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Die Totenwächterin - IV
Es gehörte zu den schwierigsten Unterfangen, Zugang zum Roten Palais zu bekommen. Dorthin gelangte man ausschließlich mit Einladung. Keinem verdeckten Ermittler war es bislang gelungen, sich dort einzuschleichen. Es hatte noch keinen begründeten Verdacht gegeben, der einen Durchsuchungsbefehl gerechtfertigt hätte. Folglich kursierten wilde Gerüchte über die geheimnisvollen oberen Etagen des Aurodom.
Sie könnten zur Abwechslung mal Ihre Freizeit mit Vampiren verbringen, anstatt sie zu jagen, sagte Antonio in einem lockenden Tonfall.
Ich jage keine Vampire. Ich ermittle gegen Straftäter. Sie wusste, dass ihre Stimme ungehalten klang, aber sie hatte ständig mit diesem Vorurteil zu kämpfen und wurde dessen langsam müde.
Bei denen es sich hauptsächlich um Vampire handelt, nicht wahr?, konterte Antonio.
Sein Gesicht wurde plötzlich ernst, als hätte etwas sein Lachen weggewischt. Vampire konnten ihr Verhalten von einem Moment auf den anderen ändern. Das machte sie unberechenbar. Ein flaues Gefühl breitete sich in Leylas Magengrube aus. Wenn Antonio das konnte, was noch?
Meine Auftraggeber sind Menschen, die in Konflikt mit Vampiren geraten sind, sagte sie und bemerkte, dass sich Evelyn hinter ihr unruhig bewegte. Sie vermutete, dass ihrer Freundin der Verlauf des Gesprächs unangenehm wurde. Antonio war es gelungen, sie zu provozieren. Es passierte ihr sonst nicht, dass sie sich für ihren Job rechtfertigte. Sie warf einen kurzen Blick zu Evelyn und schluckte ihren Ärger hinunter.
Ich finde nicht, dass das hierher gehört, Antonio. Was Ihr Angebot betrifft, nein danke. Sie wandte sich ab.
Warte mal, Leyla. Lass uns mitgehen. Es würde mich interessieren, was da oben so geheimnisvoll sein soll, sagte Evelyn.
Ihre Freundin hat recht. Ich kenne Leute, die würden ihren rechten Arm für das Privileg hergeben, das Rote Palais zu besuchen.
Wäre Leyla allein gewesen, hätte sie Antonios Angebot ohne zögern angenommen. Sie zauderte bei der Vorstellung, Evelyn einer vermeintlichen Gefahr auszusetzen, zumal sie nicht wusste, was sich dort oben abspielte. Anderseits war Evelyn eine erwachsene Frau und Leyla stand es nicht zu ihr vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Sie blickte in Antonios selbstgefälliges Gesicht. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schien darauf zu warten, dass sie zustimmte. Entweder führte er etwas im Schilde oder er wollte sich mit seiner Einladung wichtig machen.
Ich gehe mal vor. Wir treffen uns am Seiteneingang, sagte Antonio und schlenderte ohne Eile auf den Haupteingang zu.
Leyla spürte erneut Wut in sich aufsteigen, weil er davon ausging, dass sie ihm folgen würden. Wir wissen nicht, was sich dort oben abspielt, Evelyn.
Was kann schon Schlimmes in einem Kino vorgehen? Komm Leyla, ich bin nicht von gestern. Ich habe im Krankenhaus oft mit Patienten zu tun, die eindeutig Bisswunden und schlimmere Verletzungen aufweisen. Noch nie hat einer von ihnen Anzeige erstattet. Sie beteuerten ausnahmslos sich freiwillig in die Situation gebracht zu haben.
Wie wir es jetzt vorhaben?
Evelyn rollte die Augen. Möglich. Mich interessiert, was diese Vampire an sich haben, das Menschen dazu bringt, sich ihnen anzubieten. Es könnte mir helfen zu verstehen, wenn ich die nächsten Verletzten auf meinem Behandlungstisch habe.
Leyla wusste, dass Evelyn als Ärztin Vampiropfer behandelte, bei denen es sich um Biss-Süchtige handelte. Die Polizei hatte sowohl mit Vampiren als auch mit deren Opfern zu tun, die nicht mehr in der Lage waren, sich behandeln zu lassen. Sie konnte Evelyn ihr berufliches Interesse nicht absprechen.
Okay, gehen wir.
Wenn es uns zu unheimlich wird, hauen wir wieder ab, schlug Evelyn vor.
Sie steuerten den Seiteneingang an. Der ganze Bezirk um den Hauptbahnhof war Sperrgebiet und wurde Vampirviertel genannt. Es hatte Vampirmorde im näheren Umkreis gegeben. Die Polizei ermittelte gegen Täter, die ohne entsprechende Gesetze nicht des Mordes angeklagt werden konnten. Da es nicht möglich war, einen Toten zu ermorden, beriefen sich die meisten Urteile auf mildernde Umstände. Bis das Gesetz zur Legalisierung verabschiedet werden würde, bewegte sich dieser Teil der exekutiven Staatsgewalt auf unsicherem Terrain.
Es wunderte Leyla nicht, dass Evelyn keine Ahnung hatte, dass das Aurodom in Vampirhänden war; auch die unteren Etagen, die dem normalen Publikum zugängig waren. Die wenigsten Menschen wussten darüber Bescheid und wenn sie es wussten, dann ignorierten sie es oder empfanden es als einen besonderen Reiz.
Sie bogen um die Ecke und erreichten den Eingang, vor dem Antonio lässig lehnte. Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippte den Stummel von sich. Dann drückte er den Knopf der Gegensprechanlage, die durch den Kontakt seiner Hand aufleuchtete. Die Glastüren waren eine kleinere Ausführung des Haupteingangs, nur dass sie nicht aufschwangen, wenn man davor stand. Zwischen den roten Samtvorhängen hinter der Tür sahen sie einen Teil der Kassen an der gegenüberliegenden Seite des Foyers. Rechts befand sich die Unterseite der Rolltreppe.
Ja, bitte? Eine metallisch verzerrte Stimme ertönte durch den Lautsprecher. Antonio grinste in die Außenkamera, und im nächsten Moment hörten sie ein surrendes Geräusch hinter der Glastür. Ein gläserner Aufzug senkte sich und kam geräuschlos zum Stehen. Die Tür schob sich zur Seite.
Ist das aufregend. Ich wusste gar nicht, dass es hier einen Aufzug gibt, flüsterte Evelyn.
Leyla bemerkte Antonio, der sich mit einer fließenden Schnelligkeit bewegte, wie es einem Menschen nicht möglich gewesen wäre und sich mit dem Rücken an die einzige Spiegelwand im Aufzug presste. Es schien ihm unangenehm zu sein, dass er kein Spiegelbild mehr hatte. Leyla versuchte die Etagen zu zählen, die der Aufzug kaum hörbar in die Höhe fuhr. Es gab keine Anzeigen in dem sterilen Ding, das durch einen dunklen Schacht nach oben zog. Sie fragte sich, wozu Glasscheiben, wenn man nichts sah. Der normale Lift im Foyer des Kinos beförderte die Gäste bis in die vierte Etage. Sie hielten in der sechsten. Die Tür schwang auf, und sie traten auf einen blutroten Teppich, der einen großen Empfangsbereich zierte. Die Wände waren mit schwarzem Damast tapeziert, dessen eingewebtes Muster zusammen mit den Lüstern an den Wänden dem Raum ein Ambiente aus vergangenen Zeiten bescherte. Es gab keine Fenster, nur eine weitere Glastür, in der ein Vampir postiert war. Er stand still da und hatte seine massigen Arme vor der Brust verschränkt. Seine rosige Haut zeigte einen Rest an Lebendigkeit. Er war noch nicht lange tot. Vielleicht fünfzehn Jahre. Aus der Ferne hörten sie Stimmen und Gelächter. Antonio ging großspurig auf den Türsteher zu. Der blickte auf ihn herab, ohne den Kopf zu bewegen.
Gäste vom Boss, raunte Antonio.
Der Türsteher nickte gleichmütig und trat zur Seite. Sie traten hinter Antonio durch die Tür.
Kommen Sie, ich führe Sie zu den besten Plätzen, rief er über die Schulter.
Leyla starrte auf das alberne Schild unmittelbar hinter der Glastür. Abgebildet war ein schwarzes Kruzifix, rot durchgestrichen. Es gab eine Garderobe, was für ein Kino nicht üblich war. Eine Reihe verschiedenfarbiger Pelzmäntel hing an Kleiderbügeln und säumte die polierte Stange. Leyla verzog das Gesicht bei der Vorstellung, dass es sich um echte Pelze handelte. Sie befanden sich im Einlassbereich vor den offenen Kinotüren. Der Gang war voller Leute mit Sektgläsern in den Händen. Bevor sie sich auf die Suche nach Kino elf machen konnten, ertönte eine tiefe, melodiöse Stimme hinter ihnen.
Leyla, wie schön Sie hier zu sehen.
Sie drehten sich alle drei gleichzeitig um und sahen Rudger von Hallen mit geschmeidigen Schritten auf sie zukommen. Rudger war der Besitzer des kompletten Multiplexkinos und Meistervampir der Stadt. Das Land, auf dem das Kino erbaut worden war, befand sich seit 250 Jahren im Besitz der Familie von Hallen. Da das Gericht keine Nachkommen der Familie fand, drohte das Land in den Besitz der Stadt zu fallen. Um seine Besitzansprüche auf die öffentliche Ausschreibung kundzutun, hätte Rudger bei Tageslicht im Gerichtsgebäude erscheinen müssen. Rudger hatte mit Hilfe eines findigen Anwalts dafür gesorgt, dass ihm ein Termin nach Sonnenuntergang einberaumt wurde. Das Gericht sah sich aufgrund mangelnder Gesetzesvorlagen gezwungen, Rudger von Hallen den Landbesitz seiner Familie zuzusprechen. Das Erscheinen eines Vampirs bei Gericht war damals einzigartig und der Richter musste Rudger, der unbestreitbar vor ihm stand, seine Existenz anerkennen. Rudger genehmigte den Bau des Kinos auf seinem Land und erwarb den Komplex nach Fertigstellung. Es folgten weitere Prozesse über Besitzansprüche von Untoten. Bald darauf nahm eine Partei den Vorschlag zur Legalisierung von Vampirismus in ihr Wahlprogramm auf. Seitdem debattierte der Deutsche Bundestag in der ersten Beratung den Gesetzesentwurf.
Eine menschliche Theaterleitung führte das gesamte Geschäft der zehn Kinosäle, die sich unter ihnen befanden. Sie unterstützten Rudger bei bürokratischen Belangen, die das Vampirkino betrafen und bei Tag erledigt werden mussten. Die Schichten nach Einbruch der Dunkelheit wurden verständlicherweise von Vampiren übernommen. Rudger hielt sich ausschließlich in den oberen Ebenen auf und leitete persönlich das Rote Palais. Bei besonderen Anlässen moderierte er die Veranstaltungen.
Er sah aus wie eine fleischgewordene Frauenfantasie. Blonde Wellen fielen weit über seinen doppelreihigen Gehrock, dessen knielanger Schoß aus dunkelviolettem Tuch gefertigt worden war. Die Farbe wiederholte sich in der brokatverzierten Weste, aus dessen tiefem Ausschnitt die Spitzen seines Hemdes hervorquollen. Das samtene Revers seiner Ärmel fiel bis in die Mitte seiner bleichen, langgliedrigen Hände. An seinem kleinen Finger funkelte der grüne Edelstein eines antiken Siegelrings. Als modischen Kontrast trug er schwarze Jeans und Stiefel mit Profilsohlen. Sein markantes Gesicht war sehr attraktiv. Tiefblaue Augen erweckten die Vorstellung, dass er zu Lebzeiten ein Freibeuter mit gebräuntem Teint und blitzenden Zähnen gewesen war. Nun war sein Gesicht bleich, was seiner Ausstrahlung nicht den geringsten Abbruch tat.
Meister, ich habe mir gedacht, dass es Euch freuen würde, sie hier zu sehen, beeilte sich Antonio zu erklären.
Rudger gebot ihm mit einer knappen Handbewegung zu schweigen. Antonios Mund klappte so schnell zu, dass Leyla hörte, wie seine Zähne aufeinander schlugen. Er trat demütig einen Schritt zurück.
Ihr kennt euch? Evelyn blickte mit offenem Mund von Leyla zu Rudger.
Frau Barth und ich sind uns schon begegnet.
Unsere Einheit ermittelt Vampirmorde, sagte Leyla zu Evelyn.
Sie ist spezialisiert auf Vampire. Das letzte Wort hatte er geflüstert und sein Klang zog wie eine Schwingung durch die Luft.
Evelyn starrte Rudger mit großen Augen an. Leyla legte beide Hände auf Evelyns Schultern. Sie schüttelte sie, und Evelyn zuckte zusammen.
Du solltest einem Vampir niemals, wirklich niemals, in die Augen sehen.
Sie nickte brav und biss sich auf die Lippen.
Rudger lachte ein samtweiches Lachen. Ich würde Ihnen niemals etwas antun, meine Damen. Er verbeugte sich elegant vor Evelyn und stellte sich ihr vor. Dabei vermied er demonstrativ ihr in die Augen zu schauen. Dann stellte er sich so dicht an Leyla, dass sie versucht war, einen Schritt zurückzuweichen. Keine Sorge, es ist alles in Ordnung, meine kleine Privatdetektivin.
Sie starrte auf die nackte Haut seines Hemdausschnittes und widerstand dem Impuls nach dem Kreuzanhänger zu greifen, der unter ihrer Bluse lag. Sie schalt sich für diesen Gedanken. Rudger würde davor nicht einmal erschrecken. Er war ein Meistervampir. Schon zu Lebzeiten musste er zu den Menschen gehört haben, die über eine besondere Ausstrahlung verfügten. Ein sehr starkes Emotionsempfinden, gepaart mit der Fähigkeit, auch andere Menschen derart starke Gefühle erleben zu lassen. Man hörte ihm zu und folgte ihm, weil er anders war, so wie die meisten es selbst gern wären. Sein angeborenes Charisma, vereint mit der unsterblichen Macht eines Vampirs, eröffnete ihm nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Da er stets um die Wünsche und Sehnsüchte anderer wusste, wäre es ein Leichtes, das auszunutzen und Menschen wie Vampire dazu zu bringen so zu handeln, wie er es wollte. Ein Meistervampir zeichnete sich dadurch aus, andere wissen zu lassen, dass er sie manipulieren könnte, es aber nicht tat, sondern durch außergewöhnliches Handeln überzeugte.
Inzwischen verfügte er über Jahrhunderte lang gesammelte Erfahrungen und war Gründer einer Vampirgesellschaft, die mitten unter Menschen weilte. Dadurch gehorchten ihm alle Vampire in Krinfelde und erhielten als Gegenleistung seinen Schutz.
Nun Leyla, wollen Sie nicht Ihr Kreuz ablegen?
Seine Stimme glitt wohltuend zu ihr hinüber, sodass sie ihm am liebsten in die Augen geschaut hätte. Er las ihre Gedanken, und Leyla vermochte es nicht zu verhindern. Er war der einzige Vampir, gegen den Leyla ihren Geist nicht verschließen konnte. Er nutzte diese Fähigkeit als einen seiner zahlreichen Versuche, sie in seinen Bann zu ziehen.
Ungern. Wozu auch? Es nützt ohnehin nichts, oder?
Wir haben Regeln, mina Fagre_æ. Es ist eine symbolische Geste für ein friedliches Miteinander.
Seine Stimme glitt ihr unter die Haut. Hören Sie auf mich so zu nennen, Rudger. Leyla bemühte sich, ihrer Stimme Entschlossenheit zu geben.
Es war nicht leicht ernst zu klingen, wenn schon seine bloße Anwesenheit die meisten Leute auf dem Gang erstarren ließ. Etwas schien ihn zu umgeben, eine Art Strahlen, das man nicht sah aber fühlte, und das in unmittelbarer Nähe auf einen übersprang. Dass er sie in altgermanischer Sprache meine Schönheit nannte, machte die Sache nicht leichter. Rudger lachte und der warme Klang seiner Stimme erfüllte den Flur. Die Gespräche in ihrer Nähe verstummten und mehrere Gesichter wandten sich ihm zu. Rotgeschminkte Damenmünder formten überraschte Os. Leyla verdrehte die Augen und ging zurück zur Garderobe, um einer Mitarbeiterin in Dienstkleidung ihre Halskette zu überreichen. Dass sie eine Waffe bei sich trug, schien Rudger nicht weiter zu kümmern. Überhaupt benahm er sich ihr gegenüber nicht misstrauisch. Leyla vermochte sich sein Verhalten ebenso wenig zu erklären wie seine vertrauliche Umgangsweise mit ihr. Da Rudger der einzige Vampir in Krinfelde war, der der Polizei mit Aussagen zur Verfügung stand, wenn es einen Fall zu bearbeiten galt in den Vampire involviert waren, trafen sie sich in unregelmäßigen Abständen auf dem Revier. Trotz seines höflichen und diskreten Auftretens waren ihre Kollegen stets in vermeintlich sicherem Abstand zu ihm geblieben. Sie verhielten sich Vampiren gegenüber äußerst vorsichtig, und Leyla konnte es ihnen nicht einmal verübeln, denn sie hatten es ausschließlich mit kriminellen Vampiren zu tun. Außerdem wäre Rudger im Zweifelsfall in der Lage gewesen, sämtliche Polizisten im Revier zu töten, bevor sie ihre Waffen gezogen hätten. Das hielt ihre Kollegen allerdings nicht davon ab, Leyla damit aufzuziehen, dass sie Rudger ohne Berührungsängste entgegen trat. Für sie war ein Vampir nicht gleich etwas Negatives, sondern eine andere Lebensform, die durchaus ihre Daseinsberechtigung hatte. Vielleicht würde die geplante Änderung der Gesetzeslage die Konflikte verringern und dadurch den ersten Schritt zur gegenseitigen Toleranz machen.
Rudgers Anwesenheit war für Leyla nie beängstigend, sondern auf unerklärliche Weise selbstverständlich. Selbst bei alltäglichen Begegnungen auf dem Revier ließ sein Charme ihre Knie weich werden. Damit es niemand bemerkte, gab sie sich ihm gegenüber stets reserviert, während in ihrem Innern das Blut in Wallung geriet. Mensch und Vampir gingen keine Beziehungen ein und so manche Frau erlag nur allzu gern der sexuellen Anziehungskraft eines Vampirs. Das wurde allgemein mit Ablehnung betrachtet, und Leyla gehörte nicht zu der Sorte Frau, die leicht zu haben war. Allerdings fühlte es sich schon anders an, ihn hier in einer privaten Umgebung anzutreffen. Sie spürte Rudgers Blicke im Rücken und rieb unauffällig ihre feuchten Hände an ihrer Jeans ab.
Sie ist ein Mensch, sagte Leyla, als sie wieder bei ihm stand und warf einen Seitenblick zu seiner Mitarbeiterin.
Ja, das ist sie. Es arbeiten einige Menschen für mich, weil sie meine Leitung als gerecht empfinden.
Ach was? So fair wie bei Antonio?
Antonio hat es sich ausgesucht, Leyla. Anderen menschlichen Mitarbeitern gefiel der Umgangston zwischen Geschäftsleitung und Personal im Aurodom nicht mehr. Sie waren teilweise jahrelang als zuverlässige und freundliche Angestellte bekannt, bis Peter das Zepter der Geschäftsleitung übernahm.
Ich kenne Peter Strade. Ein sehr charmanter Chef. Leyla schnitt eine Grimasse.
Gewiss, solange Sie sich vor den Kassen befinden und im Begriff sind, Ihr Geld bei ihm zu lassen. Was seine Vorstellung von Personalführung betrifft würde ich sagen, dass ich Zeiten erlebt habe, in denen er sich mit seiner Einstellung sehr wohl gefühlt hätte. Aus meiner Sicht ist es noch nicht lange her, dass ein Arbeiter keinerlei Rechte hatte. Rudger lächelte zu ihr herab.
Und Sie sind sozial? Leyla konnte sich einen sarkastischen Unterton nicht verkneifen.
Ja, das bin ich. Ich tadele wenn nötig, und lobe, wenn Lob angebracht ist. Peter respektiert seine Belegschaft ebenso wenig wie uns Vampire.
Damit steht er nicht allein da. Die meisten Menschen fühlen sich in der Gegenwart von Vampiren unbehaglich.
Weil sie Angst haben. Peter hat keine Angst, sondern seine eigene Vorstellung von einer funktionierenden Gesellschaft. Als er die Leitung der unteren Etagen übernahm, hatte er die Idee, Vampiren den Zutritt zu verwehren, indem er Verbotsschilder im Haus verteilte. Seine Lippen verzogen sich zu einem bezaubernden Schmunzeln. Leyla schwieg, weil sie Rudger in diesem Punkt zustimmen musste. Ein derart diskriminierendes Verhalten bot den Nährboden für Unruhen. Er wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass ich der Besitzer des Komplexes bin. Seine Vorgesetzten in Frankfurt haben ihn dann darüber in Kenntnis gesetzt und Peter musste sich zähneknirschend beugen. Das hat ihm nicht gefallen, und seine Reaktion können Sie sich vorstellen. Wer nach oben buckelt, der tritt nach unten. Rudger hielt inne und betrachtete Leyla eingehend. Sie musste schlucken, als sie feststellte, dass ihr Puls unter seinem Blick empor schnellte. Aber lassen wir das. Ich will Sie nicht länger aufhalten. Ihre Freundin wartet auf Sie und wir sehen uns noch zu einem späteren Zeitpunkt.
Er verbeugte sich formvollendet und verschwand kurz darauf in der Menge.
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