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Die Totenwächterin - V
War man es gewohnt von einem erleuchteten Gang in die dämmrige Dunkelheit des Kinosaals zu treten, konnte man sich im Roten Palais auf das Gegenteil gefasst machen. Nachdem sie den schweren Filzvorhang hinter der Tür passiert hatten, traten sie in den hell erleuchteten Kinosaal. Das Licht kam von einer künstlichen Sonne, die ihren Schein von einer Panoramaleinwand in den Raum warf. Die zylindrische Rundumleinwand bot den Besuchern die Kulisse eines Südseestrandes, wobei die brausenden Wellen des Meeres ihren Widerschein über eine weiße Bühne warfen. Seitlich bogen sich Palmen im lauen Sommerwind unter einem strahlend blauen Leinwandhimmel. Aufgrund der hochauflösenden Darstellung von 360-Grad-Bildern wurde dem Betrachter eine bisher ungeahnte Sichtweise ermöglicht. Speziell für Vampire ein Erlebnis, das sie in der Natur nicht mehr erleben konnten. Leyla bemerkte die drei kleinen Fenster der Projektions-ebenen über den oberen Rand des kreisrunden Bildschirms. Ähnlich wie bei einem Brillenglas erzeugten die Projektoren eine weite Lichtbrechung, wodurch ein überdimensionales Bild gestreut wurde. Die Heizungen waren aufgedreht und eine tropische Hitze dehnte sich im Saal aus; sogar der Geruch von Salzwasser lag in der Luft. Die Sitze im Saal lagen nicht so eng beieinander wie üblich, sondern boten einen Zwischenraum für einen kleinen Beistelltisch. Die Besucher, zum größten Teil Frauen, räkelten sich in ihren Sitzen und gaben sich der Illusion hin, an einem Strand zu liegen.
Antonio führte sie zu der vordersten Sitzreihe, die in einem normalen Kino zuletzt besetzt worden wäre, weil sie zu nah vor der Leinwand lag. Hier bestand der ganze Raum aus Leinwand, und sie hatten eine optimale Sicht auf die Bühne. Als Leyla sich neben Evelyn in einen der gepolsterten Sitze fallen ließ, fragte sie sich unwillkürlich, wozu es in einem Kinosaal eine Bühne gab und welche Art Veranstaltung sie erwartete.
Ich komme mir vor wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal vor der riesigen Kinoleinwand sitzt. Wirkt irgendwie sentimental das Ganze, flüsterte Evelyn ihr zu.
Oder wie eine ziemlich gute Geschäftsidee, entgegnete Leyla und blickte sich im Saal um. Es scheint Vampire zu geben, die es vermissen im Sommer am Strand zu liegen oder den Duft einer blühenden Wiese im Tageslicht zu genießen.
Rudger von Hallen verkaufte den Vampiren diese kleinen Momente ihrer vergangenen Menschlichkeit als nahezu perfekte Illusion. Doch auch Menschen ließen sich gern in die Traumwelten des Roten Palais entführen. Von den anderen Sitzreihen drangen Gesprächsfetzen und Gelächter, die von ein paar gespielten Schreien unterbrochen wurden, wenn ein Vampirkellner mit seinem Tablett durch den Saal zog. Die entspannte Südseestimmung wurde von einer unterschwelligen Angst überlagert, zumindest was die anwesenden Menschen betraf. Die wenigen Vampire unter den Gästen wirkten unbeeindruckt von dem Geschehen. Die Bilder auf der Leinwand erloschen, und für einen kurzen Moment erfasste Dunkelheit den Saal. Dann wurde das Idyll einer nächtlichen Waldlandschaft eingeblendet, deren Vollmond ein gedämpftes Licht in den Saal warf. Vor ihnen lagen die gezackten Schatten eines düsteren Schlosses. Ein paar schrille Schreie hallten durch den Raum.
Rudgers Stimme kam aus der Dunkelheit, laut und kräftig. Als Leyla ihn neben der Bühne erblickte, konnte sie kein Mikrofon erkennen.
Ich heiße Sie willkommen im Roten Palais des Aurodom. Wir bieten Ihnen heute ein besonderes Ereignis und führen Sie in die Abgründe Ihrer Seelen.
Seine klangvolle Stimme schwang wie warme Wellen durch den Saal und zog sofort die Aufmerksamkeit auf sich. Es fühlte sich verdammt gut an. Ein Lichtkegel erfasste Rudgers Gestalt und folgte ihm die Stufen der Bühne hinauf. Er blieb vor dem projizierten Geisterschloss stehen. Eine Klimaanlage sorgte für eine frische Brise, die schnell die vermeintlich tropische Hitze vertrieb.
Stellen Sie sich eine laue Sommernacht vor. Die Fenster zu Ihrem Schlafzimmer sind geöffnet und Sie liegen da, voller Sehnsucht und Verlangen. Sie beobachten wie sich die Gardinen im Mondlicht bewegen. Sie wissen nicht, was Sie herbeiwünschen, bis Sie meinen Atem auf Ihrem Hals spüren. Meine Lippen auf Ihrer Haut. Die harte Berührung meiner Zähne vor dem süßen Schmerz des Bisses. Ihr Herz pocht verzweifelt gegen meine Brust und Ihr Blut fließt durch meine Adern. Während Sie sich hingeben, schenken Sie mir Leben und wissen, dass ich nicht ohne Sie leben kann.
In der vollkommenen Dunkelheit des Raumes, die eine gewisse Intimität verbreitete, hatte jede anwesende Frau das Gefühl, dass Rudger von Hallen nur zu ihr sprach. Auch Leyla. Auf eine unheimliche Weise gefiel ihr die Magie, die seine Stimme verbreitete. Es konnte nur Magie sein, denn jede Einzelne von ihnen fühlte sich von ihm auserwählt.
Wir haben jemanden für Sie, der Ihre Fantasie nicht mehr mit Ihnen teilen muss, weil er ihn erlebt hat, den bittersüßen Kuss. Er ist heute bei uns, um Sie mit seinem Beitrag zu unterhalten. Rudger hielt inne und lauschte der Stille in der Dunkelheit. Leyla hörte ihr eigenes Herz pochen. Jarno ist heute bei uns zu Gast. Rudger machte eine empfangende Geste.
Ein sehnsüchtiges Raunen erfüllte den Raum. Jarno!, seufzte eine weibliche Stimme hinter Leyla.
Die Lüster an den Wänden gingen an und warfen einen rötlichen Schein in den Saal. Auf den Leinwänden erschien die Kulisse eines nostalgischen Nachtclubs im Stil des 19. Jahrhunderts. Die Musik wurde leidenschaftlicher, als sich die Spots auf eine Gestalt auf der Bühne richteten. Er war schwarz gekleidet, und sein enges Hemd schmiegte sich an seinen Oberkörper. Sein schwarzes Sakko war geöffnet und schwang über seine enge Lederhose, die seitlich an den Beinen geschnürt war und ein paar Zentimeter Haut sehen ließ. Sein schulterlanges Haar schimmerte in verschiedenen Brauntönen im Scheinwerferlicht.
Das Keuchen einiger Damen in den vorderen Reihen zauberte ein Lächeln auf sein ebenmäßiges Gesicht. Mit federnden Schritten ging er über die Bühne und streifte sein Sakko ab. Im rhythmischen Takt der Bässe bewegte er sich schwungvoll und präsentierte sich dem Publikum von allen Seiten. Mit dem Rücken zu den Leuten verharrte er einen Moment und setzte mit dem Anschwellen der Musik seinen tanzenden Schritt mit kreisenden Hüften fort. Der Anblick seines wohlgeformten Hinterteils, über das sich die enge Hose spannte, löste einen kurzen, tosenden Beifall aus. Als er sich umdrehte, hatte er die Knöpfe seines Hemdes geöffnet und präsentierte dem Publikum, was es zu sehen gab. Seine Brust und Schultern waren überzogen von Narben, die sich in gewölbten, weißen Wellen über seine Haut zogen. Leyla schluckte schwer bei dem Anblick und war nicht sicher, was sich hier abspielen sollte. Neben sich sah sie Evelyns Hand, die sich weiß von dem blutroten Velours der Armlehne abhob.
Jarno strich mit beiden Händen über seine nackte Brust bis hinunter zum Hosenbund, in den er seine Daumen gleiten ließ. Dann warf er mit einer schwungvollen Bewegung sein Haar zurück und stieg die Seitentreppe der Bühne hinab. Jeder Schritt war bedacht und im Einklang mit der pulsierenden Musik. Vor Leylas Sitz blieb er stehen und blickte auf sie herab. Sie sah Schweißperlen an seiner Körperseite und zahlreiche Bisswunden an seinem Hals. Evelyn starrte mit gesenktem Kopf auf den Boden der Bühne, während die Frau neben ihr mit geöffnetem Mund zu Jarno aufblickte. Er griff sein Hemd und ließ es langsam über seine Schultern gleiten. Es fiel zu Boden. Beifallsrufe kamen aus dem Publikum. Als sein Name gerufen wurde, lächelte er anzüglich und sexy. Leyla starrte auf die Vielzahl der Narben, die seine Brust überzogen. Evelyn hatte einen Blick gewagt und gab ein entsetztes Stöhnen von sich.
Ist er nicht fantastisch?, bemerkte Leylas Sitznachbarin ohne eine Antwort zu erwarten.
Verwundert blickte Leyla sie von der Seite an. Unter ihrem verrutschten Halstuch kamen zwei vernarbte Einstiche zum Vorschein. Leylas Magen zog sich zusammen. Auf einmal war sie nicht mehr sicher, ob sich außer Evelyn und ihr noch weitere Menschen im Raum befanden. Das war natürlich absurd, da sie die Anwesenheit einzelner Vampire spürte und der Rest des Publikums aus Menschen bestand. Jarno bewegte sich mit der wiegenden Kraft seines Körpers durch den Raum; die Musik hatte ihren Höhepunkt erreicht. Auf dem oberen Teil seines Rückens prangte eine scheußliche Narbe, die ihre eigene Geschichte zu erzählen schien. Ein Vampir musste dort an ihm gerissen haben wie ein Wolf an seiner Beute. Leyla hatte eine ähnliche Narbe am Bein und ein paar andere, doch nicht in diesem Ausmaß. Auch sie sollte einst die nächste Mahlzeit auf der Tafel eines Vampirs sein. Doch lebendige Fleischstücke hatten die Angewohnheit zu fliehen, nachdem man sie angeknabbert hatte. Jarno wiegte sich durch den Raum und ließ sich Geldscheine in den Hosenbund stecken. Um sie herum fuchtelten Frauenhände mit Scheinen. Leyla war erleichtert, als der Tänzer sich von ihnen entfernte und den Mittelgang zu den oberen Sitzreihen hinaufstieg. Der Lichtkegel folgte ihm wie die Köpfe der Zuschauer.
Alles okay?, fragte Leyla.
Erinnert mich an eine Stripperveranstaltung, die ich als Studentin besucht habe, entgegnete Evelyn und rollte mit den Augen. Ihr Lächeln wirkte leicht verrutscht.
Die Frau mit den Bissmalen starrte mit offenkundiger Erregung auf Jarno, der nun erneut vor der ersten Reihe entlang schlenderte und vor ihr stehen blieb. Die Frau befeuchtete ihre Lippen. Als sie ihm ihr Geldbündel vorne in die Hose steckte, wandte er sich ihr zu und reichte ihr seine Hand. Sie ergriff sie und leckte über den Hand-rücken, bevor sie mit einem feuchten Kuss ein Mal aus rotem Lippenstift hinterließ. Jarno zog die Frau von ihrem Stuhl in seine Arme. Sie überzog seine Schulter mit zittrigen Küssen und hielt dann abwartend inne. Jarno wusste, was sie wollte und streifte sein Haar von seinem Hals. Dann öffnete sie ihren Mund und biss ihn. Jarno zuckte kurz zusammen und legte den Kopf in den Nacken. Leyla hörte die Frau stöhnen, als sie an der Wunde saugte. Die Menge applaudierte und winkte mit noch mehr Geldscheinen. Leyla sah zu Evelyn hinüber, die ungläubig auf die Darbietung starrte. Kurz darauf sank die Frau auf ihren Sitz zurück und verharrte mit geschlossenen Augen. Um ihren nun lippenstiftlosen Mund bildete sich ein zufriedenes, sattes Lächeln. Als sie die Augen öffnete, war ihr Blick abwesend. Leyla sah angewidert zur Seite.
Jarno stand unbeweglich neben der Bühne. Sein Kopf war gesenkt und sein Haar verbarg sein Gesicht. Ein dünnes Rinnsal Blut lief aus der Wunde an seinem Hals. Das erklärte, warum die Patienten in der Notaufnahme keine Anzeige erstatteten. Sie begaben sich freiwillig in die Hände der Vampire und genossen den Rausch, den der Blutaustausch auslöste. Leyla fragte sich, ob es womöglich im Zusammenhang mit der abnehmenden Anzahl an Drogendelikten stand. Hatten die Süchtigen eine Droge gefunden, für die sie nicht mit Geld bezahlen mussten, sondern mit Blut?
Der Lichtkegel erlosch, und Jarno verschwand in der Dunkelheit, die sich über den Raum legte. Die Aufmerksamkeit des Publikums wurde auf die vordere Leinwand gelenkt. Die Musik verstummte und Rudgers Stimme wallte durch den Saal.
Sex in all seiner Vielseitigkeit gehört zu den geheimen Begierden die Sie, im Gegensatz zu uns Vampiren, nicht ausleben. Eine andere ist die Faszination des Grauens. Ein verborgenes Wesen, das im Verlies Ihres Unterbewussten haust.
Leyla versuchte auszumachen, wo Rudger sich befand, als ein Film auf der Leinwand gestartet wurde. Es gab keinen Vorspann und keinen Titel, sondern die Kulisse eines von Fackeln beleuchteten Gewölbes. Dargestellt wurde eine bizarre Szenerie. Auf dicken Kissen räkelten sich halbnackte, ineinander verschlungene Frauenleiber, die sich gegenseitig liebkosten. Ihre Blicke richteten sich auf die Gestalt, die erhöht im Mittelpunkt thronte. Sie waren zu viele, um gleichzeitig mit ihren Händen und Mündern an das Objekt ihrer Begierde, dem weißen Körper eines jungen Mannes zu gelangen. Leyla stutzte, als sie ihn genau betrachtete und ihr der Widerspruch deutlich wurde. Der zarte Oberkörper, eine ebenmäßige Fläche junger Haut, lehnte gelassen gegen den nackten Leib einer Frau. In der zierlichen Hand hielt er einen Kelch. Über seinem Schoß räkelte sich eine Willige, deren Brüste er abwesend streichelte. Weiche Gesichtszüge und volle rosige Lippen wurden eingerahmt von glänzendem schwarzem Haar. Es fiel seidig über die Kissen. Das Gesicht war von feenhafter Schönheit. Da das Geschlecht bedeckt war, konnte Leyla nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.
Ein Hermaphrodit, flüsterte Leyla mehr zu sich selbst und neigte ihren Kopf zu Evelyn, ohne ihren Blick von der Leinwand zu nehmen.
Das androgyne Wesen schwenkte gebieterisch seinen Kelch als Zeichen diesen aufzufüllen. Ein Mann löste sich aus dem Schatten und trat in geduckter Haltung näher. Mit gesenktem Kopf nahm er den Kelch entgegen und entfernte sich wieder. Das lustvolle Stöhnen der sich windenden Körper mischte sich mit qualvollen Lauten aus dem Hintergrund. Die Kamera schwenkte herum und folgte dem Diener in das hintere Gewölbe. Vereinzelt ertönten erstickte Schmerzensschreie von Menschen. Sie hingen dort an Handschellen gebunden von der niedrigen Decke wie Schweinehälften in einer Schlachterei. Ihre Köpfe waren vornüber gefallen oder lehnten gegen einen Arm, der im schmerzhaften Winkel nach oben gezogen worden war. Sie waren in einem erbärmlichen Zustand. Ihre Kleider hingen in Fetzen um ihre ausgemergelten Leiber. Blut floss aus zahlreichen Wunden an ihren Hälsen und Oberschenkeln. Der Diener hielt für einen Augenblick inne und entschied sich für eine Frau in seiner Nähe. Er griff in ihr schmutzig verfilztes Haar und zerrte mit einem Ruck ihren schlaffen Kopf nach hinten. Sofort strömte Blut aus ihrer geöffneten Ader. Er zapfte das Blut in den Kelch, ohne das Wimmern seines Opfers zu beachten.
Das ist grauenvoll. Wer dreht solche Filme? Und wer sieht sich sowas an?, fragte Evelyn leise.
Wie es aussieht, werden damit die anderen Sinne der Vampire bedient, entgegnete Leyla.
Und nicht nur die der Vampire.
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