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Führungsqualitäten
Immer wieder einmal lese ich von (exorbitant teuren) Management-Kursen, in denen in einem Wolfsgehege Menschen beigebracht werden soll, „wie ein Alpha zu führen“. Nun, abgesehen davon, dass man echte „Führung“ nicht in einer künstlichen Gehegesituation lernen kann, so zeigen uns die Wölfe in der Wildnis, dass es hier die Frauen sind, die die Wolfswelt regieren. Yellowstone ist voll von solchen Persönlichkeiten. Und manchmal kommt ein Wolf daher, der ein ganz besonderes Charisma hat, dem sich niemand entziehen kann – weder Wolf noch zweibeiniger Fan. So wie unser „Casanova-Wolf“, der uns zeigte, dass man nicht unbedingt der Boss sein muss, um etwas zu erreichen.
Was also macht eine Führungspersönlichkeit aus? Ist es Stärke, Mut, Größe oder Klugheit? Nichts von allem. Führung ist ganz individuell. Die Führung einer Wolfsfamilie obliegt nicht einem einzigen Tier. Je nach Lebenssituation und Fähigkeiten können auch andere Tiere eine Gruppe anführen. Im heimischen Revier können das sogar Jungwölfe sein. Dem Leitwolf bricht deshalb kein Zacken aus der Krone. In einer Wolfsfamilie kommt es auf Erfahrung an. Trifft ein Anführer aufgrund seiner Erfahrung und Überzeugungskraft in bestimmten Situationen eine Entscheidung, wird diese von der Gruppe akzeptiert. Führung ist also so individuell wie die Persönlichkeit, die sie ausübt. Es gibt nicht die Führungspersönlichkeit. Nicht jeder Wolf ist zum Führen bestimmt. Und auch nicht jeder will unbedingt der Boss sein. Viele Wölfe sind zufrieden damit, ihre Aufgabe in der Gruppe zu haben. Sie sind Babysitter, Spurenzieher oder Treiber bei der Jagd. Ihre besonderen Fähigkeiten sind wichtig für die Familie – unabhängig von ihrer Position.
Dass man zwar Führungsqualitäten haben kann, aber nicht unbedingt der Chef sein muss – oder will –, zeigt die Geschichte von einem der bekanntesten Yellowstone-Wölfe: Nummer 302 M, genannt »Casanova«.
Ich sah den zweijährigen Wolf zum ersten Mal im Winter 2003, als er im Lamar Valley erschien und versuchte, bei der Druid-Familie aufgenommen zu werden. Den Namen »Casanova« erhielt er, weil er ein Meister darin war, die Wölfinnen zu bezirzen – und zwar nicht nur die Druid-Damen, sondern auch die Ladies der anderen Wolfsfamilien im Park. Obwohl er letztendlich von den Druids adoptiert wurde, war er jeden Winter während der Paarungszeit auch in anderen Revieren unterwegs. Seine amourösen Ausflüge waren erfolgreich. Casanova sorgte für reichlich Nachwuchs in Yellowstone. Doch als der alte Leitwolf der Druids starb, übernahm Casanova nicht wie erwartet dessen Position, sondern überließ sie seinem zwei Jahre jüngeren Bruder. Er hatte offensichtlich »Wichtigeres« zu tun, als sich um die Familie zu kümmern. Erst im reifen Wolfsalter von neun Jahren wanderte er ab und gründete eine eigene Familie. Sie ließen sich auf dem Blacktail Plateau nieder und waren fortan die »Blacktail-Wölfe«. So wurde der Wolf, der nie ein Leitwolf sein wollte, auf seine alten Tage doch noch der Boss. Es ging ihm gut in dieser neuen Position, wenngleich sein Leben jetzt ein wenig anders aussah als früher. Er hatte nun eine große Verantwortung: eine Familie, die er beschützen musste. Im Herbst 2009 wurde Casanova von einem fremden Wolf getötet. Sein Leben hat uns gezeigt, dass man nicht unbedingt der Boss sein muss, um etwas zu erreichen. Auf eine charmante und beständige Art hat Casanova auf seine Weise zum Erhalt der Wolfspopulation von Yellowstone beigetragen.
2009 führte ich als Guide eine kleine Gruppe Frauen durch Yellowstone. Einige von ihnen waren selbständig tätig, andere in leitenden Positionen. Sie waren auf einer Reise durch die Rocky Mountains und hatten mich für zwei Tage gebucht.
Natürlich kam die Sprache auch auf Führungsqualitäten und darauf, wer in einer Wolfsfamilie »die Hosen anhat«. Ich zeigte den Frauen die graue Leitwölfin der Lamar-Canyon-Wolfsfamilie mit dem Namen »06 Female«. Die Wölfin hat das Herz ihres Vaters, des legendären und mutigen Agate-Leitwolfes 113 M, dem bei einem Kampf die Hoden herausgerissen wurden und der von seiner Familie gesund gepflegt wurde. Ihr Name ist ihr Geburtsjahr (2006).
Sie war eine dreijährige starke und sehr selbstbewusste Wölfin. Wir kennen das von Menschen, die eine gewisse Ausstrahlung haben, der sich kaum jemand entziehen kann. Anfangs war die Wölfin allein unterwegs. Irgendwann kamen zwei große schwarze Rüden hinzu. Es war Paarungszeit, und wir beobachteten, wie wählerisch sie war. Einer der Rüden umwarb sie und versuchte, sich bei ihr einzuschmeicheln. Sie ließ ihn zappeln.
»Oh, der Arme«, klang es einstimmig aus meiner Gruppe.
»Schaut dort. Sie ist an dem anderen Wolf interessiert«, sagte ich.
»Aber der will nicht«, bedauerte eine der Frauen die Wölfin.
»Ach ja, das kenn ich«, seufzte die andere, während alle losprusteten. Fasziniert beobachteten wir, wie die Wölfin ganz allein einen großen Wapitihirsch angriff und erlegte, während die Rüden entspannt zusahen. Dafür mussten sie lange betteln, bevor sie sich an den gedeckten Tisch setzen durften.
»Richtig so! Strafe muss sein«, kam prompt der Kommentar aus meiner Gruppe.
»Bei den Wölfen sind es überwiegend die Weibchen, die eine Familie anführen«, erklärte ich ihnen. »Wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, ist es oft so, dass sich nicht nur die Jungwölfe, sondern auch der Partner an der Leitwölfin orientieren.«
Nachdenkliche Gesichter.
»Woran erkennen wir, welcher Wolf der Leitwolf ist?«, fragten die Frauen.
»Am leichtesten an der Schwanzstellung«, antwortete ich. »Leitwölfe tragen ihren Schwanz im Allgemeinen in einer höheren Position. Achtet auch darauf, wie die Wölfe urinieren. Bei den Wölfen urinieren die Leitwölfe mit erhobenem Bein, und zwar die Weibchen und die Rüden. Alle anderen hocken sich beim Urinieren hin – auch die Rüden.«
Die Familie der »06 Female« ist übrigens im Jahr 2011 um vier Welpen angewachsen. Die Wolfsrüden haben inzwischen dazugelernt. Es herrscht moderne Arbeitsteilung in der kleinen Familie. Die Rüden kümmern sich aufopferungsvoll um den Nachwuchs. Gelegentlich helfen sie auch bei der Jagd. Aufgrund ihrer Erfahrung und ihrer besonderen Kenntnisse ist es jedoch meist die Wölfin, die das Futter nach Hause bringt. Die Wolfsrüden scheinen emanzipiert genug zu sein, dass sie damit kein Problem haben.
Heimat und Familie – die Lektion, die ich von den Wölfen zu diesen Themen gelernt habe, ist für mich noch lange nicht abgeschlossen. Ich beneide die Wölfe um die Einfachheit und Klarheit, mit der sie in ihren Familien leben. Aber die Wölfe erinnern mich stets auch daran, dass das Paradies nicht perfekt ist und dass wir immer eine neue Chance haben.
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