Juli Zeh: Adler und Engel (Roman) |
Juli Zeh: Adler und Engel |
Inhaltsangabe:
Während der 33-jährige Jurist Max in der von ihm seit zwei Jahren geleiteten Korrespondenzkanzlei einer Wiener Kanzlei in Leipzig telefoniert, zerreißt ihm ein Knall das Trommelfell des Ohres, an das er das Telefon gehalten hat. Was er sofort ahnt, bestätigt sich, als er nach Hause kommt: die fünf Jahre jüngere Jessie hat sich in seiner Wohnung erschossen. Es war ihm nicht gelungen, ihr die panische Angst zu nehmen. Bevor sie sich durch einen Kopfschuss tötete, hatte sie noch geflüstert: "Ich glaube, die Tiger sind wieder da." Die Sendung für Verzweifelte, für Nihilisten, Zurückgebliebene und Einsame, für Atomforscher, Diktatoren und das einfache Arschloch von der Straße. Hier reden wir gemeinsam ÜBER EINE KARGE WELT.
Nachdem Max dem Telefonisten kurz berichtet hat, was geschehen ist, wird er zu der mitleidlosen Moderatorin Clara in die Live-Sendung durchgestellt. Er beantwortet ihre Fragen. Dann legt er auf und übergibt sich. Ich bin wie gelähmt von der Erkenntnis, dass es sie erstens wirklich gibt und dass sie zweitens tatsächlich hier auftaucht.
Die 23-Jährige, die eigentlich Lisa Müller heißt, studiert Soziologie und Psychologie. Sie möchte über Max ihre Diplomarbeit bei dem auf die Pathologie von Verbrechen spezialisierten, aus Belgrad stammenden Psychologie-Professor Milan Kucia schreiben, den alle wegen seiner literarischen Vorliebe "Schnitzler" nennen. Max ohrfeigt sie, kann sie aber nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Nachdem er sie vor die Tür gesetzt hat, klingelt sie erneut und verlangt ihr verlorenes Haarband. Bei der Suche danach bemerkt sie unter dem Telefonschränkchen laienhaft zersägte Dielenbretter und entdeckt ein Geheimfach, dem sie Banknotenbündel entnimmt: 500 000 Schilling, 50 000 Dollar und 130 000 D-Mark. Nachdem sie das Geld gezählt und Max gezeigt hat, stopft sie alles zurück ins Loch, deckt es ab und rückt das Schränkchen darüber. Dann verlässt sie die Wohnung. Hör zu, sagt Maria Huygstetten, ich weiß, dass wir nichts mehr miteinander zu tun haben werden. Keine Illusionen. Aber du kommst jetzt vorbei und holst den Hund.
Den Einwand, dass es sich bei der Dogge Jacques Chirac um Jessies Hund gehandelt habe, lässt Maria nicht gelten. Max bleibt nichts anderes übrig, als das Tier zu sich zu nehmen.
Ich habe dir was mitgebracht, sage ich. [...]
Zu Hause hört er eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Eine ihm unbekannte Männerstimme. Wienerisch. Entsetzt reißt er das Kabel aus der Wand, stopft im Wohnzimmer ein paar Kleidungsstücke in eine Plastiktüte, ohne das Licht einzuschalten, schubst Jacques Chirac aus der Wohnung und rennt los.
Mit Sicherheit hat sie keinen festen Freund. Er wäre längst bei mir vorbeigekommen um mich zu verprügeln, es sei denn er ist Intellektueller, was aber nicht zu ihr passt. [...] Wenigstens kann ich sicher sein, sie nicht gevögelt zu haben. Ich kriege seit Wochen keinen mehr hoch, darauf kann ich mich verlassen.
Die von Clara erwähnte Abmachung besteht darin, dass sie ihm Zuflucht gewährt hat als Gegenleistung für seine Zusage, ihr seine Lebensgeschichte auf Band zu sprechen.
Nur eins macht mir Sorgen.
In Wien quartieren sich die beiden auf einem früher von Jessie bewohnten, inzwischen leer stehenden Hof ein. Wie vereinbart, macht Max mit seinen Erinnerungen weiter. Meine Mutter besaß nichts, abgesehen von mir und einem Daimler der S-Klasse, für dessen Erhaltung sie die Alimente meines Vaters verbrauchte, die eigentlich für die Internatskosten bestimmt waren. Shershah, der Sohn des iranischen Botschafters in Äthiopien, mit dem er sich seit ein paar Wochen ein Zimmer teilte, beeindruckte die Mädchen mit seiner Schönheit. Seit ich ihn kannte, waren bereits drei Mädchen in sein Bett und wieder herausgestiegen, weiß Gott keine Mauerblümchen, und er fand nicht, dass er sie deshalb nach ihren Namen fragen müsste.
Max und Shershah waren 18 Jahre alt, als sich die fünf Jahre jüngere, sogar auf heißem Asphalt barfuß laufende Mitschülerin Jessie wie eine Klette an den Diplomatensohn hängte. Sie dealte mit Kokain.
Kleine, sagte er, wie seid ihr denn hergekommen? Kurzerhand schickte Herbert die beiden 18-Jährigen gemeinsam mit einem Wagen nach Bari. Jessie werde sie dort erwarten, sagte er. Max begriff schließlich, was Shershah längst wusste: Jessie war die Tochter eines Drogenbarons, und sie sollten als Drogenkuriere eingesetzt werden. Ohne groß darüber nachzudenken, ließ Max sich darauf ein und fuhr mit Shershah neben sich los. Erst hinter Klagenfurt stellten sie beim Tanken fest, dass der Wagen, den sie in Wien übernommen hatten, gepanzert war. Als Max kaum noch die Augen offen halten konnte, ließ Shershah ihn etwas Kokain lecken.
Ich beugte mich über seine Hand wie ein Pferd, das sich behutsam ein Stück Zucker nimmt. Kurz vor San Severo ertrug Max die schmerzende Blase nicht mehr und hielt auf einem Parkplatz an. Nachdem die beiden jungen Männer uriniert hatten, war das Auto weg, obwohl Max den Schlüssel abgezogen hatte. Per Anhalter gelangten sie zum Bahnhof in Bari, wo sie sich mit Jessie trafen, die drei Flugtickets bei sich hatte: von Bari über Mailand und Paris nach Wien, wo Ross sie abholte und Shershah dessen und Max' private Sachen aus dem verschwundenen Auto aushändigte. Max begann zu begreifen, dass es gar nicht gestohlen worden war und wandte sich an Shershah:
Hör zu, Arschloch, sagte ich. Warum erklärst du mir nicht einfach, was hier abgeht?
Shershah hatte sich an Jessie überhaupt nur herangemacht, weil er für deren Vater arbeiten wollte. Ich machte beim Hautarzt eine Art Chemotherapie, die Haare schnitten sie bei der Bundeswehr ab und mein Übergewicht ist mit der Hilfe von ein bisschen Speed auf dem Truppenübungsplatz geblieben.
Nach dem Examen bot ihm der renommierte Völkerrechtler Rufus eine Stelle in seiner Kanzlei in Wien an. Einmal fragte ihn eine Kollegin, wie er zu dem Job gekommen sei, und er antwortete, er habe den Aufnahmetest bestanden. Er sei von Rufus gefragt worden, warum die deutsche Politik in vielen Fragen den Interessen Ghanas, die österreichische dagegen den Australiern nahe stünden. Die richtige Antwort lautete: Wegen der alphabetischen Sitzordnung in Versammlungen und Arbeitsgruppen der internationalen Organisationen: Die Delegierten von Austria sitzen neben denen von Australia, die von Germany neben denen von Ghana. Deshalb kennen sie sich persönlich. Das ist entscheidend.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Jessie hatte panische Angst. Sie berichtete Max von schrecklichen Erlebnissen. Ihr Vater und ihr Bruder hatten die 23-Jährige dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher Franko Simatovic in Sanski Most vorgestellt. In dessen Hollywoodschaukel lag ein großer Hund mit verdrehtem Körper. Die Zunge hing ihm aus dem Maul und er hatte keine Pfoten mehr, stattdessen stachen unten an seinen Beinen die weißen Knochen aus dem Fell. Eine Menge bunter Schmetterlinge saß überall auf seinem Körper.
Bosnische Frauen wurden zuerst von den Milizen serbischer Kriegsverbrecher vergewaltigt und dann gezwungen, für westliche Drogenhändler wie Herbert als Kuriere zu arbeiten, damit diese Waffen lieferten. Jessie sprach damals mit einer gefangenen Bosnierin namens Marta. Danach packte ein Mann, den sie alle den "Eisverkäufer" nannten, die Frau, schnitt ihr die Ohren ab und schoss ihr ins Gesicht. Entsetzt rannte Jessie davon, aber ihr Bruder hielt sie auf, zog ihr die Ärmel lang und verknotete sie auf dem Rücken. Nach diesem traumatischen Erlebnis erklärte Jessie ihrem Vater in Wien, dass sie nicht länger mitmache.
Es gab den unbescholtenen Juristen M, seine Freundin J, das Opfer O und den Hintermann X.
Max verbrachte einige Zeit bei Jessie. Eines Tages, es war 1997, sahen sie durchs Fenster einen Mann aus dem Auto steigen. "Nein nein nein nein", schrie Jessie und forderte Max auf, ihr Präzisionsgewehr aus dem einzigen bewohnten Zimmer zu holen. Als er den Mann auf der Straße – Shershah – ins Visier nahm, schaltete Jessie die Deckenleuchte ein. Shershah blieb stehen, schaute hoch, erblickte wohl die Silhouette am Fenster und warf sich nach vorn. Max drückte ab. Im Gewehr knackte es nur, aber ein Lastwagen erfasste Shershah und tötete ihn.
Getötet wurde ein Drogenkurier, sagte er, ein Mann, der seit über zehn Jahren sein Geld nur durch kriminelle Geschäfte erwarb. Rufus gab zu, dass er seit 20 Jahren mit Herbert befreundet war:
Sein Handelsgeschäft ist nicht der Punkt. Herbert kennt ein paar Leute, und er weiß, wie man mit ihnen umgeht. [...]
Max erfuhr bei dieser Gelegenheit, dass er seinen Job Herbert verdankte. Der sorgte nun auch dafür, dass Max Wien verließ und Rufus ihn mit der Leitung der Korrespondenzkanzlei in Leipzig betraute. Außerdem wurde von Max erwartet, dass er Jessie in die psychiatrische Klinik auf der Baumgartner Höhe in Wien brachte. Max fügte sich, aber als er das Krankenhaus allein verließ, passte ihn Ross auf dem Parkplatz ab und drängte ihn, seine Schwester wieder herauszuholen und nach Leipzig mitzunehmen. [...] ich, ein Impotenter, der versucht, eine Scheintote zu vergewaltigen. Max weiß nicht, ob Clara ihn versteht, als er sagt, er sei mit seiner Geschichte fertig. Doch als ob es sich um ein Zauberwort gehandelt hätte, steht sie kurz darauf in der Tür.
Was soll diese plötzliche Auferstehung? Max trifft sich mit Ross. Der hat bereits von Clara erfahren, dass Max mit seinen Erinnerungen am Ende ist. Clara hatte eine Abmachung mit Ross bzw. Herbert. Sie wollte die "Hirnausscheidungen eines drogenabhängigen Psychotikers" festhalten, die aus Max herausliefen wie "Eiter aus einem Geschwür", und war bereit, das ganze Material auch den Drogenhändlern zur Verfügung zu stellen, die sich davon Aufschluss über etwas versprachen, das sie dringend benötigen.
Es ist so, sagt er, dass du aller Wahrscheinlichkeit nach etwas hast, das wir sehr dringend brauchen. Ross bleibt nichts anderes übrig, als Max einzuweihen: Es geht um eine vierzehnstellige Nummer. Um deren Bedeutung klarzustellen, beginnt er davon zu reden, wie 1997 in Albanien die Banken zusammenbrachen. Danach ging über den Balkan nichts mehr für uns, sagt Ross. Die Südoststraße war immer eine der lukrativsten Routen gewesen, eine wahre Schlossallee. Aber jetzt kam einiges zusammen. Die Mafia hatte ihr Geld aus Albanien rausgezogen, es begannen die Umverteilungsmaßnahmen. Häfen und Flugplätze wurden von den multinationalen Schutztruppen verstopft. Und einige unserer Partner suchte man auf internationalen Haftbefehl. Nach dem Zwischenfall mit der vor Jessies Augen ermordeten Bosnierin in den letzten Wochen des "Balkangeschäfts" warteten Ross und seine Männer mit einer "Regentonne voll Kokain" aus dem Osten an Bord eines Motorboots in der Adria drei Stunden lang bei schwerer See vergeblich auf Jessie und Shershah, während über ihren Köpfen die internationalen Schutztruppen Durrës anflogen. Die beiden, die das Kokain nach Italien hätten bringen sollen, waren mit dem Geld untergetaucht. Schlimmer noch: Jessie hatte mit Toms Hilfe den zentralen Zugang zu den wichtigsten Dateien abgeriegelt und mit einem 14-stelligen Passwort gesichert, das außer ihr allenfalls noch Shershah kannte. Nun sind beide tot, und niemand kommt an die fürs Geschäft erforderlichen Daten heran.
In den Datenbanken liegt genug Stoff für einen Riesenskandal auf höchster Ebene. Wenn das rauskommt, ist deine geliebte EU am Ende und der Balkan geht plötzlich bis zum Atlantik. Max beteuert, keine Ahnung zu haben, wo Jessie den Code versteckt haben könnte. Als er auf den Hof zurückkommt, ist Clara fort. An der Innenseite eines Ohrlappens der Dogge bemerkt Max eine tätowierte Nummer mit 14 Stellen. Nachdem er "Jacques Chirac" mit einem Messer erstochen hat, ruft er Ross an und nennt seinen Preis. Ross erwartet eine Geldforderung, aber stattdessen sagt Max:
Ihr könnt jemanden für mich finden, sage ich. Falls ihr sie nicht sowieso schon habt, versucht es am Westbahnhof. [...] Während Max wartet, zieht er sich aus, legt sich nackt in den warmen Sommerregen und blickt in den Himmel. |
Buchbesprechung:
In ihrem düsteren Debütroman "Adler und Engel" verknüpft Juli Zeh persönliche Schicksale mit dem organisierten Verbrechen und der großen Politik. Der anspruchsvolle Thriller dreht sich um die von Kriegsverbrechern initiierte, von renommierten Juristen gedeckte Kooperation von Waffen- und Drogenhändlern. Den Hintergrund dafür liefert die Situation nach dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens.
Das Leben, sage ich, ist wie ein Adventskalender, hinter dessen vierundzwanzigster Tür sich ein weiterer Adventskalender befindet. Den Roman "Adler und Engel" von Juli Zeh gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Mühe (ISBN 3-453-21509-5). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Juli Zeh: Schilf |