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Bilanz
Am Ende meines Buches ziehe ich Bilanz. Bereue ich es, dass ich damals als Anwältin ausgestiegen bin? Nein! Ich bin für jeden Tag dankbar, den ich so leben darf, wie ich es mir immer gewünscht habe. Wenn ich jetzt auf der Stelle tot umfallen würde, dann wäre ich froh, all dies erlebt zu haben. Meine Erlebnisse reichen sicher für mehrere Leben. Es war nicht immer leicht, aber ich hatte ein Ziel, das größer war, als ich selbst. Am Ende bin ich – dank der Wölfe – hoffentlich ein besserer Mensch geworden.
Jedem der einen Traum hat, möchte ich ein Zitat von einem meiner Lieblingsschriftsteller auf den Weg geben, von Henry David Thoreau:
„Wenn ein Mensch vertrauensvoll die Richtung einschlägt, die ihm seine Träume weisen, wenn er danach strebt, sein Leben so zu leben, wie es ihm vorschwebt, dann werden ihm Erfolge beschieden sein, von denen er in den Stunden des Alltags nur träumen konnte. Manches wird er aufgeben, er wird eine unsichtbare Grenze überschreiten, neue, universellere Gesetze werden von ihm Besitz ergreifen. ... Hast du Luftschlösser gebaut, so war dies nicht vergeblich. Nun gib ihnen ein Fundament.“
Viele Menschen, die einmal wilde Wölfe gesehen haben, gehen dankbar nach Hause. Einige von ihnen werden sogar verstehen, dass es nicht nur reicht, Wölfe zu schützen, sondern dass wir auch die zu ihnen gehörende Natur schützen müssen. Gigantische Landflächen werden zersiedelt und bebaut. Zu erleben, wie sensibel die Natur ist, wie sich alles zusammenfügt, verändert uns vielleicht.
Wildnis ist in uns und um uns herum. Manchmal verdrängen wir, wie wichtig sie für uns ist. Wir sehnen uns nach ihr zurück. Das erlebe ich bei jedem Menschen, der zum ersten Mal in die Augen eines Wolfes sieht.
Die Wildnis und die Wölfe haben mich auf der Suche nach mir selbst etwas ganz Besonderes finden lassen: ein Gefühl von Demut und Ehrfurcht darüber, welcher Platz mir in der Natur zugewiesen wurde.
Ich habe in Yellowstone viele Wölfe kennenlernen dürfen, die mich mit ihrer Persönlichkeit berührt haben.
Da war die Wölfin, die einen Stock im Maul trug und ihre Welpen damit lockte, ihr durch den schnell fließenden Fluss zu folgen. Die Kleinen standen vor dem kalten Wasser und lernten ihre erste Lektion: Leben bedeutet, sich der Gefahr zu stellen.
Dann der berühmte Leitwolf der Druids, Nummer 21. Er hatte mehr Persönlichkeit als viele Menschen, die ich kenne.
Und er hatte wahrlich das Herz eines Wolfes. Kamen Bären in sein Revier, starrte er sie nur an und machte ihnen klar, dass dies sein Territorium war.
Ich sah Wölfe jagen. Mit hellwachen Augen umkreisen sie eine Herde. Dabei wird ihre Intelligenz ebenso spürbar wie ihre Grazie. Sie sehen das Unsichtbare, kennen die Schwäche ihrer Beute. Ich sah sie großwerden und Welpen aufziehen. Sah das graue Fell des Alters. Sah sie Wunden lecken und Kämpfe gewinnen. Sah sie mit blutigen Lefzen aus dem Kadaver eines Beutetieres auftauchen.
Sie haben mich Freiheit gelehrt und Treue. Verrat, Trauer und Verlust. Sie haben mir beigebracht, wie wichtig eine Familie ist, dass wir die begrüßen, die wir lieben, und dass wir das Leben feiern, selbst wenn es nur ein kurzer Augenblick im grünen Gras des Lamar Valley ist.
Sie lehrten mich die zu finden, die ich verloren glaubte, die Grenzen des Lebens zu respektieren und das zu verteidigen, was zu einem gehört, selbst bis zum Tod.
Ich sah sie spielen, heulen, kämpfen. Erlebte ihre Romanzen und Lieben.
Ich sah, wie sie das Leben um sich herum stärker, wilder, gesünder und geheimnisvoller machten.
Ich habe sie leben und sterben sehen, und ich behalte sie in meiner Erinnerung und für alle Zeit in meinem Herzen.
Mein Leben hat sich in Vielem verändert, seit ich mehr im Einklang mit der Natur lebe. Ich sehe mich jetzt als ein Teil meiner Umwelt. Das bedeutet auch, dass ich Verantwortung für sie trage. Ich kaufe meine Lebensmittel beim örtlichen Bauern und pflanze meinen Salat selbst an. Ich brauche keine Erdbeeren im Winter, sondern ernähre mich nach den Jahreszeiten. Ich spare Energie, fahre ein kleines Auto oder mit dem Zug. Zugegeben – meine Flüge nach Amerika zur Wolfsforschung passen nicht in dieses Konzept. Ich bin nicht perfekt und mache auch Fehler. Doch so wie die Wölfe gehe ich jetzt entspannter durch das Leben. Ich liebe meine Familie und meine Freunde und genieße jede Minute, die ich draußen in der Natur bin. Wildnis finde ich auch im heimischen Wald. Ich freue mich, wenn ich Füchse sehe oder Rehe beobachten kann. Sogar einen Dachs habe ich schon beim Hundespaziergang entdeckt. Die Wunder der Natur sind überall.
Als ich vor über zwanzig Jahren mein altes Leben hinter mir ließ, hatte ich einen Traum: Ich wollte wilde Wölfe erleben. Zunächst jedoch erlebte ich den Spott von Freunden, finanzielle Probleme und einen gesellschaftlichen Abstieg.
»Wenn du das wirklich willst, dann musst du es tun«, riet mir meine beste Freundin.
»Woher weiß ich, dass ich es wirklich will und dass es nicht nur ein kurzzeitiger Spleen ist?«
»Du musst brennen. Du musst es mehr als alles auf der Welt wollen und bereit sein, viel dafür aufzugeben. Wenn du stark genug brennst, dann schaffst du es auch.«
Das Feuer in mir brannte stark, um mich gegen alle Widerstände durchzusetzen. Ich hatte mich auf den Weg gemacht, meinen Traum zu erfüllen.
In Wolf Park habe ich Wölfe geküsst und Kojoten gestreichelt und in Minnesota mit wilden Wölfen geheult. In Yellowstone schließlich fand ich meine Erfüllung.
Jeder von uns kann sich seine Träume erfüllen. Auch Sie! Dazu müssen Sie weder Wölfe küssen noch in weite Länder reisen. Wofür brennen Sie? Was ist Ihr sehnlichster Wunsch? Im Alter noch einmal studieren? Aus Ihrer unglücklichen Ehe ausbrechen? Oder einen eigenen kleinen Laden eröffnen? Sie können es. Lassen Sie sich von nichts und niemandem abhalten. Schauen Sie mich an – wagen Sie es, zu träumen, und vertrauen Sie darauf, dass Sie es schaffen werden.
Vertrauen ist die größte Lektion, die ich in meinem neuen Leben gelernt habe. Tiere kennen keine Zweifel. Sie leben in einer Art Urvertrauen. Das bedeutet nicht, dass sie keine Katastrophen erleiden. Aber sie vertrauen darauf, dass alles gut werden wird. Also vertrauen auch Sie! Folgen Sie Ihrem Traum. Machen Sie sich auf den Weg!
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