Philipp Roth: Der menschliche Makel (Roman) |
Philipp Roth: Der menschliche Makel |
Inhaltsangabe: In Amerika war es der Sommer, in dem der Brechreiz zurückkehrte, in dem die Witze, die Spekulationen, die Theorien, die Übertreibungen kein Ende nahmen, in dem man die moralische Verpflichtung, seine Kinder über die Tatsachen des Erwachsenenlebens aufzuklären, zugunsten des Wunsches aufgab, ihnen alle Illusionen zu lassen, es war der Sommer, in dem die Kleinlichkeit der Menschen schlichtweg überwältigend war, in dem eine Art Dämon auf die Nation losgelassen wurde und man sich in beiden Lagern fragte: "Warum sind wir eigentlich so verrückt?", der Sommer, in dem Männer wie Frauen beim Aufwachen feststellten, dass sie im Schlaf, in einem Zustand weit jenseits von Neid und Abscheu, von Bill Clintons Unverfrorenheit geträumt hatten. Ich selbst träumte in diesem Sommer von einem gewaltigen Spruchband, das dadaistisch wie eine Christo-Verpackung von einem Ende des Weißen Hauses zum anderen gespannt war und auf dem stand: HIER LEBT EIN MENSCHLICHES WESEN. Es war der Sommer, in dem sich das Durcheinander, das Getümmel, das Chaos zum millionsten Mal als subtiler erwies als diese Ideologie oder jene Moral. Es war der Sommer, in dem jeder an den Penis des Präsidenten dachte und das Leben in all seiner schamlosen Schlüpfrigkeit Amerika wieder einmal in Verwirrung stürzte.
Der 65-jährige Schriftsteller Nathan Zuckerman, der nach einer Prostatakarzinom-Operation, durch die er impotent und inkontinent geworden ist, 1993 von Manhattan in die Berkshire Hills im Westen von Massachusetts zog und hier allein in einem Zwei-Zimmer-Häuschen wohnt, befreundet sich mit seinem Nachbarn Coleman Silk. Die Art, wie er durch den Raum taumelte, erinnerte mich an ein Huhn, das weiter herumlief, nachdem man es geköpft hatte. Man hatte ihm den Kopf abgeschlagen, den Kopf, der das gebildete Gehirn des einst unantastbaren Dekans und Professors für klassische Literatur enthalten hatte, und was ich hier sah, war der unbeherrscht wütende amputierte Rest.
Coleman Silks Frau Iris war am Tag zuvor gestorben, an den Aufregungen aufgrund der ungerechtfertigten Rassismusvorwürfe gegen ihn, glaubte der Witwer. Nathan Zuckerman sollte ein Buch über den Fall schreiben, ihn darin rehabilitieren und die Mörder seiner Frau anprangern. Der Schriftsteller weigerte sich, und Coleman Silk begann selbst zu schreiben. "Achilleus nach dem Adrenalinstoß: der explosivste Wilde Mann, den je ein Autor das Vergnügen hatte zu schildern, die – besonders wenn es um sein Prestige und seine Gelüste geht – empfindlichste Tötungsmaschine in der Geschichte der Kriegsführung."
1995, mit 69, legte er das Amt des Dekans nieder, um seine akademische Laufbahn mit einer Lehrtätigkeit ausklingen zu lassen. Er übernahm Seminare im Fachbereich für Sprache und Literatur, den die ehrgeizige französische Professorin Delphine Roux leitete. Im ersten Semester beschwerte sich die Studentin Elena Mitnick über ihn, weil er sich weigerte, die Tragödien von Euripides auch unter feministischen Gesichtspunkten durchzunehmen. Nachdem er in den ersten sechs Wochen des folgenden Semesters zwei für eines seiner beiden Seminare angemeldete Teilnehmerinnen nicht zu Gesicht bekommen hatte, fragte er die Anwesenden: "Kennt jemand diese Leute? Hat sie schon mal jemand im College gesehen, oder sind es dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen?" Er konnte nicht ahnen, dass es sich zum zwei Afroamerikanerinnen handelte. Eine von ihnen, Tracy Cummings, schaltete Delphine Roux ein. Obwohl Coleman Silk beteuerte, er habe die Hautfarbe der Studentinnen gar nicht gekannt, warf man ihm Rassismus vor. Die Schwarzen nutzten den Skandal, um ihren Einfluss am Athena College auszubauen und die Zahl der nichtweißen Studenten und Professoren zu erhöhen. Zermürbt von den wiederholten Befragungen und Unterstellungen, ging Coleman Silk 1996 in den Ruhestand. Doch Coleman hatte die Rohfassung seines Buches, diese so überaus schlechte Rohfassung, einfach aufgegeben, und schwimmend war es ihm irgendwie gelungen, sich nicht nur vom Wrack seines Buches, sondern auch vom Wrack seines Lebens zu lösen. Ohne das Buch schien er jetzt nicht mehr das geringste Verlangen zu haben, die Dinge richtig zu stellen; da ihn der leidenschaftliche Wunsch, seine Ehre wieder herzustellen und seine Gegner als Mörder zu brandmarken, verlassen hatte, war er nicht mehr eingehüllt in das Gefühl, ihm sei Unrecht widerfahren.
Er erzählt seinem neuen Freund Nathan Zuckerman, er nehme Viagra und habe eine Geliebte, halb so alt wie er: 34. Sie heißt Faunia Farley. Beim erstenmal hatte er Ohren abgeschnitten, weil er eben da war und weil man das eben machte, aber das war's dann auch. Er war keiner von denen, die es, als man sie in dieser Gesetzlosigkeit abgeladen hatte, gar nicht erwarten konnten, endlich loszulegen ...
Weil er anschließend nicht mehr zurechtkam, meldete er sich nochmals für Vietnam. Dadurch wurde es nur noch schlimmer. Zweimal prügelte er Faunia krankenhausreif. Seine Milchfarm ging bankrott. Faunia wollte ihn verlassen, mit den beiden Kindern, einer achtjährigen Tochter und einem fünfjährigen Sohn. Jeder weiß, dass Sie eine misshandelte, analphabetische Frau, die halb so alt ist wie Sie, sexuell ausbeuten.
Coleman Silk durchschaut sofort, von dem der Brief stammt, und er beauftragt seinen Anwalt Nelson Primus, Delphine Roux einen entsprechenden Brief zu schreiben, obwohl dieser ihm rät, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
"Farley ist die Welt, die Faunia nur mit knapper Not überlebt hat und die sie zwangsläufig mitbringt, wenn sie durch Ihre Tür tritt ...
Faunia übernachtet ein einziges Mal bei Coleman Silk, obwohl sie es eigentlich nicht wollte, weil sie fürchtet, es könne "der Anfang des Schwelgens in einer Immer-und-ewig-Phantasie, der banalsten Phantasie der Welt" sein.
"Ich schreibe über Leute wie Sie", sagte ich. Farley glaubt zu wissen, dass Zuckerman ihn für den Mörder von Faunia und Coleman Silk hält, und der Schriftsteller, der sich durchschaut fühlt, fürchtet plötzlich, mit dem scharfen Eisbohrer getötet zu werden.
Es war weit zum Ufer. Und wenn ich es auch bis dorthin schaffte, so wusste dich doch, dass die Zeiten, da ich ungestört allein in meinem Haus leben konnte, vorüber waren. Ich wusste, dass ich, sobald das Buch erschienen war, anderswo würde leben müssen. |
Buchbesprechung: "Die Berührung durch uns Menschen hinterlässt einen Makel, ein Zeichen, einen Abdruck. Unreinheit, Grausamkeit, Missbrauch, Irrtum, Ausscheidung, Samen – der Makel ist untrennbar mit dem Dasein verbunden."
Meisterhaft erzählt Philip Roth das vielschichtige Geschehen von seinem Ende her und zum Teil aus der Perspektive seines bereits aus anderen Romanen bekannten Alter Ego Nathan Zuckerman. Immer wieder verzögert die eingestreute längere Biografie oder der innere Monolog einer Haupt- oder Nebenfigur den Handlungsablauf. Aus der Verkettung all dieser Schicksale ergibt sich die Tragödie. "In dem Augenblick, wo er abgespritzt hat, war er erledigt. Sie hatte, was sie wollte. Eine Probe. Sein noch dampfendes Sperma. Wenn er sie in den Arsch gefickt hätte, wäre der Nation dieses schreckliche Trauma erspart geblieben."
Der Übersetzer Dirk van Gunsteren weist eigens darauf hin, dass die missverständliche Äußerung Coleman Silks über die beiden fehlenden Studentinnen im Original anders lautet: "Do they exist or are they spooks?" "Spook" bedeutet Gespenst (auch Spion), aber bis in die Fünfzigerjahre wurde dieses Wort auch als abfällige Bezeichnung von Weißen für Schwarze und umgekehrt verwendet. Da sich dieses Wortspiel nicht übersetzen lässt, wandelte Dirk van Gunsteren den Satz ab: "... oder sind es dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen?" |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002 - 2004
Robert Benton: Der menschliche Makel |