Sicherheit ist im Tanz der Zeiten keine Größe – auch nicht im nachgelassenen Roman „2666“ von Roberto Bolaño
Die fünf Bücher, die mich geprägt haben, sind in Wirklichkeit fünftausend. Ich will die folgenden nur als Speerspitze nennen: "Don Quichotte" von Cervantes, "Moby Dick" von Melville. Die gesammelten Werke von Borges, "Rayuela. Himmel und Hölle" von Cortázar, "Ignaz oder die Verschwörung der Idioten" von Toole. Ich sollte auch "Nadja" von Breton erwähnen; die Briefe von Jacques Vaché. "König Ubu" von Jarry; "Das Leben Gebrauchsanweisung" von Perec. "Das Schloss" und "Der Prozess" von Kafka...
Anspiel im Spiel – Metaphernlyrik von Marcus Poettler
Erkennt man einen guten Gedichtband am Titel? Angesichts der ersten Buchpublikation des jungen Grazer Autors: sicher! Poettlers Erstling ist ein beachtenswertes Beispiel stilsicherer zeitgenössischer Metaphernlyrik.
Angesiedelt sind diese durchwegs kurzen Texte in verschiedenen geographischen Regionen der Erde, was manchmal an lyrische Reisenotizen denken lässt. Küstenlandschafen, vor allem mediterrane, scheinen hier eine besondere Rolle zu spielen. Momente...
Was bleibt, ist das Weitergehen – und die Prosa des Flaneurs Wolfgang Hermann
„Die Orte, durch die ich gehe“, schreibt der Vorarlberger Schriftsteller Wolfang Hermann, „erfüllen mich mit ihrer Schwere, ihrer Trägheit, geben mir die Leere, das Stummsein oder die Redseligkeit, im schlimmen Fall die Geschwätzigkeit, die mich traurig zurücklässt.“ Er streift durch die Buttes Chaumont von Paris und resümiert über die Städte, in denen er gelebt hat, und die ihn verändert hätten. Auch über die Abschiede von diesen Orten, die das Erleben umso intensiver gemacht hätten, etwa wenn er frühmorgens Koffer packen und zum Flughafen musste...
Das Gespürte ist das Muster der eigenen Zeit – Friedrike Mayröckers Gedichte 2004-2009
Können Verse so schnell sein wie das Denken? Welten, Blicke, Momente, Landschaften – in ein paar Sekunden jahrelang gedacht, jeder kennt das. Aber bei wem haben wir so etwas je eins zu eins gelesen? Ich fand es zum Beispiel in "Repetition EJ" aus Friederike Mayröckers jüngstem Lyrikband: ... so krank zu sehen in den Wacholderbüschen alles verweint bist/ganz in deiner Sehnsucht kontemplativ diese riesigen/Planeten habe Ähnlichkeit mit toter Tante wenn am Morgen ich/in den Spiegel schaue lachsfarbene Schatten weil/glänzende Täler zwischen mächtig ragenden/Bergen...
Aufgespaltene Worte sind wie neue Brücken – im Wortreich von Dine Petrik
Wie der Titel suggeriert, entfaltet sich Petriks Lyrik im Spannungsfeld von Offenheit und Diskretion, überraschender Hingabe an den Leser und Rückzug in die Innenwelt der Wörter, auf welche die Dichterin ihren Fokus richtet. Lexeme, die sie mit ihrem poetischen Zauberstab berührt, zerfallen in ihre Bestandteile und ergeben getrennt verblüffende Sinnverschiebungen, wodurch eine parallele Lektüre ermöglicht wird. Aus dem Adverb "beinah" entstehen unter Anwendung von Petriks 'Methode' etwa "bei nah", also eine Präposition und ein Adjektiv...
Mit der Machete erzählt – Kornwolf von Tristan Egolf
Im Deutschland des Dreißigjährigen Krieges wurden Außenseiter, Deserteure und Flüchtlinge, die sich in den Feldern versteckten, Kornwölfe genannt. Der Begriff hat in älteren deutsch-amerikanischen Gemeinden bis heute überlebt. Tristan Egolf beschreibt Amerika stets von den Rändern her, dort wo der amerikanische Traum längst aufgehört hat, wo die Verkehrsverbindungen an ihr Ende kommen, wo sich eine verzopfte Gedankenwelt über Jahrhunderte ungeschoren als Desaster im religiös verwirrten Kopf halten kann...
Das runde O des Staunens – in einer „Landschaft mit Mond und Segel“ von Marianne Glaßer
Marianne Glaßer überrascht immer wieder dadurch, wie kreativ und sicher sie unterschiedliche literarische Genres angehen kann. Die im Fichtelgebirge lebende Autorin, Jahrgang 1968, schreibt Lyrik, Kurzprosa, Romane (darunter Krimis), Sachbücher und Essays. Bei all den unterschiedlichen Texten beweist sie viel Talent und eine scharfe Beobachtungsgabe. Fast immer schöpft sie dabei aus eigener Erfahrung und benutzt oft die alltäglichen Momente als Inspirationsquelle für originelle, überraschende Zeilen...
Weit geöffnete Fenster und Türen - Philippe Jaccottets Augenblicksskizzen sind Notizen aus der Tiefe
„Als ich gestern abend Schuberts letzte Klaviersonate wiedergehört habe, überraschend, habe ich mir einmal mehr ganz einfach gesagt: ‚Das ist es.’ Das ist es, was unerklärlicherweise standhält, gegen die schlimmsten Stürme, gegen den Sog der Leere; das ist es, was wahrhaftig verdient, geliebt zu werden: die zarte Feuersäule, die einen führt, selbst in der Wüste, wo es weder Grenzen noch Ende zu geben scheint.“ Auch Philippe Jaccottet selbst, der hier nach dem Anhören einer Schubert-Sonate in Verzückung geraten ist...
Schön wie eine Illusion – die Feinheit der Wahrnehmung und Gedichte von Petr Halmay
Es war der Doyen der Übersetzer aus dem Tschechischen, Franz-Peter Künzel, der 1994 anlässlich einer grenzüberschreitenden Begegnung von deutschen und tschechischen Schriftstellern dem Publikum erstmals zwei Texte von Petr Šiktanc vorgestellt hatte. Petr Halmay wurde 1958 als Sohn des Schriftstellers Karel Šiktanc in Prag geboren. Da sein Vater sich nicht an das Regime der sogenannten „Normalisierung“ anpassen wollte, das nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ von 1968 in der ČSSR errichtet wurde, erlebte der junge...
Alles über die Idylle des bürgerlichen Beziehungswahnsinns und alles über Sally – der neue Roman von Arno Geiger
Wer meint, seit Flauberts Madame Bovary wäre alles über die alltäglichen Schrecken der bürgerlichen Ehe geschrieben, irrt gewaltig. Ehedramen können als quasi kanonisiertes Subgenre dem Rezipienten immer noch Brauchbares zu seiner Ergötzung und – warum nicht? – Belehrung an die Hand geben. Arno Geigers jüngste Publikation darf in dieser Hinsicht durchaus vor dem Hintergrund einer literarischen Tradition gelesen werden und braucht den Vergleich mit romanesken Vorbildern nicht zu scheuen...
Den Tag zu langen Drähten – Adrian Kasnitz’ Intermezzo in heimischem Gefilde
Wenn myspace ein Land wäre, dann wäre es das elftgrößte dieser Erde, durchschnittlich 300000 Nutzer werden monatlich Mitglied des erst 2003 gegründeten Portals,110 Millionen sind es derzeit. Die Menge der technischen Information auf der Welt verdoppelt sich – alle drei Tage. Vieles auf der Welt wächst rasant und verändert sich rasend schnell - genau der richtige Zeitpunkt, um Dinge von Beständigkeit in den Fokus zu rücken...
„Das Gedicht als Märchenreich ist nicht mehr erhältlich“ – Neue politische Gedichte, herausgegeben von Tom Schulz
Der Untertitel sagt es sehr genau: um neue politische Gedichte dreht es sich – um die Art wie sich unser verhunztes Gemeinwesen in die Sprechweise des Einzelnen mischt, und um den ganzen Scheiß, den wir als Menschenwerk in die Welt stellen und um den niemand drum herum kommt. Gute Lyrik ist gegenwärtig und sowieso politisch. Anwesenheit ist politisch und deshalb begrüßen Politik und Wirtschaft den entfernten (und auch entkernten) Menschen, der auf einem temperierten Platz vor seiner Konsole sitzt und verwickelt ist, ein jeder...
Hymnen auf eine erwachende Nation – die Grasblätter von Walt Whitman übersetzt von Jürgen Brôcan
Der amerikanische Schriftsteller Walt Whitman (1819–1892) gilt als Begründer der modernen amerikanischen Dichtung. Ohne sein Lebenswerk »Grasblätter« wäre T.S. Eliots Langgedicht »Das öde Land« wohl kaum denkbar. Nicht umsonst wird Whitman als der amerikanische Homer und Dante Amerikas verehrt. Seine prosaischen, freien Verse haben die amerikanische Literatur geprägt, wie kein zweites dichterisches Werk. Aber auch auf den europäischen Expressionismus hat Whitmans Lyrik einen wesentlichen Einfluss gehabt...
Stockschwarz ohne Licht im Dunkel - Christoph Meckel erinnert an Peter Huchel
„Erinnerungen an Peter Huchel“ lautet der Untertitel dieses schön aufbereiteten Bändchens, das von Christoph Meckels Freundschaft mit Peter Huchel (1903-1981) berichtet. Es war eine besondere Beziehung, immerhin trennte die beiden ein Altersunterschied von drei Jahrzehnten. Die frühesten Erinnerungen des 1935 geborenen Christoph Meckel an Peter Huchel stammen aus den 1930er-Jahren. Christoph Meckels Vater Eberhard war bereits mit Peter Huchel befreundet. Gemeinsam mit Günter Eich, dem dritten im Bunde, waren die jungen Schriftsteller...
Schnurrpfeifereien auch digital – die gesammelten Werke Wilhelm Buschs
Am 8. Januar 1908 starb Wilhelm Busch, im Alter von 75 Jahren, in Mechtshausen, dem letzten seiner Refugien. "Max und Moritz" erfuhren zu diesem Zeitpunkt bei einer knappen halben Million verkaufter Exemplare bereits die 65. Auflage (ab der 100. Auflage, die 1937 erreicht wurde, stellte man die Zählung ein), Querelen um einige seiner Werke waren inzwischen zu seinen Gunsten beigelegt - "Der heilige Antonius von Padua" hatte ihm ab 1870 Prozesse wegen "Herabwürdigung der Religion und Erregung öffentlichen Ärgernisses...
Wie Gedichte entstehen – Norbert Hummelt und Klaus Siblewski erzählen aus der Praxis
Wie kommt es zum Gedicht? Wie findet es aus der Idee hinaus in ein Buch. Das ist eine sehr persönliche Frage und der Lyriker Norbert Hummelt und der Lektor Klaus Siblewski beantworten sie uns in einem rundum ehrlichen, praxiserprobten, weisen Buch. Sie geben diesmal nicht nur die unsichtbaren gedanklichen und poetologischen Stützgerüste wieder, mit denen man das Gedicht errichtet, sondern finden Worte für das Unwegsame des Grundstücks, die leeren oder übervollen Flächen, die Planken und Anker, das Stahlrohr, das Handwerk und die Pausen...
Wie ein Roman unter seiner Übersetzung leidet – Bitterfotze der Schwedin Maria Sveland
Allein vom Titel her scheint der Roman auf einen Verkaufstisch mit Büchern über Porno-Feminismus und Alpha-Mädchen zu passen: Bitterfotze der Schwedin Maria Sveland. Er weckt die Hoffnung auf eine vulgäre Emanzenlektüre, hält aber keineswegs, was er scheinbar verspricht, denn nicht einmal ansatzweise geht es in dem Roman – der eigentlich eine hybride Form aus Roman, Autobiographie und Reportage ist – um Sex à la Feuchtgebiete. Nicht einmal um schnöden Sex geht es...
»Formen statt Formeln« oder wie man Lyrik gerecht wird – Karen Leeder lud ein die Schaltstelle Lyrik zu untersuchen
Dieser Band zur "neuen Lyrik" beeindruckt nicht nur durch kundige und fundierte Analysen, sondern auch durch eine gelungene Kombination von wissenschaftlichen Beiträgen und umfassender Bibliographie auf der einen sowie einem Interview mit Heinz Czechowski und aktuellen Gedichten zeitgenössischer LyrikerInnen auf der anderen Seite. Zeitgenossenschaft und "neue Lyrik" werden dabei nicht mit den kontrovers diskutierten "LyrikerInnen von Jetzt" (Björn Kuhligk und Jan Wagner: Lyrik von Jetzt. Köln sowie Lyrik von Jetzt 2)...
Ein wundervoller Gedichtband, den keiner kennt – „Die Fähre“ von Klaus Martens
Der Großvater stürzt durch den Leib eines Schiffes und zerschlägt auf dem Boden. Die Großmutter versinkt mit Verbandszeug in der Hand im Meer während des ersten Weltkriegs. Der Vater ist fremd und gehört nicht hierhin, in den Nordwesten von Bremen. Aber die Kindheit kann zaubern, weil sie noch nichts übersieht. Die Mudder Klodt nicht beispielsweise, die in Kopftuch und schwarzem Rock ihre Waren schwer auf dem Rad zum nahen Markt schiebt. Sie kommt quietschend aus den Brennesselwiesen hinter dem zerbombten Haus...
Jenseits der goldenen Scheißhäuser – Bukowskis Lesung im Jahr 1978
Welchen Sinn hat eigentlich das Leben? Eine Frage, die nicht alleine in die akademischen Elfenbeintürme der Philosophie und schon gar nicht in den Schoß der katholischen Kirche unter Leitung des „scheinheiligen Vaters“ (Udo Lindenberg) gehört. Sie ist existenziell für fast jeden denkenden Menschen und nicht selten ständig präsent. Aber wer hat sie beantwortet, wer kann sie überhaupt beantworten? Was ist also der Sinn? Die tägliche Tretmühle? Job, Aufstieg, Frau, Haus, Kinder, besserer Job, neues Haus, neue Frau, neue Kinder? ...
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