Patrick Modiano: Die Kleine Bijou (Roman) |
Patrick Modiano: Die Kleine Bijou |
Inhaltsangabe:
Im Vorabendgedränge an der Pariser Metrostation Châtelet fällt der 19-jährigen Thérèse eine Frau in einem abgetragenen gelben Mantel auf, die sie an ihre Mutter erinnert. Bei näherem Hinsehen verstärkt sich ihr Eindruck, dass es sich tatsächlich um ihre Mutter handelt, die Frau, die sie vor zwölf Jahren zurückließ, sich nach Marokko absetzte und dort angeblich später starb. Thérèse folgt ihr in die Metro Richtung Château de Vincennes, steigt dann mit ihr in Bérault aus, beobachtet, wie die Frau in einer Telefonzelle ein Gespräch führt und setzt sich anschließend ebenso wie sie in ein Café. Es ist längst dunkel, als sie auf die Straße zurückkommen. Die Frau kauft noch Konserven in einem Lebensmittelladen und betritt dann eine Mietskaserne mit mehreren Eingängen. Nachdem Thérèse herausgefunden hat, wo sie wohnt, kehrt sie um und fährt mit der Metro in der Gegenrichtung nach Hause. Sie hatte es nicht geschafft, Ballerina zu werden, und jetzt, unter einem anderen Namen, spielte sie in einem Film, in den sie mich einbezog wie ein dressiertes Hündchen. Und in diesen Film eingekauft worden war sie, so wurde [...] geredet, von dem Mann, von dem niemand wusste, wie er hieß.
Zwei Jahre zuvor hatte sie ihre damals fünfjährige Tochter in ein Pensionat gebracht. Als das Kind einmal vergeblich darauf wartete, abgeholt zu werden, rannte es allein los und wurde beim Überqueren einer Straße von einem
Man hatte mir gesagt: "Es ist das Porträt deiner Mutter." Ein Mensch mit Namen Tola Soungouroff hatte es gemalt, in Paris.
Warum die Mutter Frankreich verließ, weiß Thérèse bis heute nicht. Sie erinnert sich nur, im Alter von etwa 13 Jahren eine Bemerkung der Erwachsenen aufgeschnappt zu haben: "Zum Glück hat Sonia Paris rechtzeitig verlassen." Aber sie wagte nicht, Frédérique um eine Erläuterung zu bitten. Wir näherten uns dem Wohnblock, und wie beim ersten Mal hatte ich nicht die Kraft, sie anzureden.
Statt die Frau anzusprechen, wendet sich Thérèse an die Concierge, die aufgrund der Beschreibung meint, es müsse sich um Madame Boré handeln, Stiege A, Etage 4. Boré – so ähnlich hieß damals ein Mann, der die kleine Bijou ein, zwei Jahre lang jeden Donnerstag mit in seine Autowerkstatt nahm und angeblich der Bruder ihrer Mutter war. Inzwischen denkt Thérèse, dass Jean Bori ihr Vater gewesen sein könnte. "Kein Vorname. Nennen Sie mich Badmaev. Oder, wenn es Ihnen lieber ist, Moreau."
Der Name Badmaev stamme von seinem russischen Vater, den er kaum gekannt habe, erklärt er. Moreau-Badmaev beherrscht eine ganze Reihe von Fremdsprachen und wird von einer Thérèse unbekannten Organisation dafür bezahlt, Radiosendungen in fremden Sprachen zu übersetzen und Zusammenfassungen zu schreiben. Er leiht Thérèse ein Buch mit dem Titel "An den Grenzen des Lebens". Noch bei niemandem waren mir eine solche Sanftmut und zugleich eine solche Festigkeit begegnet. Die Apothekerin wundert sich, dass Thérèse keine Vorhänge hat. Ich habe ihr versichert, ich bräuchte keine Vorhänge. Das einzige, was fehlte, war ein Fauteuil, oder wenigstens ein Stuhl. Doch bis jetzt hatte ja niemand mich besucht.
Auf eine entsprechende Frage der Apothekerin lügt Thérèse, sie studiere am Institut für orientalische Sprachen und übersetze zusammen mit einem Freund ausländische Radiosendungen. Als sie die Apothekerin bittet, über Nacht zu bleiben, damit sie nicht allein bleiben muss, erfüllt ihr diese den Wunsch.
"Ja, wir müssen gehen …" Auf dem Heimweg erinnert sich Thérèse an den schwarzen Pudel, den sie als Kind hatte. Meine Mutter kümmerte sich nie um ihn, und im übrigen, so denke ich heute, wäre sie unfähig gewesen, sich um einen Hund zu kümmern, so wenig wie um ein Kind. Diesen Hund hatte ihr sicher jemand geschenkt. Für sie war er ein bloßes Accessoire, dessen sie wohl sehr rasch müde wurde. Die Mutter schrieb die kleine Bijou dann in der Ballettschule ein, und das Kind war jeden Tag von morgens bis abends dort, ohne den Hund mitnehmen zu können. Eines Abends suchte sie vergeblich nach dem Tier, und die Mutter erklärte ihr daraufhin, sie habe den Hund im Bois de Boulogne verloren. Thérèse erinnert sich noch an Fetzen eines Traumes, den sie danach hatte: LA BOCHE MUSSTE GETÖTET WERDEN AUS RACHE FÜR DEN HUND Während sich die Apothekerin zwei Tage lang in Bar-sur-Aube aufhält, sucht Thérèse Zuflucht bei Moreau-Badmaev. Der hört ihr zu und ahnt offenbar auch, was sie seit der Begegnung mit der Frau in der Metro aufwühlt.
"Eins verstehe ich nicht. Warum ist Ihre Mutter nach Marokko verschwunden und hat Sie allein gelassen?"
Weil Thérèse zu verzweifelt ist, um auf das Kind aufpassen zu können, meldet sie sich mit einem Rohrpostbrief bei der Familie Valadier krank. Lange war ich eingeschlossen gewesen in Eis, und jetzt schmolz es und floss weg. [...] Später wurde mir erklärt, es habe keinen Platz mehr gegeben, und so sei ich in den Saal der Frühgeburten gelegt worden. Noch lange habe ich das Brausen der Wasserfälle gehört, als ein Zeichen, dass auch für mich, von diesem Tag an, das Leben begann. |
Buchbesprechung:
Als die 19-jährige Thérèse in der Pariser Metro eine Frau sieht, die ihre Mutter sein könnte, wühlen traumatische Erinnerungen sie auf. Sie war sieben Jahre alt und wurde statt mit ihrem Namen "kleine Bijou" gerufen, als ihre Mutter sie einer Freundin in Frankreich überließ und sich nach Marokko absetzte. Angeblich starb sie dort. Für Thérèse ist es ein Rätsel, warum ihre Mutter sie ihm Stich ließ. Hatte sie sich in der Besatzungszeit mit Deutschen eingelassen? Wer ihr Vater war, weiß Thérèse ebenso wenig. Sie hat nur eine abgebrochene Schulausbildung, schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und wohnt in einem kleinen Zimmer. Ohnehin verunsichert, verwirrt und orientierungslos, gerät Thérèse durch die Begegnung mit der Frau in der Metro in eine Krise. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Patrick Modiano (Kurzbiografie / Bibliografie) |