Die Nächte explodieren in den Städten - der Expressionismus als Gesamtkunstwerk auf der Mathildenhöhe
Die Dame an der einzigen Kasse war völlig überfordert – die Schlange der Eintrittsuchenden wand sich bis vor die Museumstore; ein Andrang, wie er selten ist auf der Mathildenhöhe in Darmstadt. Das “Gesamtkunstwerk Expressionismus” stösst auf großes Interesse: erstmals werden Werke und Quellentexte aus allen künstlerischen Disziplinen zu einem Panorama zusammengeführt; aus Film und Architektur, von Bühne und Tanz, Gemälde, Grafik, Skulptur und Plakatkunst und aus der Literatur finden Beispiele...
Mit luzider Klarheit und minimalistischer Deutlichkeit - Prosa geschrieben von Rudolf Kraus
„Rezensionen“ nannte der viel zu früh verstorbene Brünner Lyriker Jan Skácel seine poetischen Miniaturen, oft „malé recenze“, also kleine Rezensionen. Dabei verwendete er die Rezension in ihrer ursprünglichen Form als Musterung, als genaue Betrachtung, und Jan Skácel musterte und betrachtete die ganze Welt. Eine seiner Musterungen nannte er „Rezension über die Wahrheit“: „Vladimír Pazourek, der Bücher schreibt, ins Dampfbad geht und Fußball spielt, kam vor kurzem, um mir mitzuteilen, dass heutzutage soviel getrunken wird...
Sex im Jenseits und ein Barmusiker der Johannes heest - neue Prosa von Wolfgang Fienhold
Wolfgang Fienhold hat wieder zwei kleine aber feine Büchlein mit viel Wissen und noch mehr Humor geschrieben. Ich habe schon lange nicht mehr soviel gelacht, und das von der ersten bis zur letzten Seite. Ein paar humorvolle Seitenhiebe auf Personen aus Fienholds Bekanntenkreis machen die Lektüre für Insider natürlich noch lustiger, aber auch ohne Insiderwissen sind beide Bücher des Lesens und Schmunzelns wert. Wie der Buchtitel andeutet sind im ersten Band die ungleichen Brüder Saulus und Paulus die Hauptakteure: SAU-lus, der Schweineigel...
Zivilisationsgeruch und tanzende Haine - drei Gedichtbände der silver horse edition
Auf meinem Schreibtisch liegen drei schmale Bände der Silver Horse Edition in zurückhaltender schwarz weiß Broschur. Der Nährwert des Kiesels (Christa Wißkirchen), Fremdglanz über dem Teich (Monika Petsos) und Stillstand der Gräser (Klara Hurková). Alle Titel implizieren den Topos der Naturlyrik, und in der Tat bewegen sich die Gedichte der drei Zeitgenossinnen auf vordergründig ähnlichem Terrain, allerdings mit höchst unterschiedlichen Variablen: Themen, Duktus. Eines von Petsos‘ Mond - Gedichten bspw. ist die minimalistische...
Schluss mit der Mär der egoistischen und geldgierigen Furie - eine neue Biographie der Sofja Tolstaja
„Er lag bewegungslos, mit bereits geschlossenen Augen auf dem Rücken. Ich sprach ihm leise, voller Zärtlichkeit ins Ohr, in der Hoffnung, er könne es noch hören, daß ich die ganze Zeit in Astapowo gewesen sei und ihn bis zum Schluß geliebt habe …“. Mit diesen Worten erinnert sich Sofja Andrejewna Tolstaja in ihrem Tagebuch an die letzte Begegnung mit ihrem Mann Lew Tolstoj nach seiner Flucht von dem gemeinsamen Gut Jasnaja Poljana. Der zärtliche Ton dieser Worte...
Ein lyrisches Plädoyer gegen den sensitiven Dogmatismus - Christoph Leistens Gedichtband "bis zur schwerelosigkeit"
Kann sein, dass der erste Eindruck tatsächlich zählt: beim Bewerbungsgespräch nach einer Nacht über der Toilettenschüssel, beim Blind Date mit der in virtueller Welt kennen gelernten Weiblichkeit, bei Inaugenscheinnahme der Hundekäfige im städtischen Tierheim – angeblich ist der erste Eindruck nicht nur der bleibende, sondern mehrheitlich, ebenso wie der erste Gedanke, auch der richtige. Und wie bequem kann es sein, sich an diese Direktive zu halten und weitere, andersartige Eindrücke...
Nicht deine Brille und überall du - Erika Kronabitters Gedichte um Tod und Trauer
„Das Leben ist vom Tod nur durch einen Herzschlag getrennt. Friederike Mayröcker spricht vom Tod als einen Zerbrecher und Zerstörer, Ilse Aichinger sieht den Tod als einen ersehnten Zustand. Zwischen diese zwei extremen Zugänge zur Tatsache des Sterbenmüssens stellt die Autorin Erika Kronabitter ihre Gedanken zu Sterben und Tod als Übergänge, Ahnungen, Vorahnungen, vielleicht als Vorbereitung zum Wissen und schlussendlich Abschiednehmen, Getrenntsein und Erinnern...
Poetische Schattenspiele - DAS GEDICHT orientiert sich in den Widersprüchen der Gegenwart
Man kann den Gegensatz Licht / Schatten trivial oder elementar finden, je nach Perspektive. Aber allein dieser Gegensatz im Gegensatz sollte Grund genug sein, um einen Blick in den 18. Band der Literaturzeitschrift „Das Gedicht“ zu werfen. „Die Poesie von Licht und Schatten“ heißt das von Anton G. Leitner und Ulrich Johannes Beil edierte Werk.
„Gedichte reflektieren die Widersprüche der Gegenwart“, schreibt Ulrich J. Beil und legt damit die eigentliche Stoßrichtung des Buches fest. Wenn auch Licht und Schatten durch den ganzen...
Schön, dünn, tot und verschwunden – Bernhard Aichners Krimi-Debüt bei Haymon
Sonntag, ein kalter Januartag in einem Dorf in den Bergen, und Max Broll liegt nackt im Schnee – nicht ermordet, hinterrücks erwürgt oder erschossen seine weiße Umgebung vollblutend, wie man es vom Anfang eines Kriminalromans vermuten könnte, sondern quicklebendig und gutgelaunt nach einem Saunagang mit seiner aktuellen Ex Hanni. Die Sauna steht im Garten des hiesigen Friedhofs, gegen den Willen des Dorfpfarrers, versteht sich – der aber kann ihn mal bzw. kann ihm nichts, denn Max Broll ist Totengräber...
Der Grund für ein Gedicht - warum Christoph Meckels Poesie lebt
Es gibt in der Lyrik sehr grob betrachtet schon immer zwei Herangehensweisen. Der eine Dichter sucht und wurstelt eifernd herum, er pustet Staub auf und bastelt filigranes Zeug und läßt nichts gelten, weil das Verläßliche ihn verlassen hat im Gegenüber der Sprache, während der andere unentwegt findet, auf, im und unter dem Staub, reich wird und mitteilsam, weil ihm die Magie und das Geschlecht des Gegenüber vertraut und ein erotischer Partner geworden ist. Ob aus dem einen oder anderen ein guter Dichter wird? – in beiden...
Prägnante Bilderflut - Lyrik von Christel Steigenberger im mückenschwein Verlag
Im Stralsunder mückenschwein Verlag hat die Münchner Autorin Christel Steigenberger (43) ihren ersten Gedichtband „Stadtrandstrass“ vorgelegt. Eine Lyrik, die speziell von einer transparenten Bildhaftigkeit lebt und in rasch wechselnden Momentaufnahmen ihre Dynamik entfaltet. Auf diese Weise führt das erste Gedicht „Straßenstrass“ in eine recht trostlose Sonntagsszenerie, die mit einem offenen Fluchtimpuls endet: „Dieser Totenkopfglitzer am / Nachmittag Tortenheben als / Übersprungshandlung im eigenen / ...
Zeitworte, die gewusst sein wollten - Gedichte rund um den Krieg
Dass ein unreflektiertes Leben es nicht wert sei gelebt zu werden, heißt es bekanntlich bei Sokrates; viele Jahrhunderte später merkt Mark Twain dazu an, dass ein allzu reflektiertes Leben sich andererseits aber auch durchaus lebensverhindert auswirken könne. Wissen und Nicht-Wissen, jenes fragil-prekäre Gleichgewicht, das jeder Mensch für sich ausbalancieren muss, wird für den Schriftsteller zu der Herausforderung schlechthin. Ob er es will oder nicht, ob es ihm bewusst ist oder nicht, sein Material ist das Leben...
In mir entstand eine ungekannte Dünung - Prosa von Jean-Pierre Abraham
Von manchen Büchern wird gesagt, sie seien „so wunderschön melancholisch“ – und Melancholie passe außerdem wunderbar zum Herbst – wobei das Prädikat „so wunderschön melancholisch“ buchstäblich die innere Haltung des Lesers benennt und somit einen Wunsch offenbart: den Genuss am Schwermütigen. Jean-Pierre Abrahams Prosawerk könnte für Leser, die sich poetische Bücher mit einem Tropfen Schwermut wünschen, genau das richtige Buch sein. 1967 in Frankreich erschienen, besitzt Der Leuchtturm in klarer...
Das schleichende Ende einer Welt - der lange Fluß des Yangtze
Surreal wirkt die Szenerie, die der britische Fotograf Nadav Kander am chinesischen Jangtse, dem längsten Fluss Asiens, eingefangen hat. In einer geradezu trügerischen Idylle sitzt eine Gruppe junger Chinesen unter den tragenden Pfeilern einer Schnellbahn an einem Tisch. Der Untergrund, auf dem sie sich niedergelassen haben, besteht aus Geröll und Plastikmüll. Dennoch sitzen sie sich entspannt, ja fast freudig erregt gegenüber, wie bei einem Familienausflug in die grüne Natur. Keine drei Meter neben ihnen fließt nicht nur der größte, sondern auch...
Philosophie des Seinsollens – Gerhard Schweppenhäusers Einführung in die Kritische Theorie
Im April 2010 wurde die Reclam-Reihe Grundwissen Philosophie um einen neuen Band erweitert. Die Rede ist von Gerhard Schweppenhäusers Einführung in das analytische Denken der Frankfurter Schule, die unter dem Titel Kritische Theorie erschien. Sie umfasst 140 Seiten, ist für wohlfeile 9,90 Euro im Handel erhältlich und geht, wie schon der im Piet-Mondrian-Stil gehaltene Umschlag verspricht, auf Kernthesen, Schlüsselbegriffe sowie historische Kontexte ein. Für dieses Buchprojekt bot sich der Autor, seines Zeichens Professor...
Der springende Punkt und der Knackpunkt – Achleitner liest
Friedrich Achleitner, einerseits Architekt und andererseits Mitglied der legendären „Wiener Gruppe“, hat bereits früh Dialektgedichte geschrieben, die aber nicht so sehr wahrgenommen wurden wie jene von H.C. Artmann, obwohl er 1959 in „hosn rosn baa“ vertreten war. „obdaennsa“ („ob der Enns“), oberösterreichisch und lapidar, geschult an der Konkreten Poesie, spielt er mit dem Klang der Sprache, Jandl liegt nicht allzu fern, negiert den Herrn Duden seine Regeln, womit er in seiner Heimat gewiss nicht der einzige ist, ganz im Gegenteil...
Dasein, wie es sich hineinmalt in die Welt - der Naturalismus in einer Ausstellung in Amsterdam
Van Gogh verteilte nicht nur sein Hab und Gut unter Minenarbeitern und hat versucht die Realität der Arbeiterfamilien zu begreifen, irgendwann begann er sie auch zu zeichnen, war fasziniert von der menschlichen Tiefe, die Armut in die Menschen hineinzoomt, hat zunächst Dickens, dann Zola und die Brüder Goncourt gelesen. Er kaufte sich billige s/w Drucke von naturalistischen Malern, weil sie ihn – im Gegensatz zur akademischen Malerei – tatsächlich inspirierten. Er schrieb darüber seinem Bruder Theo: “Scheinbar ist nichts einfacher...
Auf die Bretter, Ihr Philologen! Eine metaphorische Verhaltenslehre über das Bewegen in Informationsfluten
Die Monographie der Literatur- und Medienwissenschaftler Matthias Bickenbach und Harun Maye verfolgt ein doppeltes Ziel: Zum einen soll die Studie zeigen, wie das Verständnis und der Umgang des Mediums Internet wesentlich von der Metapher des Wellenreitens bestimmt sind. Ihre medienmetaphorischen Beobachtungen führen die Autoren auf eine lange literarische Tradition nautischer Metaphern zurück, die seit jeher für einen kühnen Umgang mit Wissen eingestanden habe. Zum anderen erheben die Autoren damit einen bildungspolitischen Anspruch...
Deutliche Texte und Widerspruchsgeist - Neue deutsche Aphorismen
Es ist gerade zu Ende gegangen – das 4. bundesweite Aphoristiker-Treffen in Hattingen. Es stand unter dem Thema „Gedanken-Übertragung“ und stellte folgende Fragen: „Wie kommt der Aphorismus von einer Sprache in die andere? Was verliert er beim Übertragungsvorgang nach innen? Was gewinnt er nach außen?” Und weiter: “Wie und warum kommt der Gedanke zu (s)einem Bild?”. Im Stadtmuseum trafen sich über 30 Teilnehmer zu Vorträgen, Workshops und zur abendlichen Aphorismus-Karawane...
Dialekt-Blues aus Franken ohne Gelaber - Fitzgerald Kusz auf CD
Der Nürnberger Dialekt-Dichter und Dramatiker Fitzgerald Kusz hat sich mit zwei Musikern zusammengetan – dem Gitarristen Klaus Brandl und dem „Harp- (vulgo Mundharmonika) Virtuosen“ Chris Schmitt –, um eine CD einzuspielen. Das war eine grandiose Idee. Die kräftige Stimme vom Fitzgerald Kusz eingebettet in Blues. Der haut rein. Keine Lieder, wo man/frau dann und wann etwas vom Text mitbekommt, die Gedichte stehen hingegen im Vordergrund. Zuhören ist angesagt! Fast minimalistisch kommt Fitz daher, kein Gelaber, kurz und präzis...
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