Vor der Buchmesse 1844 schreibt der Verleger Julius Campe an seinen Autor Heinrich Heine: »Ein Hämorrhidal-Leiden ist die Summe meiner Beschwerden; die seit ca 3 Wochen (...) den Steiß mir glühend machen, wie der einer brütenden Henne seyn mag. (...) Dabei ist die Messe vor der Thüre!« Viel glühender Steiß erwartet uns auch hundertsiebzig Jahre später, und viel faules Ei, das aus diesem entlassen wurde.
Trotzdem liegt der anachronistische Zauber der Buchmesse auch in der Überfülle, die sie anbietet. Ihre Unvernunft und Verschwendung ist geradezu ein Rückzugsort ökonomischer Irrationalität. Denn wo sonst würden so viele Waren produziert, an die niemand glaubt, die, ob bedeutend oder belanglos, keine Aussicht auf Absatz haben? Und doch sitzen Millionen weltweit da, transzendieren sich über einem Manuskript, spannen eine Armada von Realisatoren ein und bringen am Ende etwas hervor, das mit Unsummen subventioniert ist. Im PR-Deutsch gesprochen, ist die Marke »Buch« intakter als ihr Markt.
Und doch: Im Parlament hörte ich eine Regierungsvertreterin sagen, dass die Kultur »kein weicher Standortfaktor« sei, sondern mit ihren Umsätzen die der Automobilindustrie erreiche. Trotzdem war Angela Merkel zuletzt 2009 auf der Buchmesse, aber ich glaube, keine Automobilmesse hat sie sich entgehen lassen – vielleicht, weil sie dort ihre Sätze über Bücher lernt: »Auch das Buch unterliegt den Gesetzen von Angebot und Nachfrage.« Leck misch fett, denkt der Rheinländer, dann hat das Buch ja schon wieder etwas mit dem Sauerbraten und der Duftkerze gemeinsam. Und doch irrt die Kanzlerin, entstehen doch ein paar der kostbarsten Bücher aus keinem anderen Grund, als weil sie wichtig gefunden werden, auch wenn sie sich nicht rechnen. Das ist beim Sauerbraten anders.
Doch weiß die Kanzlerin aller Deutschen, warum sie am Buch so hängt, stehe doch »kaum ein Genre der Kunst« so für »die Meinungsfreiheit«, »wie die Literatur.« Und es ist wahr: Der Linolschnitt, die Kirchenfenstermalerei, das Hörfunkballett, sie enttäuschen uns seit Jahren durch Angepasstheit und Duckmäusertum. Ja, wer weiß, ob Angela Merkel an der Macht wäre, hätte sich das Kunstpfeifen nur ein wenig meinungsstärker präsentiert!
Doch Entwarnung, wenn die Fakten nicht passen, bleiben immer noch die Überzeugungen, und so sagt die Kanzlerin deeskalierend: »Ich bin der festen Überzeugung, dass das klassische Buch seinen Platz in der Geschichte und in der Zukunft behalten wird.« Gut, da spricht die Frau, die auch gesagt hat: »Mit mir wird es keine Maut geben«. Trotzdem kann man entwarnen: Dem klassischen Buch bleibt, so Merkel, sein Platz in der Geschichte. Das gilt auch für die Maultrommel, den Aderlass, die Mistforke, ja, mir fällt überhaupt gerade nichts ein, dem man seinen Platz in der Geschichte so einfach streitig machen könnte. Es liegt wohl einfach an der Passéhaftigkeit der Vergangenheit.
Was allerdings die Zukunft angeht, so sind schon ganz andere Dinge gestorben und haben sich dabei nicht die Bohne um die »feste Überzeugung« von Angela Merkel geschert. Denn wenn man bedenkt, dass weniger Bücher der Zensur, umso mehr dagegen dem Markt zum Opfer fallen und weiter fallen werden, dann ist die heilige »Meinungsfreiheit« der Bücher genau dort gefährdet, wo man »Angebot und Nachfrage« nichts entgegenzusetzen hat. Der Buchmarkt aber hat, glücklicherweise.
Julius Campe hatte das zwar schon verstanden, nur einfach nicht lange genug vorgeschlafen, als er an Heine, einen Säulenheiligen der Meinungsfreiheit, schrieb: »Ich fühle, dass meine Kräfte nicht ausreichen, die Meßfatigue zu bewältigen.« Und ich bin der festen Überzeugung, dass die Meßfatigue ihren Platz in der Geschichte und in der Zukunft behalten wird.

Ein Jahr lang sitzt Roger Willemsen im Deutschen Bundestag – nicht als Abgeordneter, sondern als ganz normaler Zuhörer auf der Besuchertribüne im Berliner Reichstag. Es ist ein Versuch, wie er noch nicht unternommen wurde: Das gesamte Jahr 2013 verfolgt er in jeder einzelnen Sitzungswoche, kein Thema ist ihm zu abgelegen, keine Stunde zu spät. Er spricht nicht mit Politikern oder Journalisten, sondern macht sich sein Bild aus eigener Anschauung und 50000 Seiten Parlamentsprotokoll. Als leidenschaftlicher Zeitgenosse und »mündiger Bürger« mit offenem Blick erlebt er nicht nur die großen Debatten, sondern auch Situationen, die nicht von Kameras erfasst wurden und jedem Klischee widersprechen: effektive Arbeit, geheime Tränen und echte Dramen. Der Bundestag, das Herz unserer Demokratie, funktioniert – aber anders als gedacht.