Patrick Modiano: Der Horizont (Roman) |
Patrick Modiano: Der Horizont |
Inhaltsangabe:Als der Schriftsteller Jean Bosmans auf zwei grüne Clairefontaine-Hefte stößt und darin blättert, dauert es eine Weile, bis er die Handschrift erkennt: Es ist seine eigene. Die 40 Jahre alten Notizen waren für einen Roman gedacht. Es passiert, dass du einen Gegenstand, an dem dir viel liegt, nach ein paar Tagen verlierst: vierblättriges Kleeblatt, Liebesbrief, Teddybär, während andere Gegenstände dich jahrelang hartnäckig verfolgen, ohne dich um deine Meinung zu fragen. Wenn du glaubst, sie endgültig losgeworden zu sein, tauchen sie in irgendeiner Schublade wieder auf.
Bosmans erinnert sich an die Wochen, die er damals mit Margaret Le Coz in Paris verbrachte. Was ihm einfällt, ist trotz der Aufzeichnungen bruchstückhaft, und er hält die Fragmente in einem schwarzen Moleskin-Notizbuch fest. Mérovée, der Brünette mit dem Bulldoggenschädel und der Blonde mit der getönten Brille. Der mit dem Bulldoggenschädel war der Büroleiter. Er lud Bosmans ein, sich ihrer "Fröhlichen Bande" anzuschließen und zweimal pro Woche mit ihnen in eine Turnhalle zu gehen, aber Bosmans entgegnete: "Wissen Sie, seit Internat und Kaserne mag ich keine Banden mehr." Als Mérovée an einem anderen Abend als Erster herauskam, meinte er: "Verstehe … Sie gehen lieber mit der Boche aus …"
Bosmans reagierte nicht darauf. Durch aggressive Bemerkungen ließ er sich grundsätzlich nicht provozieren.
Als Bosmans gefragt hatte, worin die Arbeit bei Richelieu Interim genau bestehe, hatte sie gesagt: Schließlich nahm sie ihn mit in den Stadtteil Auteuil, wo sie ein Zimmer gemietet hatte. Die Metrofahrt dorthin dauerte lang. Warum sie so weit draußen wohne, fragte er sie. "Hier ist es sicherer", hatte sie gesagt. Dann hatte sie sich schnell verbessert: "Hier ist es stiller …" Bosmans äußerte die Vermutung, dass sie sich verstecke, und sie gab es zu.
"Da ist ein Typ, der mich seit ein paar Monaten sucht …"
Bosmans schrieb nun manchmal nachmittags in ihrem Zimmer, während sie bei Richelieu Interim Übersetzungsarbeiten erledigte. "Stell dir ein Paar so um die Fünfzig vor", hatte Bosmans zu ihr gesagt. "Eine Rothaarige mit hartem Blick und ein Brünetter, der aussieht wie ein aus der Kutte gesprungener Pfarrer. Die Rothaarige ist meine Mutter, wenn ich meiner Geburtsurkunde glauben darf." In seiner Jugend, wenn Bosmans sich in die Rue de Seine und Umgebung wagte und ihm das Unglück widerfuhr, diesem Paar zu begegnen, dann geschah immer das gleiche: Seine Mutter kam mit aggressiv vorgerecktem Kinn auf ihn zu und verlangte Geld, im autoritären Ton von jemandem, der ein Kind zurechtweist. Der Brünette stand abseits, reglos, und musterte ihn streng, als solle er sich für sein Dasein schämen. Bosmans wusste nicht, warum diese beiden Menschen ihm so viel Verachtung entgegenbrachten. Er wühlte in seiner Tasche und hoffte, ein paar Geldscheine zu finden. Er hielt sie seiner Mutter entgegen, und diese steckte sie mit unwirscher Geste ein. Als er noch in seinem früheren Zimmer gewohnt habe, erzählt Bosmans, sei die Mutter mehrmals zu ihm gekommen, um Geld zu fordern. Aber dann sei er umgezogen. Margaret hatte ebenfalls Ortswechsel vorgenommen und hoffte, dass der Stalker dadurch ihre Spur verloren hatte. Der Mann heiße Boyaval, sagte sie. Alles, was man tagaus, tagein erlebt, ist gekennzeichnet von der Ungewissheit der Gegenwart. Zum Beispiel fürchtete sie, an jeder Straßenecke auf Boyaval zu stoßen, und Bosmans, auf das bedrohliche Paar, das ihn mit seiner Verachtung und seiner Feindseligkeit verfolgte – ohne dass er begriff warum.
Einmal, als sie bei einem Schuhputzer vorbeikamen, glaubte Margaret, der Kunde auf dem Sessel sei Boyaval. Bosmans ging sofort hin, legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte: "Sind Sie Monsieur Boyaval?" Aber er war es nicht. Fast sechs Monate lang fuhr er regelmäßig zu Simone Cordier, um ihr neue Seiten zu bringen und die getippten abzuholen. Er hatte sie gebeten, die handgeschriebenen Seiten bei sich aufzubewahren, als Vorsichtsmaßnahme. Margaret Le Coz war in Berlin-Reinickendorf zur Welt gekommen. Ihren Vater hatte sie nie gekannt. Ihre aus Brest stammende Mutter Geneviève Le Coz zog dann mit ihr nach Lyon und heiratete einen Automechaniker. Margaret besuchte Internate in Thônes und in La Roche-sur-Foron. Sie bricht die Brücken zu ihrer Mutter endgültig ab. In Annecy bekommt sie ihre ersten Stellen bei Zuccolo und während des Sommers im Büfett des Sporting. Sie ist als Kellnerin bei Fidèle Berger beschäftigt und arbeitet in der Librairie de la Poste.
In Annecy lernte sie Boyaval kennen. Sein Gesicht war von Pockennarben übersät, und die Hände wirkten an dem mageren Körper viel zu groß. Er war Skilehrer in La Clusaz und Mégève gewesen und hätte es beinahe in die französische Nationalmannschaft geschafft. Als Margaret ihm erstmals begegnete, arbeitete er in einem Fremdenverkehrsbüro in Annecy. Er schlug ihr einen Ski-Ausflug nach La Clusaz vor, und als sie ablehnte, wurde er aggressiv. Jedes Mal, wenn er ihr eine Verabredung vorschlug, erfand sie eine Ausrede, aber er ließ nicht locker und wurde zum Stalker. Als sie ihn nach einem Kinobesuch aufforderte, sie in Ruhe zu lassen, zog er ein Springmesser und drückte ihr die Spitze der Klinge zwischen die Brüste. Mit diesem Messer stach er in Gaststätten zwischen die gespreizten Finger seiner linken Hand, immer schneller. Dann kassierte er die Wetteinsätze der anderen am Tisch. Wenn er sich verletzte, umwickelte er die Hand mit einem Taschentuch. Gerüchten zufolge verfügte er auch über eine Schusswaffe. Margaret ging zweimal zum Polizeirevier, wurde dort jedoch nicht ernst genommen. Sie fragte sich, ob diese schwarze Gestalt ihr das ganze Leben lang den Horizont verdecken würde.
Am nächsten Tag flüchtete Margaret mit dem Zug nach Paris. Ihren 20. Geburtstag hatte sie gerade noch in der Schweiz gefeiert. Den mit Banknoten gefüllten Umschlag, den Michel Bagherian ihr auf dem Bahnsteig in Lausanne zustecken wollte, wies sie zurück und nahm lediglich den restlichen Lohn. Der Wechsel von Lausanne nach Paris bildete eine neue Zäsur in ihrem Leben. Nie mehr würde sie in die Schweiz zurückkehren, die ihr damals, als sie von Annecy hinfuhr, wie ein Zufluchtsort vorgekommen war.
"Ein Hund, das würde den Kindern doch sicher Freude machen", stotterte Margaret. Vierzig Jahre später googelt der Schriftsteller Jean Bosmans in einem Internet-Café den Namen Boyaval. Es gibt nur einen in ganz Frankreich, einen Immobilienmakler Alain Boyaval in Paris-Bercy. Unter dem Vorwand, ein Zimmer mieten zu wollen, sucht Bosmans ihn auf. Freunde von ihm hätten einen Monsieur Boyaval gekannt, der vor über 40 Jahren beinahe in die französische Skinationalmannschaft aufgenommen worden wäre, erwähnt Bosmans wie nebenbei. Die pockennarbige Gesichtshaut, die zahlreichen Narben an den Fingern – es gibt keinen Zweifel: Es handelt sich um den Stalker von damals.
"Und was für Freunde hatten Sie in Annecy?" Während Jean Bosmans in einem Café sitzt, führt eine junge Frau eine steife Greisin herein, die er von früher kennt: Yvonne Gaucher, eine Linkshänderin, die mit einem Osteopathen namens André Poutrel zusammengelebt hatte. Ihretwegen hatte Margaret Paris überstürzt verlassen, ohne dass er jemals herausfand, was geschehen war.
André Poutrel kam eines Tages in die zu Éditions du Sablier gehörende Buchhandlung, stellte sich vor und erklärte: "Ich suche ein altes Buch, dessen Autor ich bin." Der Titel lautete: "Der Kreis der Astarte". Im Lager fand Bosmans noch zwei Exemplare davon. Margaret war auch da, denn in der Woche zuvor hatte das Ehepaar Ferne sie ohne jegliche Erklärung fristlos entlassen. Poutrel fragte sie, ob sie auch in der Buchhandlung angestellt sei, und als sie zugab, arbeitslos zu sein, bot er ihr an, auf seinen Sohn Peter aufzupassen. "Wissen Sie, hier sind die seltsamsten Dinge passiert, früher mal …" Bosmans erinnerte sich an die Widmung im Buch und fragte:
"Meinen Sie einen Monsieur Maurice Braive?" Bald nachdem Margaret als Kindermädchen bei André Poutrel und Yvonne Gaucher angefangen hatte, kam sie verstört zu Bosmans in die Buchhandlung.
Sie konnte fast nicht sprechen. Kurz zuvor war sie mit Doktor Poutrel, Yvonne Gaucher und dem kleinen Peter in deren Wohnung gewesen. Sie wollte Peter gerade zur Schule begleiten. Es hatte an der Tür geläutet. Doktor Poutrel war hingegangen, um zu öffnen. Laute Stimmen. Im Vorzimmer rief Doktor Poutrel immer lauter: "Ganz gewiss nicht … Ganz gewiss nicht …" Er war mit drei Männern in das Sprechzimmer gekommen, und er trug Handschellen. Yvonne Gaucher stand sehr aufrecht da, unbewegt. Der kleine Peter klammerte sich fest an Margarets Hand. Einer der drei Männer war auf Yvonne Gaucher zugegangen, hatte einen Ausweis aus seiner Jackentasche gezogen, ihr hingehalten und gesagt: "Würden Sie bitte mitkommen, Madame …" Ihr legten sie keine Handschellen an. Die beiden anderen hatten Doktor Poutrel bereits aus dem Raum gezogen, Yvonne Gaucher setzte sich an den Schreibtisch, vom dritten Mann aufmerksam bewacht. Sie schrieb ein paar Worte auf ein Rezeptformular und reichte es Margaret. Weil Margaret von der Polizei aufgefordert worden war, sich am nächsten Morgen um 10 Uhr im Polizeipräsidium am Quai des Orfèvres zur Vernehmung zu melden, reiste sie Hals über Kopf aus Paris ab. Bosmans brachte sie zur Gare du Nord. Bosmans versucht noch einmal, ihr gut zuzureden und sie davon zu überzeugen, dass sie in Paris bleibt. Nein, Jean, es geht nicht. Sie wissen Dinge über mich, die ich dir nicht erzählt habe und die in ihren Akten stehen.
Den Zettel mit der Adresse, zu der Margaret den Jungen vor ihrer Abreise gebracht hatte, besitzt der Schriftsteller noch: Suzanne Kraay, 32 Rue des Favorites. Er fährt zu der Adresse und fragt die Concierge nach Suzanne Kraay, aber die wohnt längst nicht mehr dort.
Bald würde er die Buchhandlung betreten. Er würde nicht genau wissen, wie er das Gespräch anknüpfen sollte. Vielleicht erkannte sie ihn nicht. Oder hatte ihn vergessen. Im Grunde genommen hatten sich ihre Wege nur für ganz kurze Zeit gekreuzt. Er würde sagen: |
Buchbesprechung:
Ein älterer französischer Schriftsteller erinnert sich in dem feinfühligen, melancholischen Roman "Der Horizont" von Patrick Modiano an eine kurze Liebesbeziehung vor 40 Jahren in Paris und hält in einem Notizbuch fest, was ihm dazu einfällt.
Sie liest jeden Tag die Kleinanzeigen, und jeden Tag hofft sie auf einen Satz, der ihr neue Horizonte eröffnet. Fazit: "Der Horizont" ist ein stimmungsvoller Roman des Nobelpreisträgers Patrick Modiano. Wer sich mehr von konkreten Handlungen angesprochen fühlt, würde sich bei der Lektüre eher langweilen. Für Leserinnen und Leser, die stärker auf Form und Sprache achten, bietet "Der Horizont" allerdings einen Lesegenuss auf hohem literarischen Niveau. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Patrick Modiano (Kurzbiografie) |