ihn wegen seiner Verletzung von seiner Verpflichtung in der Fremdenlegion befreit.
Vermutlich bekam er weder eine Invalidenrente noch die französische Staatsbürgerschaft. 1924 heiratete er die 17-jährige Cécile Burdej, die im Jahr zuvor mit ihren Eltern, vier Schwestern und einem Bruder aus Budapest nach Paris gekommen war. Ihre ebenfalls jüdische Familie stammte aus Russland. Drei der Töchter waren wenige Wochen nach der Ankunft in Paris an Typhus gestorben, vierzehn, zwölf beziehungsweise zehn Jahre alt. Der Autor macht eine Nichte von Ernest und Cécile Bruder ausfindig, aber deren Kindheitserinnerungen sind nicht besonders aufschlussreich. Er meint, dass Ernest Bruder im Winter 1925/26 – also zur Zeit der Geburt seiner Tochter Dora – Hilfsarbeiter in der Bremsenfabrik Westinghouse gewesen sein könnte. Man hatte es in den dreißiger Jahren wiederaufgebaut und ihm dabei das Aussehen eines Ozeandampfers verpasst. Im Mai 1996 bin ich wieder in diese Gegend gekommen. Das Kino ist einem Geschäft gewichen.
Am 9. Mai 1940 wurde die inzwischen 14-jährige Dora Bruder in einer Klosterschule in der Rue de Picpus angemeldet, und zwar in dem von Schwestern der Christlichen Schulen der Barmherzigkeit geleiteten Hilfswerk des Saint-Cœur-de-Marie. Die Oberin hieß damals Marie-Jean-Baptiste (1903 – 1985). 27. Dezember 1941. Bruder Dora, geboren am 25/2/26 in Paris, 12., wohnhaft 41 Boulevard Ornano. Anhörung Bruder Ernest, 42 Jahre, Vater. Am 19. März 1942 wurde Ernest Bruder ins Lager Drancy gebracht. In den Unterlagen heißt es:
Bruder Ernest Unter dem Datum des 17. April 1942 steht in der Kladde des Polizeireviers von Clignancourt: 17. April 1942. 2098 15/24. Minderj.-Sch. Fall Bruder Dora, 16 Jahre, abgängig lt. Protokoll 1917, ist in die mütterliche Wohnung zurückgekehrt. Wo sich das Mädchen in der Zwischenzeit versteckte, lässt sich nicht mehr feststellen. Es gibt keine Spur von ihr zwischen dem 14. Dezember 1941, dem Tag ihrer Flucht, und dem 17. April 1942, als sie der Kladde zufolge in die mütterliche Wohnung zurückkehrt, das heißt ins Hotelzimmer am Boulevard Ornano Nr. 41. Es ist nicht bekannt, wo Dora Bruder während dieser vier Monate gewesen ist, was sie getan hat, mit wem sie beisammen war. Offenbar lief Dora Bruder nach kurzer Zeit erneut fort, den ein Freund des Autors entdeckt in den Archiven des Yivo Institute in New York zwischen all den anderen Papieren der ehemaligen Union générale des israélites de France, einer während der Besatzungszeit geschaffenen Organisation, das folgende Dokument:
3 L/SBL/ Um wen es sich bei Mademoiselle Salomon handelte, findet der Autor nicht heraus.
Ich frage mich, was mit Dora zwischen dem 15. Juni, als sie sich auf dem Revier von Clignancourt befindet, und dem 17. Juni, dem Tag der "Mitteilung an Mademoiselle Salomon", geschehen ist. Am 19. Juni 1942 wurde Dora Bruder mit einem Gefangenenwagen in das Lager Les Tourelles in Paris gebracht. Ihr Name steht im Register:
Eingänge 19. Juni 1942
Am 13. August brachte man Dora Bruder mit rund 300 anderen Jüdinnen in Bussen von Les Tourelles in das Sammel- und Durchgangslager in Drancy, 20 Kilometer nordöstlich von Paris, wo sich ihr Vater Ernest bereits seit März befand und ihre Mutter Cécile vom 16. bis 23. Juli 1942 eingesperrt war. |
Buchbesprechung:
Ein in der Ich-Form erzählender Autor – der in diesem Fall wohl deckungsgleich mit Patrick Modiano selbst ist – trägt zusammen, was er in mühsamen Recherchen über Dora Bruder herausgefunden hat, ein jüdisches Mädchen, das im September 1942 von Paris nach Auschwitz deportiert wurde und den Holocaust ebensowenig überlebte wie der Vater Ernest Bruder und die Mutter Cécile Bruder. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Patrick Modiano (Kurzbiografie / Bibliografie) |