Das Dilemma bleibt – Senek Rosenblum war „Der Junge im Schrank“
Ungefähr ein Viertel der Todesopfer des Holocaust waren Kinder. Weil sie Hunger und Strapazen weniger gewachsen, auf Erwachsene angewiesen und als Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft meist nicht tauglich waren, waren ihre Überlebenschancen schlecht, ganz besonders in Polen. Von einer Million jüdischer Kinder im Vorkriegspolen lebten dort am Kriegsende noch etwa 5.000, also ein halbes Prozent. Einige werden mit den Eltern in die Sowjetunion entkommen sein, aber mit Sicherheit waren das...
Wer den Rhythmus kennt, hat keine Eile - Marrakesch in Bild und Ton
„Djemaa el Fna“ (Platz der Geköpften) der zentrale Platz von Marrakesch ist mehr als nur ein einfacher Platz. Morgens, wenn man aufsteht und sich in der bereits lähmenden Sonne aus seinem Hotel quält, kann man an einem der unzähligen Erfrischungsstände inmitten der Djemaa el Fna einen frischgepressten Orangensaft im Stehen zu sich nehmen und sofort geht eine wirkliche Sonne auf und es ist keine Capri-Sonne, sondern der Saft von drei spritzigen, marokkanischen Orangen, die in der Kühle der Nacht...
Von der Inneneinrichtung der Sprache – Aufsätze von Norbert Lange bei Reinecke & Voß
„Die lyrischen Palimpseste Norbert Langes werden tiefe Spuren hinterlassen in der Lyrik des 21. Jahrhunderts.“ hat Michael Braun über die Gedichte von Norbert Lange geurteilt, der mit „Rauhfasern“ 2005 ein beachtenswertes Debüt hingelegt hatte. Mara Genschel schrieb seinerzeit: „In seinem ersten Gedichtband wetzt Norbert Lange gehörig an den altehrwürdigen Wänden und gelangt zu Schichten, Rissen, Fasern, die in ihrer spröden, dringlichen Schönheit freizulegen sicher nicht möglich wäre ohne eine listige...
Aufräumarbeiten am romantischen Mythos: Chatterton und seine Fälscher
Selten hat eine Figur der Literaturgeschichte die Biographen in solchem Maß zu kreativen Spekulationen gereizt, wie der 1752 in Bristol geborene und am 24.8.1770 in London an einer Überdosis Arsen gestorbene Thomas Chatterton. Diesem Phänomen biographischer Willkür sucht der jüngst erschienene Band Chatterton oder Die Fälschung der Welt von Jürgen Heizmann nachzuspüren. Dabei fasst der Autor die Grenzen seiner biographischen Darstellung bisweilen sehr weit, beleuchtet er doch in den 18 Kapiteln sowohl die Stadtgeschichte...
Das Herz ist ein Berg ist ein See - Cornelia Schmerle erschafft „In Pulsen“ eine sinnliche Sprachwelt
Das Herz gibt den Takt vor, der Puls zeichnet ihn nach. So verstanden ist der Puls ein Seismograph für unser Befinden, ein Morsecode für Gefühle. Auch die Gedichte Cornelia Schmerles sind codierte Abbilder von Gefühlszuständen. Außenwelt findet Eingang in die inneren Landschaften der Dichterin, die sprachlich gestaltet werden. Folgerichtig nennt Cornelia Schmerle ihr literarisches Debüt „In Pulsen.“ Der Band aus dem jungen Berliner Verlagshaus J. Frank enthält Gedichte, die kein...
Tunnelblick –Thomas Metzingers „Ego-Tunnel“ erklärt ein Ich, das es nicht gibt
Der Neuroethiker Thomas Metzinger von der Universität Mainz gehört zu den Vertretern der Philosophie des Geistes, die sich von der Hirnforschung grundlegend neue Erkenntnisse für ihre Disziplin versprechen. Der „Ego-Tunnel“ ist sein erstes Buch für ein breites Publikum, in dem er aufzuzeigen versucht, wie die Hirnforschung eine neue Bewusstseinsphilosophie und infolgedessen auch -ethik erforderlich macht. Das Buch erschien zunächst in englischer Sprache und wurde vom Verfasser und Thorsten Schmidt ins Deutsche rückübersetzt...
Es sind viele Stimmen in der einen – Der Dichter Jürgen Dziuk
Jürgen Dziuk kennt – man verzeihe mir die Direktheit – keine Sau. Und das ist traurig. Zwar ergeht es den meisten Dichtern so, da keine Sau mehr Lyrik liest (ausgenommen Klings 300), aber Dziuk ist wirklich nur einem winzig kleinen Kreis bekannt. Und vermutlich wäre er selbst das nicht, hätten nicht Axel Sanjosé und Richard Drove sich intensiv, mühe- und liebevoll durch seinen Nachlass gewühlt...
Auf der Spur des Glücks – mit einem Kinderbuch von Uli Rothfuss
Alle hundert Jahre kommt ein Elch von weit her aus den Sümpfen zu jenen Kindern, die ihn gerufen haben. Nämlich zu jenen Kindern, die seiner Hilfe bedürfen. Pedro, dessen Eltern vertrieben wurden, weil sie eine andere Sprache gesprochen haben. Auch Pedro wird nicht mehr erlaubt, seine Sprache zu sprechen. Der Elch nimmt Pedro mit, auf seinem Rücken geht es durch Wälder und über Berge. Nach einer langen Wanderung treffen sie auf Alissa. Das schwarzhaarige Mädchen hat ihre Eltern verloren, ein Bürgerkrieg hat ihr Dorf und ihr Haus zerstört...
Verwundbare Augen geöffnet: der Gedichtband "Kopfüber" von Gisela Noy
"... die verwundbaren Augen/ nicht öffnen! Nicht öffnen!" heißt es in einem der Gedichte - ein Vorsatz, so verständlich wie vergeblich. Denn es ist natürlich nicht Aufgabe der Dichterin, die Augen geschlossen zu halten, sondern auch da noch zu sehen, wo man lieber wegsehen möchte. Etwa an Rändern der menschlichen Existenz, wovon Gedichttitel zeugen wie "Asyl", "Geschlossene Abteilung" "Beobachtung auf Intensivstation". Auch im Gestrüpp menschlicher Beziehungen und angesichts mancher Absurditäten...
Speziell und orientalisch – und trotzdem zuverlässig hier. Axel Monte verlegt Florian Vetsch’s Notizen aus Marokko
Aus den Rif-Bergen fließt das Kif in die Gassen von Tanger und überschwemmt die Hirne europäischer Literaten. „Naked Lunch“ ist hier entstanden und Burroughs hat selbst beteuert, er wisse nicht mehr wie. „Paul“ hat hier gelebt, wie man ihn in Tanger nannte und als den man ihn kannte – Paul Bowles kam 1931 ins Land und dann immer wieder. Irgendwann strandete er in Tanger und hat wundervolle Bücher geschrieben. Sofern man sich nicht in die steifen Korsetts des literarischen Bin-so-schlau-Kopfkinos einschnürt...
Ostwärts verschwunden ins sibirische Anderland – "Der Neuling" von Michael Ebmeyer
Drei aus Zeit und Raum gefallene Menschen treffen an einem Ort aufeinander, an dem es nicht nur eine Realität gibt, sondern viele. Matthias Bleuel, Logistiker aus Stuttgart besucht eine Filiale seiner Firma im für ihn entlegensten Winkel der Welt: Kemerowo, eine Stadt im Westen Sibiriens. Die Reise ist für ihn eine Flucht, vor der Leere, welche die Scheidung von seiner Frau in ihm zurückgelassen hat, aber auch eine Flucht vor sich selbst. Er flieht in die Fremde, weil er sich fremd geworden ist. Bleuel ist ein Quergeher...
Wagner, Lacan und die Liebe im Zeitalter der Metastasen – sechs erotisch-politische Versuche von Slavoj Žižek
„Six Essays on Woman and Causality“ heißt der Untertitel dieses grandiosen Meisterwerkes aus der Feder des wohl derzeit größten lebenden Philosophen aus Slowenien. Slavoj Žižek versteht es auch in vorliegendem Werk, das in Erotik (Teil I) und Politik (Teil II) gegliedert ist, aufs Neue Alltagsphänomene und Popkultur mit hochgeistigen philosophischen und psychoanalytischen Diskursen zu verknüpfen. Dass sich Zizek auch in dieser Ausgabe...
Blues in Wörtern und Weisen der Verwirrung – neue Gedichte von Kersten Flenter
Geschichten vom Überleben in den Städten im Rhythmus der Straßen ... Asphalt Beat – dermaßen politisch korrekt prangte es auf dem Rücken der im Frühjahr 1994 im Isabel-Rox-Verlag erschienenen Anthologie "Asphalt Beat". Social Beat, jene von den amerikanischen Beat-Autoren entlehnte und im weitesten Sinne literarische Bewegung, die das Durchbrechen der Hochkultur und den Einzug der handfesteren Texte in Kneipen und sonstigen Alltag propagierte, war kurz zuvor geboren worden...
Erzählen auf der Grenze zwischen Licht und Schatten – Georg Kleins „Roman unserer Kindheit“
Die Kindheit ist ein magischer Zeitraum – obwohl oder gerade weil sie sich in einer Zwiespältigkeit präsentiert wie kaum eine andere Lebensperiode. Sie gilt als Phase naturgegebener Unschuld, die in engelsgleichen Kindergesichtern und den dahinterliegenden Hirnen sitzt. Der andere Pol ist ihre Interpretation als ein Zustand, in dem vor aller gesellschaftlicher Prägung nicht die natürliche Unschuld dominiert, sondern das wilde Böse der Kreatürlichkeit. Das starke Tier überlebt...
Wie poetisch Wildheit des Denkens spricht – im Fahrtwind von Günther Kaip
Ein Meister der gnomischen Form legt dem Publikum eine neuerliche Probe seines Könnens vor. Diese mit dem Untertitel Miniaturen versehene jüngste Sammlung von Prosagedichten überrascht den uneingeweihten und also mit der Kaip'schen Kurzprosa nicht vertrauten Leser schon im allerersten Stück, das vielsprechend ankündigt: "Heute erträumen sich die Jahre klarer ihr Leben." Wer so anhebt, weckt Neugier, regt zur Suche nach einer Geschichte an, die allerdings nie beginnt. So verführerisch die vom Autor erdachten Bilder...
Ein Mozzer gibt Auskunft zu Leben und Werk - Len Brown "Im Gespräch mit Morrissey"
Oft spürt man instiktiv, dass man just etwas Bedeutsames in den Händen hält, etwas, das einen wichtigen Platz auch im eigenen Leben einnehmen wird, ein Buch, eine Platte. So war das beim Album "Low" von David Bowie beispielweise, bei "Big Science" von Laurie Anderson, den beiden LPs der Nina Hagen Band - Beispiele für Produktionen, die seinerzeit geeignet waren, meine Sozialisation auf musikalischem Gebiet umzulenken und voranzutreiben. Auch das selbstbetitelte, 1984 erschienene Debüt-Album der Smiths...
Das Zerrbild ist Teil unsrer Sprache – Skeptische Prosa von Johannes Weinberger
"Ich hätte gerne einen Mundvoll Hornissen, sage ich. [...] Was? Bitte eine Handvoll Rosinen. Ah, macht er, und sein Gesicht hellt sich dankbar auf, Rosinen wünschen der Herr also! Nein, einen Mundvoll Hornissen möchte ich, bitte, danke, entgegne ich."
Der Leser runzelt die Stirn, hält überrascht und amüsiert inne, liest kopfschüttelnd weiter. Johannes Weinberger schildert diese unerhörte Begebenheit so ungerührt, als geschähe solches jeden Tag...
Anders, jedenfalls – und das will man auch so. Beispielsweise „Frenetische Stille“ von Ron Winkler
Nach seinem eigentlichen, erfolgreichen Debüt mit „vereinzelt Passanten“, das 2004 beim Newcomer-Verlag kookbooks erschien, und dem Band „Fragmentierte Gewässer“ (2007, Berlin Verlag) legt Ron Winkler nun in konsequenter Weiterführung seiner bisherigen Arbeiten mit „Frenetische Stille“ bereits seinen dritten Gedichtband vor. Der 1973 in Jena geborene Winkler gehört zu einer jüngeren Lyrikgeneration, die dieses Genre mit neuen Ideen tüchtig aufgemischt haben. Dies gilt sowohl für formale und inhaltliche...
Kult und Generation – rastlos im Diesseits unterwegs mit F. Scott Fitzgerald
„Diesseits vom Paradies“ ist ein Entwicklungsroman in doppeltem Sinne. Der erstmals 1920 erschienene Roman, der den erst 23-jährigen Autor über Nacht berühmt gemacht haben soll, ist eigentlich gar kein Roman im herkömmlichen Sinne. Fitzgerald musste die Rohfassung des Romans zweimal für den Verlag umarbeiten, allerdings hatte man ihm die Veröffentlichung unter dieser Bedingung auch schon zugesichert. Das Bemerkenswerte aber ist, dass man trotzdem noch merkt, wie unfertig der junge Autor ist und...
Scheinbar ungesteuert nach irgendwohin – Drift von Judith Gruber-Rizy
Komplizierte Vorgänge brauchen eine komplexe Darstellungsweise, und was ist als Stoff üppiger als das Leben? Judith Gruber-Rizy hat in ihrem Roman drei Vorgänge des Lebens im Auge und daher auch in jedem Abschnitt mindestens drei erzählerische Zugänge. Einmal geht es um die Drift, ein Phänomen, wo etwas scheinbar ungesteuert irgendwohin driftet, zum anderen geht es um die Verlässlichkeit von Erinnerung, und zum dritten geht es um das wahrhaftige Schreiben...
weitere Beiträge: