Ich wende mich den Fragen zu, die die Zeitungen mir heute beantworten, ehe ich sie mir selbst stellen konnte: »Ist die AfD nicht eurokritisch genug?«, »Wie gefährlich ist das Schwertschlucken?« und »Wie kommen so viele fremde Fische in deutsche Flüsse?« Das Boot ist voll, auch in unseren Flüssen?
Wenn man dann aus der Welt der Zeitung in die Welt der Bücher schweift, verlässt man diese Gegenwart für eine andere. In den letzten Jahren war die Terrasse der Halle 3 immer wieder die Bühne solcher Gegenwart für mich. Dort steht ein Theo-Zwanziger-Double hinter der Theke eines Imbisswagens und erhitzt Flachbrote. Gestern sollte ich dort spontan den ersten Satz eines ungeschriebenen Krimis formulieren, blickte auf die tätowierten Oberarme einer jungen Frau auf der Bank und stellte mir vor, wie die halb entfernten Initialen eines Liebhabers zur Spur in einem Verbrechen taugen könnten. Von unten hörte ich dabei einen Rapper von der Musikbühne krähen: »Seid Ihr gut drauf?« Drei Kinderstimmen sagten: »Ja«. Im selben Augenblick sprach man in Stockholm zwei Kinderrechtlern den Friedensnobelpreis zu.
Die Frau neben mir erzählt gerade von einem semiprofessionellen Wrestler, der auch Comics zeichnet, und bei der Präsentation seines Buches auf den Tisch sprang. Jemand möchte, dass ich vor einer Kamera die Neujahrsansprache für Parlamentarier simuliere. Ich mache die Raute, schäme mich, kehre zurück in die Halle. Ein Mann kommt heran, ich erkenne ihn, wir sehen uns immer nur hier. Wieder öffnet er seinen Rucksack, entnimmt ihm eine in Pappe eingepackte Engadiner Nusstorte und geht schweigend davon. Er macht das seit Jahren. Er fordert nichts. Er erklärt sich nicht. Ich esse seine Torte seit Jahren, dankbar, auch für sein Schweigen.
Ich kehre zurück auf die Terrasse. Hier habe ich vor Jahren Jörg Bong gesagt, dass ich gerne zum S. Fischer Verlag kommen würde. Er umarmte mich und wir dachten uns die nächsten Bücher aus. Seitdem gehen wir jährlich dreimal hin und zurück über die Terrasse. Dieses Mal steht eine Freundin aus der unterfränkischen Provinz dort. Ich stelle die beiden einander vor. Dann fragt ihn die Freundin, es ist ihr erster Satz: »Soll ich Ihnen mal Marmelade schicken?« Das Staunen in seinem Gesicht breitet sich wohlwollend gleichermaßen über Frau wie über Marmelade aus.
Da fallen mir die zwei kleinen Mädchen in Manga-Kostümen ein, auf einer der letzten Messen. Große weiße Flügel trugen sie, die mit Federn besetzt hinter den spröden kleinen Gesichtern aufstiegen. Dazu trugen sie Blech-Broschen. »Was bedeutet die hier?« fragte ich, auf eine zeigend. »Das ist doch...« es folgte ein Wort, das ich nie gehört hatte. »Und die?« Ich zeige zur nächsten Brosche. »Aber die bedeutet doch...« Ich kannte auch diese Vokabel nicht. Anschließend ließen sie mich wissen, dass ich keine Ahnung hätte, und ich gab ihnen recht. Ich war schon hundert Meter weit weg, da kam eines der Mädchen gelaufen, riss sich eine Feder aus dem Flügel und schenkte sie mir. Ich besitze sie noch. Die Buchmesse ist auch ein literarischer Raum, proppevoll mit Szenen, Geschichten, angefangenen Erzählungen. An glücklichen Tagen begleiten sie dich vom Frühstück bis zu den Engeln.

Ein Jahr lang sitzt Roger Willemsen im Deutschen Bundestag – nicht als Abgeordneter, sondern als ganz normaler Zuhörer auf der Besuchertribüne im Berliner Reichstag. Es ist ein Versuch, wie er noch nicht unternommen wurde: Das gesamte Jahr 2013 verfolgt er in jeder einzelnen Sitzungswoche, kein Thema ist ihm zu abgelegen, keine Stunde zu spät. Er spricht nicht mit Politikern oder Journalisten, sondern macht sich sein Bild aus eigener Anschauung und 50000 Seiten Parlamentsprotokoll. Als leidenschaftlicher Zeitgenosse und »mündiger Bürger« mit offenem Blick erlebt er nicht nur die großen Debatten, sondern auch Situationen, die nicht von Kameras erfasst wurden und jedem Klischee widersprechen: effektive Arbeit, geheime Tränen und echte Dramen. Der Bundestag, das Herz unserer Demokratie, funktioniert – aber anders als gedacht.