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Die Totenwächterin - II

DIE TOTENWÄCHTERIN
DIE TOTENWÄCHTERIN

Helene Henke
Roman / Paranormale Romance

Sieben Verlag

Das Rote Palais: Band 1
Broschiert, 184 Seiten
ISBN: 978-394023522-0

Aug. 2008, 1. Auflage, 14.90 EUR
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Auf den Bahngleisen des verlassenen Güterbereichs lagen die Reste eines zertrümmerten Holzsarges, der halb aus einem Waggon gekippt war. Das Innenfutter lag zerfetzt überall verteilt wie Kunstschnee. Blutige Abdrücke, die von Menschen stammen mochten, waren deutlich zu erkennen. Die ältere Leiche zeigte verschiedene Merkmale von Verwesung auf und lag inmitten eines Durcheinanders von abgerissenen und angenagten Körperteilen. Ein Ohr, an dem noch ein Stück Kopfhaut hing, klebte an der Waggontür. Die zweite Leiche lag ein paar Schritte entfernt und war ausgeweidet worden. Der aufgerissene Brustkorb prangte leer in den Nachthimmel. Sämtliche Organe fehlten. Die Gliedmaßen und der Kopf waren unversehrt geblieben, doch grotesk verdreht. Leyla konnte bei Nacht nur das Nötigste sehen und war in solchen Fällen erleichtert, nicht jedes einzelne Detail der blutigen Faserreste, die die gesamte Umgebung überzogen, zu erkennen. In der Nacht sind alle Katzen grau und das traf zum Glück auch auf blutige Leichen zu.
Sie schlüpfte in einen Plastikoverall und untersuchte den Tatort. Die Kollegen vor Ort hatten das Gelände weiträumig abgesperrt. Rolf ließ sich von ihnen Bericht erstatten. Krankenwagen standen bereit und warteten auf ihren Einsatz. Von Leyla wurde erwartet, dass sie feststellte, ob das Verbrechen von Menschen oder Vampiren begangen worden war. Sie besaß eine angeborene Intuition, was außergewöhnliche Vorkommnisse betraf. Sie hatte diese Fähigkeit so lange verschwiegen, bis sie festgestellt hatte, dass sie ihr beruflich von Nutzen war. Sobald sie den Tatort begutachtet hatte, würde der Fall dem zuständigen Dezernat zugeteilt werden. Leyla vermutete, dass Gargoyles für das Massaker verantwortlich waren. Der aufgerissene Brustkorb des Toten wies Spuren von dreifingrigen Klauen auf. Als sie aufstand, bemerkte sie dunkle Flecken auf ihrem Plastikoverall. Sie hatte mitten im Blut gekniet und war erneut dankbar, dass es dunkel war. Sie zog den Reißverschluss des Overalls auf und atmete tief die kalte Nachtluft ein. Sie blickte zu dem gelben Absperrband, das um den verlassenen Waggon geschlungen worden war und von Rolf angehoben wurde, um sie durchzulassen.
„Und?“ Rolf stellte sich neben Leyla.
„Es waren Gargoyles.“
„Gargoyles? Das wird ja immer besser, als ob Vampire nicht genug wären. Und weiter?“ Rolf schüttelte den Kopf und kramte sein Notizbuch aus der Hosentasche seiner Jeans.
„Nun, es gibt keine Gargoyles in dieser Gegend. Zumindest keine lebendigen. Sie müssen von außerhalb gekommen sein.“
„Mmh?“
„Ich habe das noch nie erlebt, sie entfernen sich normalerweise nicht aus ihrem Gebiet.“ Leyla blickte in sein fragendes Gesicht.
„Erzähl mir etwas über diese Gargoyles.“ Rolf schlug einen geschäftsmäßigen Tonfall an, sobald sie einen Tatort betreten hatten.
„Sie gehören zu den ältesten Lebewesen der Welt und zeigen sich selten. Tagsüber sind sie Steinstatuen an Kirchen und auf Friedhöfen. Nachts erwachen sie zum Leben. Sie gelten als Beschützer. Normalerweise. Ihr dämonisches Aussehen soll abschreckend für böse Geister sein. Wie Drachen in der Fabel sind sie sechsgliedrige Lebewesen. Wenn sie erwachen, leben sie im Verborgenen, es sei denn, jemand hat es geschafft, die Herrschaft über sie zu erlangen. Es muss sich um etwas außergewöhnlich Mächtiges handeln.“
„Moment, heißt das, du weißt es nicht? Könnte es sich um jemanden handeln, der vorgibt ein Gargoyle zu sein?“
„Nun, es gibt Theorien, dass Menschen, die von übernatürlichen Wesen gebissen wurden, von Vampiren oder Wertieren, ebenfalls zu Gargoyles werden. Ich kenne nur wenig vergleichbare Fälle, doch meist handelte es sich bei diesen Kreaturen um Menschen mit dem Maroteaux-Lamy-Syndrom. Das ist eine Krankheit, die zu schwerer Skelettfehlbildung und zu Kleinwuchs führen kann.“
„Also doch Menschen“, sagte Rolf.
Er schien zu hoffen, es nicht mit übernatürlichen Wesen zu tun zu haben. Vampire bereiteten ihm ausreichend Arbeit. Es war noch nicht in den Köpfen der Menschen angekommen, dass es neben Vampiren andere nichtmenschliche Wesen gab. Leyla hatte sie schon als Kind gesehen, die schattenhaften Gestalten, die am Abend auf den Dächern der Häuser saßen oder durch das Unterholz der nächtlichen Wälder huschten. Während der Campingausflüge mit der Schulklasse hatten die Kinder gespannt gelauscht und hielten Leylas Berichte für erfundene Gruselgeschichten. Für Erwachsene galt sie als altkluges Kind mit einer blühenden Fantasie. Ihre Großmutter tat solche Geschichten mit einem brüsken Wink ab und meinte, das höre auf, sobald sie erwachsen sei.
„Ich glaube nicht. Die Verletzungen stammen eindeutig von mächtigen Krallen. Eine solche Deformierung kann ich mir beim besten Willen nicht an einem Menschen vorstellen.“ Leyla strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und beobachtete, wie Rolf in seinen Notizblock kritzelte. Eine tiefe Falte hatte sich über seine Nasenwurzel gegraben.
„Habe ich das richtig verstanden? Du vermutest, die Täter waren Fabelwesen, die es nicht gibt. Außer als leblose Steinfigur. Ebenso wissen wir nicht, woher diese Gargoyles kommen. Sie könnten wer weiß woher sein, da sie Flügel haben.“
„Sie können mit ihren Schwingen nicht fliegen, sondern nur gleiten. Jemand muss sie hergebracht haben. Sie greifen nicht grundlos an. Es sei denn, jemand ist verletzt und liegt hilflos am Boden.“
„Sie haben den Bahnschaffner dort drüben angegriffen.“ Rolf deutete mit einem Nicken zu dem Leichnam.
„Vermutlich waren sie in dem Waggon mit dem Sarg.“ Sie ging einen Schritt auf den Waggon zu. „Woher kam der Zug?“
„Aus Russland. Angeblich sollte die Leiche nach Deutschland überführt werden. Dieser Bereich des Güterverkehrs ist seit Jahren stillgelegt. Der Zug sollte hier überhaupt nicht stehen.“
Sie formte mit den Händen ein Spitzdach und tippte mit den Zeigefingern sachte gegen ihre Unterlippe, während sie nachdachte.
„Es wäre denkbar, dass der Schaffner sie verjagen wollte, als sie aus dem Waggon glitten. Normalerweise hätten sie die Flucht ergriffen, weil sie nicht wussten, wo sie sich befanden. Die Leiche haben sie gefressen, weil sie hungrig waren. Warum sie den Schaffner ausgeweidet haben, kann ich mir nicht erklären.“
Rolf blätterte durch seine Notizen und blickte dann zu Leyla. „Was ist mit Vampiren?“
„Vampire fressen kein Fleisch. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich bei der Leiche aus dem Sarg um einen Vampir handelt.“
„Warum nicht?“
„Weil von Vampiren erfahrungsgemäß nur ein Häufchen Asche übrig bleibt …“ Leyla hielt inne und beugte sich vor, um den ausgeweideten Leichnam genauer zu betrachten. „Es sei denn, sie werden auf eine andere Art und Weise vernichtet.“
„Also haben wir es hier mit Gargoyles zu tun, die auf Befehl handeln oder um Menschen, die am Maroteaux-Lamy-Syndrom leiden?“
„Ich würde auf klassische Gargoyles tippen.“
„Gut, danke Leyla. Dann kannst du jetzt Feierabend machen. Grüß Cecilie von mir.“
„Nicht der Rede wert.“ Leyla zog den Plastikoverall aus und knäuelte ihn zu einem kleinen Bündel, das sie sich unter den Arm klemmte. Sie winkte den Kollegen im Vorbeigehen zu und stapfte über das unebene Gelände der Gleise. Sie erreichte die Rückseite des Hauptbahnhofs, den sie durchqueren musste, um zu ihrem Wagen zu gelangen. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee strömte trotz später Stunde aus dem Stehcafe, sodass die wenigen Nachtreisenden jederzeit zu ihrem Muntermacher kamen. Wachsam betrachtete sie die Gesichter der Menschen, die sich in der Halle aufhielten. Da die Sonne erst vor kurzer Zeit untergegangen war, würde ihr kein Vampir begegnen. Es waren keine Drogensüchtigen oder Obdachlose zu sehen, weil die Sicherheitsvorkehrungen im Stadtbereich seit der angehenden Gesetzesänderung verstärkt worden waren. Sie nickte zwei Sicherheitsbeamten zu, die den Vorplatz des Bahnhofs und des daneben gelegenen Multiplexkinos Aurodom patrouillierten. Die Nachmittagsvorstellungen in den ersten beiden Etagen des Kinos endeten. In diesen Sälen wurde das aktuelle Kinoprogramm gespielt und vorwiegend von Menschen besucht. Im oberen Teil des Gebäudes befand sich noch eine Ebene, mit speziellen Filmangeboten für Vampire. Das Rote Palais.
Die Menschen strömten aus dem erleuchteten Filmpalast. Um diese Uhrzeit handelte es sich um Mütter mit Kindern und Schüler. Nicht wenige trugen ein Kruzifix über ihren Mänteln und Jacken. Kruzifixe verkauften sich gut in den letzten Jahren, obwohl es keinen Beweis gab, dass sie gegen einen Vampirangriff schützten. Der tiefe Glaube daran war in den Köpfen der Menschen verankert, wie der hartnäckige Erhalt von Ammenmärchen. Ein altes Relikt aus der Zeit der Inquisition im 13. Jahrhundert. Vampire trieben seit Menschengedenken ihr Unwesen auf der Erde, und die Kirche ging seinerzeit ohnehin rigoros gegen Glaubensabtrünnige vor. Von der Existenz der Untoten fühlte sie sich um ihre unsterbliche Seele betrogen. Sie musste nicht mehr beweisen, dass es sich bei Vampiren um Bestien handelte, dafür sorgten diese schon selbst. Die Kirche fand einen Weg, den christlichen Glauben als einzig wahren Schutz gegen diese Dämonen zu festigen. Es wurden öffentliche Folterungen veranstaltet, bei denen Vampiren glühende Kruzifixe auf die Haut gebrannt wurden oder siedendes Weihwasser sie verbrannte. Es war nicht maßgeblich, dass derartige Folterungen auch Menschen trafen, sobald weltliche Machthaber erkannt hatten, dass sich diese Verfahren bestens einsetzen ließen, um politische Interessen zu verfolgen. Tatsächlich hatte es später Fälle gegeben, in denen ein Vampir vor einem Kruzifix zurückgeschreckt war. Das lag daran, dass er das Brandmal eines Kreuzes auf seinem Körper trug und es für die Dauer seines Daseins nicht mehr loswerden würde. Der Glaube an die Schutzfunktion von christlichen Gegenständen war unbeugsam; auch in einem aufgeklärten Zeitalter. Doch Kreuze schadeten niemandem, weder Mensch noch Vampir und die Hersteller erfreuten sich eines boomenden Geschäftszweiges. Tatsächlich distanzierten sich die Menschen, die sichtbar ein Kreuz trugen, von Vampiren. Eine Form von stillem Protest gegen die geplante Legalisierung.
Leyla ergriff unwillkürlich die goldene Kette, die um ihren Hals hing. Sie trug das Kruzifix seit ihrer Kommunion. Ihre Großmutter hatte darauf bestanden. Aber Cecilie glaubte auch daran, dass es Unglück brachte, wenn eine schwarze Katze ihren Weg kreuzte. Leyla hatte ihren Wagen auf den Parkstreifen vor dem Aurodom abgestellt und ging an dem stuckverzierten Altbau des Bahnhofs vorbei. Abgestellte Fahrräder lehnten wie vergessen an den alten Mauern. Leyla blieb stehen und blickte auf das Aurodom. Hoch ragte das weitläufige ornamentlose Gebäude aus Spannbeton und Glas auf der anderen Seite des Platzes auf und bildete ein ästhetisches Gegenstück zu dem alten Hauptbahnhof. Das Kino war seit vielen Jahren inoffiziell in Vampirhänden. Das Gebäude stand auf dem Fundament uralter Katakomben.

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