Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess (Roman) |
Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess |
Inhaltsangabe:Früher glaubte man in Deutschland an die Demokratie. Inzwischen wurde ein als METHODE bezeichnetes Staatssystem eingeführt, dessen Legitimation auf dem Gemeinwohl basiert. Wir haben eine METHODE entwickelt, die darauf abzielt, jedem Einzelnen ein möglichst langes, störungsfreies, das heißt, gesundes und glückliches Leben zu garantieren. Krankheiten hat man konsequent ausgerottet, und jegliches die Gesundheit gefährdende Verhalten steht unter Strafe. "Santé!", lautet die übliche Begrüßungsformel. Noch vor fünfzig Jahren zeigten Kinder stolz ihre aufgeschürften Knie. Erwachsene Menschen malten einander Herzchen aufs Gipsbein. Jeder klagte über Heuschnupfen, Rückenschmerzen und Verdauungsprobleme und wollte doch immer nur eins: unverdiente Aufmerksamkeit. Wehleidigkeiten aller Art galten als ernst zu nehmende Gesprächsgegenstände. Arztbesuche wurden zum Volkssport. Die Krankheit war den Menschen Existenzbeweis – als wären sie nicht in der Lage gewesen, sich selbst zu spüren, solange ihnen nichts wehtat! Jahrhunderte lang hat man die Schwäche angebetet, man hat sie sogar zum Kern einer Weltreligion erhoben. Man kniete vor dem Bild eines magersüchtigen, bärtigen Masochisten [...] Um die Gesundheit aller sicherstellen zu können, war es nötig, Grundrechte abzuschaffen und die individuelle Freiheit einzuschränken. Das zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland eingeführte Rauchverbot in öffentlichen Räumen gilt nun überall. Ebenso untersagt ist der Konsum von Alkohol oder Drogen. Statt Tee oder Kaffee trinkt man heißes Wasser mit ein paar Spritzern Zitronensaft. Nahrung wird aus Tuben aufgenommen. Küssen ist aus hygienischen Gründen strafbar, und Ehepartner werden von einer staatlichen Zentrale nach genetischer Kompatibilität bestimmt. Zimmerpflanzen sind zwar erlaubt, aber selbstverständlich nur künstliche. Jeder Bürger trägt unter der Haut am Bizeps einen Chip, der Daten über die Körperfunktionen speichert und über Scanner ausgelesen werden kann. Das Abwasser wird durch Sensoren kontrolliert, die beispielsweise bei Spuren von Nikotin Alarm schlagen oder auch von Säuren, die darauf schließen lassen, dass jemand sich übergeben hat. Messgeräte am gesetzlich vorgeschriebenen Hometrainer halten fest, ob jeder Einzelne die im Fitnessprogramm vorgeschriebene Mindestleistung erbracht hat. Darüber hinaus muss jeder regelmäßig Schlaf- und Ernährungsberichte abgeben. Die METHODE gilt als rational und unfehlbar. Im Gegensatz zu allen Systemen der Vergangenheit gehorchen wir weder dem Markt noch einer Religion. Wir brauchen keine verstiegenen Ideologien. Wir brauchen nicht einmal den bigotten Glauben an eine Volksherrschaft, um unser System zu legitimieren. Wir gehorchen allein der Vernunft. Moritz Holl hält sich nicht an die Vorschriften. Der 27-Jährige gehört nicht zu den Revolutionären, die ein "Recht auf Krankheit" (RAK) fordern, aber er beansprucht Freiheit. Dazu gehört das Verlassen des Hygienegebiets, also das Passieren eines Schildes mit der Aufschrift: Hier endet der nach Paragraph 17 Desinfektionsordnung kontrollierte Bereich. Verlassen des Hygienegebiets wird nach Paragraph 18 Desinfektionsordnung als Ordnungswidrigkeit zweiten Grades bestraft.
Viel Zeit verbringt Moritz auf einer Waldlichtung am Fluss, die er seine "Kathedrale" nennt. Dort raucht der Freidenker, hält die Füße in das keineswegs keimfreie Wasser, angelt und verzehrt die gefangenen Fische trotz des Risikos, sich dadurch mit krankmachenden Bakterien zu infizieren. "Erst dachte ich, sie ist gar nicht da. Oder schon wieder weg. Aber sie lag am Boden. Unten rum war sie … nackt. Ich habe sie an den Schultern gerüttelt, aufgehoben und wieder hingelegt. Ganz warm und weich war sie."
Moritz alarmierte die Polizei und wartete neben der Toten auf das Eintreffen der Beamten, die seine Zeugenaussage aufnahmen. "Das Leben", sagt Moritz leise, "ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann."
Mit der Angelschnur erhängt Moritz sich im Mai 2057 in seiner Zelle. "Ich blicke auf eine Kreuzung zwischen zwei Wegen", sagt Mia. "Der eine Weg heißt Unglück, der andere Verderben. Entweder ich verfluche ein System, zu dessen METHODE es keine vernünftige Alternative gibt. Oder ich verrate die Liebe zu meinem Bruder, an dessen Unschuld ich ebenso fest glaube wie an meine Existenz." Hin- und hergerissen und um ihren Bruder trauernd, vernachlässigt Mia die Reinigung ihrer Wohnung, das Fitnessprogramm und die Meldepflichten. Ein paar Wochen nach Moritz Holls Suizid wird seine Schwester deshalb vom Gericht vorgeladen. Die Richterin Sophie, die etwas jünger ist als Mia, strebt keine Prozesseröffnung an. "Frau Holl. Weniger schön, dass ich Sie vorladen musste. Sie hätten freiwillig zum Klärungsgespräch kommen sollen. Jetzt ist es eine Anhörung." Sophie rät zu einer Psychotherapie, aber Mia glaubt, selbst mit ihrer Trauer und ihrer inneren Zerrissenheit fertigzuwerden, wenn man sie nur in Ruhe lassen würde.
"Ich hielt meinen Schmerz für eine Privatangelegenheit."
Mia beteuert, keine Anti-Methodistin zu ein. Schließlich verzichtet die Richterin darauf, eine Hilfsmaßnahme anzuordnen und belässt es bei einer offiziellen Verwarnung. "Das ist keine Güteverhandlung mehr", zischt sie. "Kein Klärungsgespräch. Auch keine Anhörung. Das, Frau Holl, ist ein Strafprozess." Weil Mia sich um Kopf und Kragen redet, setzt Sophie die Verhandlung aus und bestellt den jungen Rechtsanwalt Dr. Lutz Rosentreter als Pflichtverteidiger der Angeklagten. Dem "Vertreter des privaten Interesses" steht der Staatsanwalt Bell als "Vertreter des staatlichen Interesses" gegenüber. Im Mandantengespräch versucht er Mia zu beruhigen: "Das hier", beginnt er von Neuem und umfasst den Raum mit einer weiten Armbewegung, "dürfen Sie nicht so ernst nehmen. Das sind Abläufe. Procedere. Bürokratische Verfahren, die durch bestimmte Verhaltensweisen wie auf Knopfdruck in Gang gesetzt werden. Das hat mit Ihnen persönlich nicht viel zu tun."
Aggressive Anträge des Verteidigers veranlassten das Gericht, eine verhältnismäßig hohe Strafe zu verhängen; Mia wird zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Dadurch erreicht Rosentreter, was er wollte: öffentliche Aufmerksamkeit. In der Hauptverhandlung vor großem Publikum beantragt er "die Einführung von verfahrensrelevantem Material aus der Sache Moritz Holl in den vorliegenden Prozess", und als Sophie arglos zustimmt, löst er einen Justizskandal aus. Er führt aus, dass Moritz Holl im Alter von sechs Jahren an Leukämie erkrankt war und eine Knochenmarkspende erhalten hatte. Aufgrund der Stammzelltransplantation hatte Moritz Holl dieselbe DNA wie der Spender Walter Hannemann, der Sibylle Meiler mutmaßlich vergewaltigte und ermordete.
"Frau Holl, kann die METHODE, wenn sie mit derartigen Fehlern behaftet ist, noch als legitim gelten?" Rosentreter begleitet sie nach Hause, um den Sieg mit ihr zu feiern. Er öffnet eine Flasche Champagner und trinkt zum ersten Mal in seinem Leben Alkohol. Eindringlich rät er seiner Mandantin, sich aus der Öffentlichkeit fernzuhalten, bis Ruhe eingekehrt ist. "Keine Interviews", verkündet Rosentreter. "Keine Fernsehauftritte. Möglichst wenig in der Öffentlichkeit erscheinen. Wozu gibt es Lieferservice, Boten und Telekommunikation? Du, Mia, wirst am besten für eine Weile das Haus nicht verlassen." Mias Dilemma ist gelöst. Ihr Gefühl, dass Moritz unschuldig gewesen sei, war richtig, und die Übereinstimmung der DNA-Proben ließ sich im Einklang mit den Naturgesetzen klären. Aber sie begreift, dass es nicht genügt, an einen Menschen zu glauben. "Es reicht nicht einmal, von seiner Unschuld zu wissen. Es geht darum, sich mit ganzem Wesen zu ihm zu bekennen." Um sich öffentlich zu Moritz zu bekennen und die METHODE anzuprangern, ruft sie den Journalisten Heinrich Kramer an, einen ebenso fanatischen wie intellektuellen und höflichen Vorkämpfer der METHODE und Autor des Standardwerks "Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation". Ihm diktiert sie ihr Pamphlet. Sie entzieht dem Staat, der Gesellschaft und sich selbst das Vertrauen.
Ich entziehe einer Gesellschaft das Vertrauen, die aus Menschen besteht und trotzdem auf der Angst vor dem Menschlichen gründet. Ich entziehe einer Zivilisation das Vertrauen, die den Geist an den Körper verraten hat. Ich entziehe einem Körper das Vertrauen, der nicht mein eigenes Fleisch und Blut, sondern eine kollektive Vision vom Normalkörper darstellen soll. Ich entziehe einer Normalität das Vertrauen, die sich selbst als Gesundheit definiert. Ich entziehe einer Gesundheit das Vertrauen, die sich selbst als Normalität definiert. Ich entziehe einem Herrschaftssystem das Vertrauen, das sich auf Zirkelschlüsse stützt. Ich entziehe einer Sicherheit das Vertrauen, die eine letztmögliche Antwort sein will, ohne zu verraten, wie die Frage lautet. Ich entziehe einer Philosophie das Vertrauen, die vorgibt, dass die Auseinandersetzung mit existentiellen Problemen beendet sei. Ich entziehe einer Moral das Vertrauen, die zu faul ist, sich dem Paradoxon von Gut und Böse zu stellen und sich lieber an "funktioniert" oder "funktioniert nicht" hält. Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle des Bürgers verdankt. Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat. Ich entziehe einer METHODE das Vertrauen, die lieber der DNA eines Menschen als seinen Worten glaubt. Ich entziehe dem allgemeinen Wohl das Vertrauen, weil es Selbstbestimmtheit als untragbaren Kostenfaktor sieht. Ich entziehe dem persönlichen Wohl das Vertrauen, solange es nichts weiter als eine Variation auf den kleinsten gemeinsamen Nenner ist. Ich entziehe einer Politik das Vertrauen, die ihre Popularität allein auf das Versprechen eines risikofreien Lebens stützt. Ich entziehe einer Wissenschaft das Vertrauen, die behauptet, dass es keinen freien Willen gebe. Ich entziehe einer Liebe das Vertrauen, die sich für das Produkt eines immunologischen Optimierungsvorgangs hält. Ich entziehe Eltern das Vertrauen, die ein Baumhaus "Verletzungsgefahr" und ein Haustier "Ansteckungsrisiko" nennen. Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst. Ich entziehe jenem Idioten das Vertrauen, der das Schild am Eingang unserer Welt abmontiert hat, auf dem stand: "Vorsicht! Leben kann zum Tode führen."
Durch das von Heinrich Kramer veröffentlichte Pamphlet wird Mia zur Identifikations- und Integrationsikone von Widerstandsbewegungen. Es dauert nicht lang, bis ein SEK des Methodenschutzes Mias Wohnungstür aufsprengt, sie mit einer Injektion betäubt und festnimmt. "Es gibt keine Anklage, Mia. Auf dem Haftbefehl steht Suizidgefahr."
Zehntausende demonstrieren für Mias Freilassung. Dann spricht er im Ton einer Radioreportage. "Dem Methodenschutz ist es gelungen, Moritz Holl als Anführer einer Widerstandszelle zu identifizieren, die unter dem Namen Die Schnecken agiert. Man traf sich regelmäßig am Flussufer im Südosten der Stadt – nach dem Geheimcode der Gruppe in der Kathedrale." Nachdem er Mia darüber informiert hat, dass Walter Hannemann sich inzwischen das Leben nahm, liest er ihr ein vorbereitetes Geständnis vor. "Passen Sie auf, es geht los. – Den Plan habe ich, Mia Holl, gemeinsam mit meinem Bruder entwickelt. Er war ebenso einfach wie genial. Hannemann beging den Mord an Sibylle. Wie wir es vorhergesehen hatten, wurde das Verbrechen aufgrund einer DNA-Probe meinem Bruder angelastet. Moritz war von der Idee besessen, als Märtyrer im Kampf gegen die METHODE zu sterben. Überhaupt gehört es zur Ideologie der Schnecken, den Freitod als Garant der persönlichen Freiheit zu betrachten. Nach seiner Verurteilung beging Moritz im Gefängnis Selbstmord. Dabei habe ich ihm geholfen. [...] Auf diese Weise verursachten wir einen Justizskandal, der die METHODE in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Nach Moritz' Tod habe ich die Führung der Schnecken übernommen. Das ist sein Vermächtnis. Zum gegenseitigen Schutz sind mir die meisten Mitglieder der Gruppe nach wie vor unbekannt. In der Kathedrale treffe ich regelmäßig eine Mittelsperson, die unter dem Decknamen Niemand auftritt."
Sophie wurde in ein Amtsgericht in der Provinz versetzt. Ihr Nachfolger, Richter Hutschneider, ist um die 60 Jahre alt. Auf den Fall Mia Holl hätte er gern verzichtet. Er fürchtet die Rebellen und beabsichtigt nicht, den Helden zu spielen. Um weder sich noch Familienangehörige in Gefahr zu bringen, handelt er strikt nach Vorschrift, ohne sich um eine Aufdeckung der Wahrheit zu bemühen.
"Niemand", sagt er [Hutschneider]. "Erkennen Sie diese Frau?"
Bei seinem nächsten Besuch im Gefängnis teilt Lutz Rosentreter seiner Mandantin mit, dass das Höchste Methodengericht die inzwischen eingereichte Klage abgewiesen habe, man das Verfahren also fortsetzen werde. Er überbringt noch eine weitere schlechte Nachricht: Bei einer ordnungsgemäß durchgeführten Hausdurchsuchung wurden in Mias Wohnung Nahrungsmitteltuben sichergestellt, mit ihren Fingerabdrücken und gefüllt mit 50 Gramm Botulinum-Bakterienkulturen. Damit hätte man das Trinkwasser des ganzen Landes vergiften können. Mia begreift, warum Kramer ihr Nahrungsmitteltuben in die Zelle mitgebracht hatte. Wie gewünscht, schiebt Rosentreter eine lange Nadel durch ein Loch in der Glasscheibe, ohne dass der Aufsichtsbeamte es mitbekommt. "An den technischen Details hat sich wenig geändert. Da funktioniert im Wesentlichen alles wie vor fünfzig Jahren. Man stellt Sie auf eine Kiste, nackt, versteht sich, und zieht Ihnen eine schwarze Kapuze über den Kopf. An Ihren Fingern, Zehen und primären Geschlechtsteilen werden Kontakte befestigt, Wäscheklammern nicht unähnlich." Er öffnet und schließt die Finger, als würde er solche Klammern betätigen. "Die Stromstärke wird stufenlos hochgefahren. Zwei gut ausgebildete Ärzte vom Universitätsklinikum sorgen dafür, dass Sie nicht … draufgehen."
Mia bleibt vor und während der Folter standhaft. Danach liegt sie zusammengekrümmt auf dem nackten Fußboden ihrer Zelle und wird immer wieder von Spasmen geschüttelt. "Stellen Sie sich vor, ich habe mir diese Nadel extra beschafft, um Sie Ihnen durchs Auge ins Hirn zu schieben. So viel waren Sie mir wert. Inzwischen bin ich klüger. Die schärfsten Waffen richtet man gegen sich selbst." Sie rammt sich die Nadel zentimetertief in den Oberarm und nimmt mit schmerzverzerrtem Gesicht den blutigen Chip heraus.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Zu der langen Liste von Anklagepunkten gehören Hochverrat, die Planung eines Attentats auf die Trinkwasserversorgung und die Vorbereitung eines terroristischen Krieges. Staatsanwalt Bell beantragt die Höchststrafe, und der Verteidiger Lutz Rosentreter erklärt, er verzichte angesichts der erdrückenden Beweislage auf einen Gegentrag. Richter Hutschneider diktiert:
"Urteil in der Strafsache gegen Mia Holl, deutsche Staatsangehörige, Biologin, wegen methodenfeindlicher Umtriebe [...] Zum anberaumten Zeitpunkt wird Mia Holl fürs Einfrieren vorbereitet. Vielleicht ist es der friedlichste Moment seit Wochen. Vielleicht sogar seit Monaten. Die Liege ist bequem, der Raum sauber, die Luft klimatisiert. Man hat Mia gewaschen, massiert und gefüttert. Man hat sie in einen Neopren-Anzug gesteckt, der die Haut vor Frostschäden schützen wird. Nach ihrem letzten Wunsch gefragt, bittet Mia um eine Zigarette. Richter Hutschneider traut seinen Augen nicht, als Heinrich Kramer daraufhin lachend ein silbernes Etui aus der Tasche zieht und der Verurteilten eine Zigarette gibt. Im Protokoll vermerkt er, sie habe auf einen letzten Wunsch verzichtet. Wenige Sekunden nachdem der Deckel der Kältemaschine geschlossen wurde, fliegt die Tür auf und Bell stürmt mit der Nachricht herein, dass der Präsident des Methodenrats die Verurteilte auf Antrag der Verteidigung und Wunsch von höchster Stelle begnadigt hat. Sofort wird der Deckel wieder geöffnet. Kramer kann nicht anders, als mit dem Finger auf Mia zu zeigen. "Schauen Sie sich die Verurteilte an!", stößt er hervor, als er wieder sprechen kann. "Dieser entgeisterte Blick! Sie hat ernsthaft geglaubt, die METHODE würde Sie zur Märtyrerin machen. Dabei schenken nur unfähige Machthaber dem nervösen Volk eine Kultfigur. Jesus von Nazareth, Jeanne d'Arc – der Tod verleiht dem Einzelnen Unsterblichkeit und stärkt die Kräfte des Widerstands. Das wird Ihnen nicht passieren, Frau Holl. Stehen Sie auf. Ziehen Sie sich an. Gehen Sie nach Hause. Sie sind …" Noch einmal kehrt der Lachanfall zurück. "Frei!" Wirklich freigelassen wird Mia jedoch nicht.
"Psychologische Betreuung", sagt Bell zu Hutschneider. "Bestellen einer Aufsichtsperson. Unterbringung in einer Resozialisierungsanstalt. Medizinische Überwachung. Alltagstraining. [...] Vertrauensbildende Maßnahmen. Politische Bildung. Methodenlehre." |
Buchbesprechung:
Bei "Corpus Delicti. Ein Prozess" handelt es sich um eine in naher Zukunft spielende Dystopie von Juli Zeh über einen utilitaristischen Überwachungsstaat nach dem Motto "Mens sana in corpore sano". Um die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland sicherstellen zu können, hat man Grundrechte abgeschafft und die individuelle Freiheit massiv eingeschränkt. Ein Fitness-Programm, persönliche Hygiene und die Vermeidung von Gesundheitsrisiken gehören nicht nur zu den staatsbürgerlichen Pflichten, sondern deren Einhaltung wird auch streng überwacht, und Zuwiderhandlungen stehen unter Strafe.
"Ich war nicht mit dir, sondern mit deiner Erscheinung befreundet", sagt Mia.
Der Name Mia Holl ähnelt dem der Gastwirtin Maria Holl (1549 – 1634) in Nördlingen, die wegen angeblicher Hexerei angeklagt wurde. Weil sie trotz 62-facher Folterung kein Geständnis ablegte, wurde sie am 11. Oktober 1594 freigesprochen. Der Fanatiker Heinrich Kramer heißt ebenso wie der Autor des 1486 in Speyer veröffentlichten Werkes "Hexenhammer" ("Malleus Maleficarum"). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Juli Zeh: Adler und Engel |