Frank Schulz: Das Ouzo-Orakel (Roman) |
Frank Schulz: Das Ouzo-Orakel |
Inhaltsangabe:Bodo Morton wurde am 11. Februar 1957 in Beeckdörp, einem Dorf auf der Stader Geest, geboren. Als er 1990, also vor zehn Jahren, zum ersten Mal in das griechische Fischerdorf Kouphala kam, war er gerade frisch mit Anita verheiratet. Vor dreieinhalb Jahren, kurz nach der Scheidung, wanderte er dann nach Kouphala aus. Sechs Semester hatte ich schon versoffen, als wir uns kennen lernten, weitere acht verjuxt, bis ich Lokaljournalist im Süden Hamburgs wurde, und im fünfzehnten erschien Das Weib auf der Bildfläche. Mit ihm sollte ich Anita innerhalb von acht Jahren tausendfach betrügen, ja die letzten drei, vier Jahre ein regelrechtes Doppelleben führen. Beide Hälften schlug es kurz und klein, mit seinen letzten stalking-Attacken, Das Wahnsinnige Weib. (Seite 337) In der Nacht auf den 1. Juni 1995 sagte Bodo zu Anita, er gehe Zigaretten holen und verschwand. Am 10. Juni fanden ihn Anita und seine Freunde in einem Wald bei Beeckdörp und brachten ihn ins Krankenhaus von Stade, von wo aus er acht Tage später ins Klinikum für Psychiatrie und Psychosomatik in Bad Suden, Oberfranken, verlegt wurde. Weil ich jeden festen Bissen hervorwürgte, hatte ich tagelang von Suppen gelebt; weil ich das Gras wachsen hörte, das Stöhnen der Zimmerwände und das Toben der Milben in den Teppichen, pflegte ich mir die Ohren mit Wachs zu versiegeln; und ich trug stets einen Motorradhelm, weil ich der Überzeugung war, ich litte unter "Morbus fonticuli" – einer Krankeit, die ich selbst diagnostiziert, um nicht zu sagen erfunden hatte; ich glaubte, ich hätte unsichtbare Löcher im Kopf, wodurch alle Übel dieser Welt einströmten, Gifte, fremdes Geschwätz, böse Gefühle … (Seite 338) Dr. med. Dr. phil. Therese Seymour, die Leiterin der neuroendokrinologisch-psychosomatischen Abteilung im Klinikum für Psychiatrie und Psychosomatik zu Bad Suden, sagte zu Bodo: "Ihr Problem ist Das Weib." (Seite 346) Doch als er sich daraufhin vornahm, allen "Linksknöpfern" fortan aus dem Weg zu gehen, ermahnte ihn die Psychiaterin: "Problemen, Herr Morten, müssen Sie sich stellen. Sonst stellen die Probleme Sie." (Seite 347)
Nach vierzehn Monaten wurde Bodo als geheilt entlassen. Einige Wochen später erhielt er seine "Anerkennung als Frührentner" und von seinem Freund Alfred Kolk die Mitteilung, dass dessen griechischer Freund Dimitrios ein Haus bei Kouphala vermieten wolle. Die beiden kannte ich viel zu lange, als dass von ihrer Eigenschaft als Geschlecht noch hätte Gefahr für mein mönchisches Seelenheil ausgehen können. (Seite 20) Karin ist die Schwester seines alten Freundes Alfred Kolk und Manu dessen Frau. Bodo kennt Manu seit Mitte der Achtzigerjahre, als sie noch in der Hamburger Kneipe "Die Glucke" kellnerte. 1992 heiratete sie Kolk. Der will in drei Wochen mit den fünf Kindern nachkommen. Karin verknallte sich 1976, mit dreiundzwanzig, an der Haustür ihrer Wohngemeinschaft in Stade in Achim Torzuleit ("Panne"), einen vorbestraften Mannheimer, der ihr ein "Praline"-Abonnement andrehen wollte. Noch im gleichen Jahr folgte sie ihm nach Bochum und eröffnete dort eine Bar. Zweiundzwanzig Jahre lang liebte und hasste sie Panne, bis es ihr reichte und sie vor zwei Jahren zu ihrem Bruder nach Beeckdörp zurückkehrte. Weil Karin sich jeden Abend zu vielen Gläsern "Ouzo" einladen lässt und ein recht loses Mundwerk hat, wird sie von ihrer Schwägerin ständig ermahnt, aber dann entgegnet sie schon mal: "Ich weiß eben, was ich mir schuldig bin, als Ouzo-Luder von Kouphala!" (Seite 230) Seit einer Woche ist auch der Berliner Esoteriker Sven wieder in Kouphala. Während er letztes Jahr noch auf "neongelbe Gel-Fasson" schwor, hat er sich inzwischen kahlrasieren lassen. Karin mokiert sich darüber: Karin stach mit ihrem geschliffenen Fingernagel in die Aura um seinen Schädel und sagte, die Satzmelodie vom anonymen Putzteufel aus Hamburgs Peripherie borgend: "Gediegen, so 'ne Frisur, aber man sieht ja jeden Dreck." (Seite 23) Am nächsten Morgen begrüßt sie Sven mit den Worten:
"Na, Zwenni? Schon orntlich was wegmeditiert heut morgen?"
Eines Abends bringt der Bauer Kostas ("Kosta brava") eine fremde Deutsche mit in die Taverne "Plaka". Sie heißt Monika Freymuth und gibt sich als Reisejournalistin auf der Durchreise aus. Einquartiert hat sie sich bei Ingo und Karolina, die seit 1987 jeden Sommer in Kouphala verbringen und hier 1991 ein Haus bauten, dessen Untergeschoss sie an Feriengäste vermieten. Arbeitslosigkeit, Doppelleben, Suff, Klapsmühle, Scheidung, Auswanderung (Seite 141)
Nachdem Monikas Vater 1969 im Alter von einunddreißig Jahren einem Herzinfarkt erlegen war, zog ihre Mutter mit ihr zu Tante Irmchen nach Kehdingen. Im Mai 1976 heiratete Monika den ebenfalls in Beeckdörp geborenen Hartmut Freymuth, und ein paar Monate später wurde sie von ihrem ersten Kind entbunden: Vanessa. Die zweite Tochter – Yps – bekam sie mit einundzwanzig, und seit Jahresanfang ist sie Großmutter von Yps Tochter Carlotta. Das alles war einunddreißig Jahre und tausendachthundert Kilometer weit weg. (Seite 327) Auch an Hartmut Freymuth erinnert Bodo sich. Dem vier Jahre älteren Mitschüler ging es auf die Nerven, dass Bodo nach der Einschulung an Asthma litt. Weil er sich aber nicht an dem Erstklässler vergreifen wollte, hetzte er seinen jüngeren Bruder Ecki, der in Bodos Klasse ging, dazu auf, den Asthmatiker zu verhauen. Bodo hasste die beiden dafür. Auch seine Freunde mochten Hartmut Freymuth nicht. Ein Kaltblütler, der nur lachte, wenn etwas umfiel oder sonstwie kaputtging (vorausgesetzt, es gehörte nicht ihm). Ein beschränkter, aber zäher, kräftiger Streber. (Seite 138) Sven hält das Wiedersehen von Bodo und Monika für eine Schicksalsfügung, Kismet oder Karma:
"Dit jetze", sagt er, "dit kann gar keen Zufall sein. Dit jibt so viel Plätze und Menschen uff de Erde, da issit doch total unwahscheinlich, dass Monika dir nach üba dreißich Jahre ausjerechnet hier wiedabejegnet, in diesen winzjen Ort jetzte!" Karin schlägt vor, das Wiedersehen in der Bar "Dionysos" zu feiern. Dorthin gehen Karin, Manu, Monika, Bodo und ihre griechischen Freunde nun jeden Abend nach dem Essen. Vormittags treffen sie sich am Strand, wo Bodo versucht, Monika aus ihrer Krise herauszuhelfen.
Zwar waren meine Analysen bestechend, in den ersten Tagen, mörderisch hellsichtig und entsprechend schmerzlich für meine Patientin; meine Analysen ihrer Beziehungen, ihrer Lebenskrisis, ihrer Rolle als Tochter, Mutter und Großmutter, als Frau, Hausfrau und Gattin [...] Ich sagte Sätze à la "Abgrenzung, das Zauberwort heißt Abgrenzung", oder: "Du wirst um den Schmerz nicht herumkommen"; Sätze à la "Trauer bedeutet nicht, sich den alten Zustand zurückzuwünschen", oder: "Du musst spätere Reue vermeiden", oder: "Du drückst dich davor, zu handeln. Deine Krise bewahrt dich davor. Aber sobald du handelst, wird sie verschwinden. Eines Tages musst du dich deinen Problemen stellen, sonst stellen die Probleme dich." Bodo nervt Monika nicht nur mit seinen Analysen, sondern auch mit seinem Wissen.
Er wusste so viel! Es war unglaublich, was er alles wusste [...]
Nach ein paar Tagen bietet Bodo sich an, Monika mit Sonnenöl einzureiben und rät ihr, einfach einmal fremdzugehen. Er ahnt nicht, dass sie seinen Rat noch in der Nacht befolgt, aber am nächsten Tag fällt ihm auf, dass sie statt eines Badeanzuges einen Bikini trägt. Das hält Bodo für einen Fortschritt, auch wenn sie nicht dem Beispiel Manus und Karins folgt und auf das Oberteil verzichtet.
Nicht, dass sie nicht grundsätzlich bereit gewesen wäre, sich zu opfern. Doch, am Ende dieser Nacht verspürte sie eine empfindliche Lust, sich auch mal zu verschenken, sich hinzuschwenden an diesen Rübezahl; eine enorm empfängliche Willigkeit verspürte sie, auf einer Sänfte aus tausend Rosen hingebettet das Opfer im sündigen Ritus eines ausgehungerten Mönchs zu sein – denn sie allein schließlich, das war ihr nun klar, war es, die alles zum Einsturz gebracht, sein Zölibat, seine Abstinenz, seine Zitadelle, und dafür musste und wollte sie büßen, oh ja. Oh ja, sie war es gewesen, die kraft ihrer Reize, kraft ihrer Lieblich- und Luderhaftigkeit den bösen Buhmann in ihm geweckt, und diese Schuld galt es nun zu sühnen, so war nun mal das Leben. Tausend rote Rosen! Tausend! Der Arme … Doch, sie war bereit. Am nächsten Abend sitzen zwei deutsche Männer mit zwei offensichtlich erst im Urlaub aufgegabelten Engländerinnen in der Taverne "Plaka". Unvermittelt müssen sich die vier übergeben, und Spyros der Jüngere klärt Bodo hinter vorgehaltener Hand darüber auf, dass seine Mutter Soula beim Anmachen des Salats die Olivenöl- mit der Spülmittel-Flasche verwechselte. Bevor die Touristen sich ganz erholt haben, kommen Panos und Monika eng umschlungen herein. Aus Monikas Miene schließt Bodo, dass sie "frisch durchgenudelt" (Seite 493) ist. Die Blicke von Monika und einem der Deutschen treffen sich. Sofort begreift Bodo: Hartmut Freymuth! Der Chefingenieur springt auf. Panos verschwindet. Der tumbe Alex indessen ergriff die Gelegenheit, dass Nebenbuhler Panos verschwunden war, beim Schopf beziehungsweise Monika beim Kinn, um sich nach ihrem sonderbaren Befinden zu erkundigen. (Seite 495) Ohne sich noch länger um die "What's fock'n' up? – What the fock'n hell is up again?" (Seite 494) kreischende "Supermieze" an seiner Seite zu kümmern, geht Hartmut auf seine Frau zu, zeigt Alex eine obszöne Geste und packt ihn am Kragen. Kosta brava springt seinem bedrohten Landsmann bei: "Vorrsicht, ich strapaziere dein Gesicht! Nix aufreg, immer nimms mit böse. Bist du Gast hier, nix nimms mit Grieche so diese", und er machte die Geste der offenen Hand. "I Mónika, jede Tagg andere Mann. Lohn sich nix. Nix schlimm. Norrmall! Gollgirrl is Gollgirrl, katálaves?" (Seite 496) Dann bekräftigt Kosta brava noch einmal, dass Monika es mit allen hier getrieben habe, mit ihm, Panos, Spyros und so weiter. Hartmut, das sah ich deutlich, wuchs hier alles über den Kopf. Bemüht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, schaute er seiner Frau in die tränenden Augen und sagte: "Das darf doch alles nicht wahr sein." (Seite 499)
Da erinnert Karin ihn an das Schützenfest 1976 in Heinbockel. Sie hatte sich betrunken, weil sie nicht wusste, ob sie Panne nach Bochum folgen sollte (was sie kurz danach tat) oder nicht, Hartmut, weil eine Frau von ihm schwanger war und er heiraten musste. In seinem Kummer trieb er es mit Karin, die bis vor wenigen Tagen nicht ahnte, wen Hartmut damals geschwängert hatte. "Wart ihr einmal Prinz und Prinzessin, aber sie hat gelebt Leben, was du bist geflohen. Du hat gelebt Leben, was sie nie gekannt. Bist du stark geworden als Persönlichkeit, aber gescheitert in Gesellschaft – vielleicht, weil, alright? –; ist sie erfolgreich in Gesellschaft geworden, aber schwach als Persönlichkeit. Hat sie Fernweh und Sehnsucht nach Andere, hast du Heimweh." (Seite 508)
Als Bodo nach Kouphala zurückkommt, erfährt er, dass sein Freund Spyros der Jüngere mit dem Motorrad verunglückte und tot ist. Als ich anfing, diese Geschichte hier aufzuschreiben, bin ich wieder zu einem jener Süffel geworden, die sich meist nüchtern über den Tag retten und ab fünf Uhr nachmittags dem ersten Schluck Rotwein entgegenfiebern, der um sieben fällig werden würde. Aber nicht zu knapp. (Seite 527)
Im September 2001 kommen Alfred und Manu Kolk von ihrem Griechenlandurlaub in Loutsa zurück. Bei einem Abstecher nach Kouphala erfuhren sie, dass Spyros der Ältere Haus und Hof verkauft hatte und mit Soula und Elevtheria in die Nähe von Athen gezogen war. Ein Verwandter führt nun die Taverne "Plaka", aber die Kolks sahen keine Gäste. |
Buchbesprechung:
"Das Ouzo-Orakel" ist der dritte Teil einer satirischen Romantrilogie, die Frank Schulz (*1957) mit "Kolks blonde Bräute" und "Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien" begann ("Hagener Trilogie"). Während die Handlung in den ersten beiden Bänden im eher kühlen und verregneten Norden Deutschlands spielte, befinden wir uns nun in einem von der Sommerglut heimgesuchten griechischen Dorf. (Ammoudia ist das reale Vorbild für das fiktive Dorf Kouphala.) Dorthin zog der geläuterte Protagonist Bodo Morton sich zurück, nachdem er den Linksknöpfern und dem Alkohol entsagt hatte. Aber die Vergangenheit holt ihn ein, und zwar in Form seiner Jugendliebe Monika. Ich wollte meinem Helden Bodo Morten nicht mehr denselben aufgeregten Tonfall zumuten wie im vorigen Buch, "Morbus fonticuli", sondern ich wollte, dass er auch ein bisschen abgeklärter wird, so wie ich selbst geworden bin, hoffentlich – da hab' ich viel dran gedoktert. (Frank Schulz)
Im Vergleich mit dem furiosen, funkelnden Aberwitz in "Kolks blonde Bräute" und "Morbus fonticuli" wirkt "Das Ouzo-Orakel" denn auch ein wenig müder, aber der unverwechselbare Frank-Schulz-Sound ist schon noch vorhanden. Norddeutsche Dialekte hören wir in "Das Ouzo-Orakel" kaum noch, dafür Griechen mit nicht ganz so perfekten Deutschkenntnissen, zum Beispiel Spyros den Jüngeren, der erzählt, wie die Schulkinder früher unterwegs waren: "mit Bott, mit Äsäl oderr mit Fuß" (Seite 412). Nach wie vor versteht Frank Schulz sich auf die treffsichere Wortwahl, beispielsweise wenn Bodo "allabendlich frisch geklöppelte Spinnweben zu durchqueren" hat (Seite 162). Gerhard Henschels Kommentar zu dieser Sprachvirtuosität lautet: "So hätte Arno Schmidt geschrieben, wenn er nicht bescheuert gewesen wäre." |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Frank Schulz: Kolks blonde Bräute |