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Hundertvierzehn | Willemsens Wecker
Die Terrasse

Willemsens Wecker #5. Der tägliche Wachmacher zur Buchmesse, mit Themen, über die es sich heute nachzudenken lohnt, nicht nur, aber auch aus der Welt der Bücher. Heute über die Messe als Ort literarischer Szenen und Geschichten.

 

Lesen Sie mehr:

Willemsens Wecker #1 – Eröffnungsrhetorik
Willemsens Wecker #2 – Anders als Sauerbraten
Willemsens Wecker #3 – In aller Stille
Willemsens Wecker #4 – Das Unaussprechliche
Willemsens Wecker #5 – Die Terrasse
Willemsens Wecker #6 – Kehraus

Auf, auf, Tag 4 der Buchmesse ist angebrochen! Halb wach taumele ich in den Frühstücksraum. Vor Jahren sah ich hier Sven Regener beim einsamen Speisen zu. Er kaute sein Essen regelrecht nieder. Nimm das, Brötchen! Und das! Man möchte morgens kein Backwerk auf diesem Teller sein, aber, wie Peter Altenberg gesagt hätte, »zwischen den Zähnen eines Hechtleins stirbt es sich auch nicht angenehmer«. Heute sitzt auf Sven Regners Platz Robert Seethaler, leise, versunken, einen Kokon um sich und den Tisch spannend. Kann es sein, dass die Formen des Schreibens und des Essens verwandt sind?

Ich wende mich den Fragen zu, die die Zeitungen mir heute beantworten, ehe ich sie mir selbst stellen konnte: »Ist die AfD nicht eurokritisch genug?«, »Wie gefährlich ist das Schwertschlucken?« und »Wie kommen so viele fremde Fische in deutsche Flüsse?« Das Boot ist voll, auch in unseren Flüssen?

Roger Willemsen

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller ›Der Knacks‹, ›Die Enden der Welt‹, ›Momentum‹ und ›Das Hohe Haus‹. Über sein umfangreiches Werk gibt Auskunft der Band ›Der leidenschaftliche Zeitgenosse‹, herausgegeben von Insa Wilke.

Wenn man dann aus der Welt der Zeitung in die Welt der Bücher schweift, verlässt man diese Gegenwart für eine andere. In den letzten Jahren war die Terrasse der Halle 3 immer wieder die Bühne solcher Gegenwart für mich. Dort steht ein Theo-Zwanziger-Double hinter der Theke eines Imbisswagens und erhitzt Flachbrote. Gestern sollte ich dort spontan den ersten Satz eines ungeschriebenen Krimis formulieren, blickte auf die tätowierten Oberarme einer jungen Frau auf der Bank und stellte mir vor, wie die halb entfernten Initialen eines Liebhabers zur Spur in einem Verbrechen taugen könnten. Von unten hörte ich dabei einen Rapper von der Musikbühne krähen: »Seid Ihr gut drauf?« Drei Kinderstimmen sagten: »Ja«. Im selben Augenblick sprach man in Stockholm zwei Kinderrechtlern den Friedensnobelpreis zu.

Die Frau neben mir erzählt gerade von einem semiprofessionellen Wrestler, der auch Comics zeichnet, und bei der Präsentation seines Buches auf den Tisch sprang. Jemand möchte, dass ich vor einer Kamera die Neujahrsansprache für Parlamentarier simuliere. Ich mache die Raute, schäme mich, kehre zurück in die Halle. Ein Mann kommt heran, ich erkenne ihn, wir sehen uns immer nur hier. Wieder öffnet er seinen Rucksack, entnimmt ihm eine in Pappe eingepackte Engadiner Nusstorte und geht schweigend davon. Er macht das seit Jahren. Er fordert nichts. Er erklärt sich nicht. Ich esse seine Torte seit Jahren, dankbar, auch für sein Schweigen.

Ich kehre zurück auf die Terrasse. Hier habe ich vor Jahren Jörg Bong gesagt, dass ich gerne zum S. Fischer Verlag kommen würde. Er umarmte mich und wir dachten uns die nächsten Bücher aus. Seitdem gehen wir jährlich dreimal hin und zurück über die Terrasse. Dieses Mal steht eine Freundin aus der unterfränkischen Provinz dort. Ich stelle die beiden einander vor. Dann fragt ihn die Freundin, es ist ihr erster Satz: »Soll ich Ihnen mal Marmelade schicken?« Das Staunen in seinem Gesicht breitet sich wohlwollend gleichermaßen über Frau wie über Marmelade aus.

Da fallen mir die zwei kleinen Mädchen in Manga-Kostümen ein, auf einer der letzten Messen. Große weiße Flügel trugen sie, die mit Federn besetzt hinter den spröden kleinen Gesichtern aufstiegen. Dazu trugen sie Blech-Broschen. »Was bedeutet die hier?« fragte ich, auf eine zeigend. »Das ist doch...« es folgte ein Wort, das ich nie gehört hatte. »Und die?« Ich zeige zur nächsten Brosche. »Aber die bedeutet doch...« Ich kannte auch diese Vokabel nicht. Anschließend ließen sie mich wissen, dass ich keine Ahnung hätte, und ich gab ihnen recht. Ich war schon hundert Meter weit weg, da kam eines der Mädchen gelaufen, riss sich eine Feder aus dem Flügel und schenkte sie mir. Ich besitze sie noch. Die Buchmesse ist auch ein literarischer Raum, proppevoll mit Szenen, Geschichten, angefangenen Erzählungen. An glücklichen Tagen begleiten sie dich vom Frühstück bis zu den Engeln.

Das Hohe Haus

Ein Jahr lang sitzt Roger Willemsen im Deutschen Bundestag – nicht als Abgeordneter, sondern als ganz normaler Zuhörer auf der Besuchertribüne im Berliner Reichstag. Es ist ein Versuch, wie er noch nicht unternommen wurde: Das gesamte Jahr 2013 verfolgt er in jeder einzelnen Sitzungswoche, kein Thema ist ihm zu abgelegen, keine Stunde zu spät. Er spricht nicht mit Politikern oder Journalisten, sondern macht sich sein Bild aus eigener Anschauung und 50000 Seiten Parlamentsprotokoll. Als leidenschaftlicher Zeitgenosse und »mündiger Bürger« mit offenem Blick erlebt er nicht nur die großen Debatten, sondern auch Situationen, die nicht von Kameras erfasst wurden und jedem Klischee widersprechen: effektive Arbeit, geheime Tränen und echte Dramen. Der Bundestag, das Herz unserer Demokratie, funktioniert – aber anders als gedacht.

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Frankfurt am Main 2020
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