Und doch, in den letzten Tagen fiel mir immer wieder ein Satz von Gustave Flaubert ein, in seinem Grunde ein dämonisch flackernder Satz, den wir in die Gegenwart retten müssen. Er lautet: »Was mich vor der Ausschweifung und dem Laster bewahrt hat, war nicht die Tugend, sondern die Ironie.« (Und nicht der Brandschutz, möchte man ergänzen.) Aber die Ironie, dieses zeitgenössische Verhalten des Uneigentlichen, der nicht gemeinten, schon gar nicht belastbaren Sätze, der Halbdistanz zu allem Ernst, dem Nachweis der Unberührtheit, diese Ironie liegt auch über der Messe und sickert durch die Sprechformen.
Denn wann war zuletzt eine Buchmesse, immerhin ein internationales Großereignis, so umlagert von Kriegen und Zerstörungsszenarien, und wie unangefochten liegt sie da! Man setzt das Wissen um diese Situation voraus, aber kaum irgendwo erscheint diese, noch seltener wird der Versuch angestrengt, sie erfahrbar zu machen. Irre ich mich, oder ist diese Messe weniger politisch als alle der letzten Jahre und hätte doch mehr Grund es zu sein?
»Der Spiegel« kündigt an »Die Hits des Literaturherbstes: Die zwanzig wichtigsten Bücher«, vermutlich rezensiert von den zwanzig wichtigsten »Spiegel«-Redakteuren. Im Text sind es dann nicht mehr die »wichtigsten Bücher«, sondern nur noch die »wichtigsten Romane«, aber immerhin alle »Hits«. Diese superlativische Sicht hat sich durchgesetzt, provoziert aber dem gesamten Feuilleton gegenüber die Frage: Wo sind die Entdeckungen, wo Spürsinn und Neugier auf eine Literatur, die die Gegenwart der politischen Konflikte und Kriege behandelt? Wo ist der Wunsch, eine Literatur zu lesen, die kompetent vom Krieg erzählen kann und nicht harmlos, nicht ironisch ist? Die Buchmesse zumindest hat durch die Veranstaltungsreihe »Zwischen Zeilen«, mit Lesungen der Literatur von Orten der Gewalt reagiert. Aber hätte sich das Feuilleton nicht dieses Mal, stärker als zuvor, dem Aufspüren, dem Debattieren widmen müssen? Es hätte damit nicht zuletzt auch der eigenen Bedeutung einen Dienst erwiesen.
So aber bleibt von der Messe vor allem ein politischer Moment in Erinnerung, auch er symbolisch: Das erste Lesen in der Kindheit der Menschheit war das Entziffern der Fährten im Dreck, als man sich aus den wenigen Spuren das Tier, den Feind zusammensetzen musste. Die Fußspur war die Schrift, sie repräsentierte das Ganze. Im Teppich zwischen den Regalen des Fischer-Standes blieben Reifenspuren zurück. Sie gehörten dem Rollstuhl von Helmut Kohl, der im Tross der Bodyguards, begleitet von den motorbetriebenen Fotokameras der Paparazzi zu einem Foto-Termin geschoben wurde, aufrecht, erstarrt zwischen dem Statthalter seiner selbst und dem Denkmal. Die Umstehenden nannten es »gespenstisch«. Das war es auch als Repräsentation der Politik, die an diesem Ort bloß durch geisterhafte Abwesenheit anwesend war.

Ein Jahr lang sitzt Roger Willemsen im Deutschen Bundestag – nicht als Abgeordneter, sondern als ganz normaler Zuhörer auf der Besuchertribüne im Berliner Reichstag. Es ist ein Versuch, wie er noch nicht unternommen wurde: Das gesamte Jahr 2013 verfolgt er in jeder einzelnen Sitzungswoche, kein Thema ist ihm zu abgelegen, keine Stunde zu spät. Er spricht nicht mit Politikern oder Journalisten, sondern macht sich sein Bild aus eigener Anschauung und 50000 Seiten Parlamentsprotokoll. Als leidenschaftlicher Zeitgenosse und »mündiger Bürger« mit offenem Blick erlebt er nicht nur die großen Debatten, sondern auch Situationen, die nicht von Kameras erfasst wurden und jedem Klischee widersprechen: effektive Arbeit, geheime Tränen und echte Dramen. Der Bundestag, das Herz unserer Demokratie, funktioniert – aber anders als gedacht.