Jahr: 2019

Rückblick auf #54readsMA // Potpourri zu Maya Angelou “Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt”

Im Januar haben wir im Rahmen unseres Lesekreises 54reads Maya Angelous „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ gelesen. Der Lesekreis hat seinen eigenen Twitter Account @54reads und der jeweilige Hashtag wird immer aus #54reads zusammen mit den Initialen der aktuellen Autor*in gebildet. Unter #54readsMA kam eine Reihe von interessanten Hinweisen, Diskussionen und Gedanken zusammen, die ich hier mit meiner Rezension für den DLF verschränke.

Maya Angelou wurde als Margerite Annie Johnson 1928 in St. Louis geboren. Nach dem Scheitern ihrer wilden Ehe schickten die Eltern sie im Alter von drei Jahren zusammen mit ihrem nur ein Jahr älteren Bruder Bailey nach Stamps in Arkansas zur Großmutter. Mit dieser Reise beginnt „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“, der erste Teil der Autobiographie von Maya Angelou.

Stamps selbst ist eine “muffige, alte Stadt“ in den Südstaaten. Dort ist die Großmutter „Momma“ als Eigentümerin eines Gemischtwarenladens glimpflich durch die Weltwirtschaftskrise gekommen. Maya und Bailey wachsen daher, zumindest finanziell, relativ behütet auf. Ganz anders geht es da den schwarzen Handlangern und Hausmädchen, vor allem aber den Baumwollpflückern, die sich während der Saison schon frühmorgens bei Momma versorgen. Maya sieht sie fröhlich zur Arbeit auf dem Feld aufbrechen und abends geschunden heimkehren. Schon das Kind realisiert, dass die Arbeiter so wenig verdienen, gleich wieviel sie pflücken, dass es doch nie reichen wird, um auch nur die Schulden bei Momma zu tilgen. Auch Maya leidet, trotz finanzieller Sorglosigkeit, unter der Diskriminierung.

Die Rassentrennung ist im Stamps der 1930er und 40er Jahre so absolut, dass die meisten schwarzen Kinder eigentlich nicht einmal wissen, wie Weiße aussehen. Angelous Rückschau wird dabei nicht aus der völligen Distanz der Erwachsenen erzählt, sondern bedient sich durchaus Gestaltungen von kindlichen Schilderungen ohne sprachlich aufgesetzt zu sein.

Das Mädchen hat früh gelernt, dass Weiße anders sind, dass man sie fürchten muss. Selbst in ihrer Abwesenheit ist es besser, nur Andeutungen zu verwenden und von “denen da” zu sprechen. Menschen im Wortsinn sind für Maya nur ihre Nachbarn, ihre Freunde, andere Schwarze. Rassentrennung grenzt nicht nur die Schwarzen aus dem Leben der Weißen aus, sondern ebenso umgekehrt.

Als besonders hart und verstörend beschreibt Angelou dann das Aufeinanderprallen dieser Wirklichkeiten, wenn Mitglieder der weißen Unterschicht auf die geliebte, nicht immer einfache, Großmutter treffen. Selbst zerlumpte Kinder können eine erfolgreiche Geschäftsfrau durch das bloße Ausspielen der gesellschaftlichen Gegebenheiten vor der Enkelin demütigen. Hilflos beobachtet Maya eine solche Szene. Ihr bleibt unverständlich, wie die von ihr verehrte Großmutter die Demütigung stoisch entgegennehmen und sogar noch höflich gegenüber ihren kindlichen Peinigern bleiben kann.

„Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ hat viele solcher Schlüsselszenen, etwa das Einfallen der Eltern in Stamps und der Umzug zurück zur Mutter nach St. Louis. Besonders traumatisch wirkt dort nicht das Neuerleben von Rassentrennung, nun in der Stadt, statt auf dem Land, sondern der sexuelle Missbrauch durch den Lebensgefährten der Mutter.

Das Verbrechen selbst nimmt nur wenige Sätze ein. Doch diese legen sich bleiern über die gesamte Erzählung. Die achtjährige Maya ist paralysiert.


Aus Angst um ihren Bruder, den der Vergewaltiger umzubringen droht, sollte sie etwas erzählen, schweigt sie zuerst. Doch nachdem ihr Bailey den Namen des Täters entlockt, kommt es zum Prozess. Maya Angelou schildert ihre eigenen Demütigungen dabei so sachlich, dass sie schwer zu ertragen sind. Als einige Familienmitgliedern für Maya Rache nehmen, empfindet man beim Lesen beschämenderweise fast Erleichterung. Die Achtjährige verstummt ob dieses Traumas. Aus dem selbstgewählten Schweigen taucht Maya erst wieder auf, als eine Bekannte ihrer Großmutter sie mit Literatur in Verbindung bringt. Mit Dickens, Thackeray und vor allem Shakespeare findet Maya ihre Sprache wieder.

Neben kleinen Akten der Rebellion prägt vor allem die kindliche Hilflosigkeit angesichts der Rassentrennung das Heranwachsen von Maya.
Edward Donleavy, ein Bürokrat, der auf der Abschlussfeier von Mayas Schule eine Lobrede auf die Verbesserungen in der Ausbildung hält, führt allen Anwesenden vor, dass hierdurch eigentlich nur das Vorankommen der sowieso privilegierten Weißen vereinfacht wurde. Jedem Absolventen weist Donleavy seinen Platz in der Gesellschaft zu: Während weiße Jugendliche die Chance haben, Galileos und Madame Curies zu werden, dürfen die schwarzen Jungen lediglich versuchen, Jesse Owens oder Joe Louis zu werden, die Mädchen sind ganz aus dem Spiel. Alle Versammelten erstarren und sind beschämt. Die Freude über den ersehnten Festtag ist vergällt. Und auch Maya ist zunächst entsetzt.

Erst jener Musterschüler, der die Abschlussrede unter dem Motto “Sein oder Nicht sein” halten soll, durchbricht die Fassungslosigkeit des Publikums. Außerplanmäßig stimmt er die “afroamerikanische Nationalhymne” “Lift Ev’ry Voice and Sing” an und gibt allen Anwesenden die in Minuten zerstörte Identität zurück. An dieser wie an vielen andern Stellen feiert Angelou die Kraft von Worten, Musik und Literatur.


“Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ endet, bevor die abenteuerliche berufliche Laufbahn der Autorin beginnt und eine Biographie wie keine zweite geprägt wird. Mit dem Buch setzt sie Mitgliedern ihrer Familie ein literarisches Denkmal und schreibt wie beiläufig eines der größten Memoirs über die Rassentrennung und über die Selbstbehauptung einer jungen, schwarzen Frau. Dabei sollte, abgesehen von den literarischen Qualitäten, die Selbstverständlichkeit, mit der Rassismus bis heute in unserer Gesellschaft verankert ist, Angelous Werk zur Pflichtlektüre in Schulen werden lassen. “Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ ist ein literarisches Mahnmal – leider immer noch. Richtig und wichtig daher, dass der Suhrkamp Verlag dieses grandiose Buch in der Übersetzung von Harry Oberländer neu aufgelegt hat. Die nicht alle zeitgemäß und gelungen finden und daher vielfacher Aufhänger für Diskussionen war.

Rezensionen anderswo:
https://zeichenundzeiten.com/2019/01/31/maya-angelou-ich-weiss-warum-der-gefangene-vogel-singt/
https://buch-haltung.com/maya-angelou-ich-weiss-warum-der-gefangene-vogel-singt/
https://buechnerwald.wordpress.com/2019/01/08/ich-weiss-warum-der-gefangene-vogel-singt/
https://www.54books.de/angelou-ich-weiss-warum-der-gefangene-vogel-singt/

Den Schuttberg erklimmen. Über Heinz Helles Roman „Die Überwindung der Schwerkraft“

„In diesem Augenblick erkannte A. wohl,
daß er die Welt nie in den Griff bekommen würde.“
(Paul Auster, Die Erfindung der Einsamkeit)

Der große Bruder in Heinz Helles Die Überwindung der Schwerkraft hätte das Zeug gehabt, ein berüchtigter Dozent an einem Schreibinstitut zu werden, in Biel, Wien oder Leipzig. Jedenfalls gibt er im Laufe eines Kneipenabends mit seinem jüngeren Bruder so manche Schriftstellerweisheit von sich:

„Ich habe immer versucht, die Erzählung zu finden, die davon handelt, wie gut es mir geht.“

„Es ist egal, wie sehr du einen Menschen liebst, wenn du ihn lange und genau genug ansiehst und dir dabei vorsagst, was du siehst, wird er verschwinden hinter den Wörtern, die du aus ihm machst.“

„Wie kann man auf eine interessante Weise davon erzählen, dass es noch viel dazwischen gibt, wie sollen wir das beschreiben, wie rühmen, wie kriegen wir es verdammt noch mal hin, dass wir uns endlich zu Hause fühlen, in dem großen, langweiligen, langen, bunten, unermesslichen Raum zwischen der Einsamkeit und dem Krieg?“

Aber die ersehnte Erzählung über das eigene gute Leben wird ausbleiben. Der gemeinsam verbrachte Abend in München, der Helle als erzählerisches Grundgerüst dient, wird das letzte geschwisterliche Treffen sein. Der große Bruder wird am Alkohol zugrunde gehen. Im Rückblick will der Erzähler, der unschwer als autofiktionales Pendant von Helle auszumachen ist, die Beziehung verstehen – und das heißt für ihn automatisch: literarisch erkunden. Dabei bleibt der biographische Bezug dezent und unaufdringlich. Er wird nicht als koketter voyeuristischer Kniff ausgespielt, sondern als Modus der Aufrichtigkeit begriffen: Hier spricht jemand von einem ungleichen Geschwisterpaar und meint damit nicht nur, aber eben auch sich selbst.

Der Große, das zeigen die Gespräche, an die sich der Kleine erinnert, ist wie ein Magnet, an dem alle möglichen Diskursspäne haften blieben, die unzähligen Wörter, Bilder und Videos, die uns umgeben. Der ganze Schrott dieser mühsamen medialen Jahre wird ihm zum Lebensthema, bis er der Sache überdrüssig wird. Das letzte Treffen arbeitet Helle als eine Art Protokoll auf, um diesen immer erratisch auftretenden Menschen zu portraitieren. Dabei kommt die posthume Entdistanzierung nicht ohne Pathos aus, schließlich schreibt hier jemand „mit dem zutiefst menschlichen Ziel, das jeder Austausch von Zeichen hat, der Erzeugung von Nähe“.

Auf einer ersten Stufe ist Die Überwindung der Schwerkraft als unaufdringliche und einfühlsame Beschreibung eines brüderlichen Verhältnisses zu lesen. Wie nah können sich die Zwei sein? Und ist eine Annäherung an den Vater möglich, von dem der Erzähler sagt, er habe „schlicht keine Sprache […] für Unterhaltungen mit ihm, in denen wir nicht einer Meinung sind, mein Vokabular ist nicht dafür geeignet, ihm zu widersprechen“?

Auf einer zweiten Ebene, die Helle nach und nach geschickt in die erste hineinmontiert, wird Die Überwindung der Schwerkraft zu einer sprachtheoretischen Schrift. Helle geht es dabei auch und besonders um das eigene Schreibhandwerk und die „Frage nach der Möglichkeit, mit Worten Einfluss zu nehmen auf das Leben“. Zugleich wird deren Umkehrung mitverhandelt: wie das Leben Einfluss nimmt auf die Worte. Solchen sprachphilosophischen Überlegungen widmet sich auch der Bruder, der jahrelang an einer Doktorarbeit gesessen hat, in der er sich dem Zusammenhang zwischen den Namen militärischer Operationen und derem Gelingen widmete. Dazu gehört auch die Operation Gomorrha, anlässlich der die Alliierten Hamburg im Juli und August 1942 massiv bombardierten. Bei seinen Recherchen stößt er, so erzählt er es seinem kleinen Bruder, auf eine „völlig neue, kategorial andere Schilderung“ der militärischen Operation:

„Das ebenso Merkwürdige wie Aufwühlende und später dann Beängstigende an seiner neuartigen Schilderung jener Luftangriffe sei die beinahe obszöne Poesie gewesen, in der das Unvorstellbare, das mein Bruder bis dahin immer nur mithilfe von isolierten Zahlen und Bildern, Statistiken, Augenzeugenberichten und technischen Daten versucht hatte bruchstückhaft zu imaginieren, plötzlich zu einer einheitlichen, zusammenhängenden Erfahrung wurde. Und obwohl ihm natürlich klar gewesen sei, dass seine Erfahrung der ruhigen, rhythmischen Prosa des Sprachforschers nicht viel mit der Erfahrung eines Bombenangriffs zu tun hatte, außer der Verarbeitung verschiedener Begriffe, die Dinge bezeichnen, die bei einem Bombenangriff von Bedeutung sind, war etwas in ihm überzeugt, dass es dem Autor, obwohl er selbst gar nicht dabei gewesen war, dennoch gelungen sei, einen kleinen Teil des echten Schreckens der Stadt Hamburg in Buchstaben zu konservieren und somit dazu beizutragen, dass dieser Schrecken niemals zu Ende ging.“

Einer, „der wirklich sich umsah“

Mit seiner Überwindung aktualisiert Helle eine Intervention von W. G. Sebald aus dem Jahr 1997. Damals hatte Sebald in Zürich in zwei Vorlesungen die These vorgebracht, die meisten deutschen Nachkriegsschriftsteller*innen seien daran gescheitert, die Bombennächte von Hamburg zu literarisieren: „Außer Heinrich Böll haben nur wenige andere Autoren wie Hermann Kasack, Hans Erich Nossack, Arno Schmidt und Peter de Mendelssohn es gewagt, an das über die äußere und innere Zerstörung verhängte Tabu zu rühren, zumeist freilich, wie noch zu zeigen sein wird, auf eine eher fragwürdige Weise.“

Dieses Scheitern an der Handhabung einer exzessiv erfahrenen Welt überträgt Helle ins digitale 21. Jahrhundert. (Um Vergleichbarkeit bzw. historische Analogisierung geht es ihm dabei nicht, sondern um die Aktualisierung der Frage, wie sich Leid und Schmerz künstlerisch bannen lassen.) Konsequenterweise lässt er sein Bruderpaar denn auch auf den Münchner Olympiaberg hochkraxeln, einem nach 1945 aufgeschütteten Hügel aus Weltkriegstrümmern. Sie besteigen gewissermaßen den Schuttberg, von dem bei Sebald zwanzig Jahre zuvor die Rede war. In der ersten Vorlesung hatte dieser gleich zu Beginn vom „Versagen vor der Gewalt der aus unseren ordnungswütigen Köpfen entstandenen absoluten Kontingenz“ gesprochen.

Bei Helle wiederum ist die Rede von „eine[r] Menge des Grauens, endlich und abzählbar, ohne Sinn oder Syntax“. Wenige Seiten zuvor hatte sich der Bruder in eine wüste Imagination der Verbrechen des Pädophilen Dutroux hineinerzählt und ohne Halt und Hemmung aus Ermittlungsakten zitiert, die als PDF-Dokumente frei verfügbar sind. Die Keller-Verliese in der belgischen Pampa werden heraufbeschworen, ebenso die Aussagen der überlebenden Mädchen anlässlich von Polizeibefragungen. Diese Gräuel-Interna, gepaart mit einer labilen Imagination, führen auf lange Sicht zum Kollaps. Wie, so lautet die zentrale Frage des Romans, soll man durch diese grauenbehaftete Welt gehen?

Um eine Antwort zu finden, steigert sich der Bruder in ein familiäres Phantasma hinein. Eine Freundin sei von ihm schwanger, gemeinsam werde man das Kind großziehen. Die forcierte Erzählung einer Vaterschaft könnte ihn, den Verdammten, das ist die Hoffnung, womöglich doch noch retten. Nicht nur an dieser Stelle erinnert die brüderliche Gestalt an A., die (Alter-Ego-)Hauptfigur aus Paul Austers Die Erfindung der Einsamkeit: „Da die Welt ein Monstrum ist. Da die Welt einen nur zur Verzweiflung treiben kann, zu einer so umfassenden, so entschlossenen Verzweiflung, daß nichts die Tür dieses Kerkers, der Hoffnungslosigkeit heißt, zu öffnen vermag, späht A. durch das Gitter seiner Zelle und findet nur einen Gedanken, der ihm so etwas wie Trost gibt: das Bild seines Sohnes, irgendeiner Tochter, irgendeines Kindes, irgendwelcher Eltern.“ Tatsächlich sind sich beide Bücher sehr nahe, vor allem im Zoom auf intime, nie einfache familiäre Beziehungen und im Abarbeiten an den Tücken des Schreibens.

Die Doktorarbeit wird der Bruder nie beenden. Ob die Freundin überhaupt schwanger war, wird sich nicht klären. Alle Versuche, egal ob sie analytischer oder emotionaler Art waren, seinen Ort zu finden, müssen bei dieser tragischen Figur scheitern. Es lässt sich nicht gut leben in dieser Welt, vor allem für jemanden, „der wirklich sich umsah“ (Sebald). Kehlmanns lässig dahergesagtes Bonmot – „Erzählen, das bedeutet einen Bogen spannen, wo zunächst keiner ist, den Entwicklungen Struktur und Folgerichtigkeit gerade dort verleihen, wo die Wirklichkeit nichts davon bietet“ –, es nützt dem großen Bruder bei seiner Suche nach einer Erzählung, „die davon handelt, wie gut es mir geht“, in all seiner klugen Steifheit rein gar nichts. Auch deswegen ist Helles Kritik am Storytelling so überzeugend: Er setzt ihr seine eigene Schreibpraxis entgegen. Mit der Überwindung bietet er einem nämlich eine gelingende Variante zum substanzarmen Narrationsbrei. Der Text ist hochreflektiert und in seinem Rhythmus durch und durch sinnlich. Von Selbstzweifeln ständig gehemmt, kommt er doch voran. Er ist resignativ und produktiv zugleich.

Am Ende lässt Helle seinen Erzähler folgerichtig in der Schleife einer Szene feststecken, die der Bruder einst beschrieben hatte: Als er eines Morgens aus dem Fenster geschaut habe, habe er „einen Mann und sein Kind bei den Recycling-Containern auf der anderen Seite der Kreuzung stehen“ sehen; er habe beobachtet, „wie der Mann sich langsam bückte, hinunter zur Tasche vor seinen Füßen, und sich dann wieder langsam aufrichtete, sich bückte und aufrichtete, bückte und aufrichtete“.

Ebenso macht es am Ende der kleine Bruder. Es ist eine Geste, die erinnern will und zugleich hilflos ist: „Ohne die Hand meines Kindes loszulassen, beginne ich dann, den Inhalt der Tasche Stück für Stück in die dafür vorgesehenen Öffnungen fallen zu lassen, ich bücke mich, richte mich auf, bücke mich, richte mich auf, Metall zu Metall, Glas zu Glas, Papier zu Papier. Glas haben wir am liebsten.“ Es ist eine Variation auf „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“, eine Übung in brüderlicher Verbundenheit, ein Tribut an die wahnwitzige Erzählkunst des Verstorbenen, die man nun, nach den Worten, erneut ins Leben setzen möchte. Und die Literatur, um die es in diesem schönsten Roman von 2018 mit jedem Wort ging, ist auch eine solche Box, ist Schutz- und Zerstörbehältnis zugleich. Sie ist der Container, in den wir die Sprache schmeißen, um uns an ihr nicht wund zu schlagen: „Nach jeder Flasche warten wir eine Weile und lauschen, wie der Klang der Splitter verhallt.“

Die Freiheit, Last und Unmöglichkeit „Ich” zu sagen – Ein Gespräch über das Schreiben zwischen Identitätsdiskursen und Buchmarkt

Ein Beitrag von Asal Dardan, Berit Glanz und Simon Sahner

Im Frühjahr 2014 startete Florian Kessler mit dem Vorabdruck eines Anthologie-Beitrags eine Debatte in der ZEIT, in der er die Zusammensetzung der Studierendenschaft an der noch jungen Schreibschule in Hildesheim und an dem bereits 1955 gegründeten Literaturinstitut in Leipzig kritisierte und die Studierenden demselben saturierten Milieu” zuordnete. Auch wenn Kessler selbst mittlerweile etwas zurückgerudert ist und seine Thesen als hölzerne Polemik” bezeichnet, so hat die als Arztsohn-Debatte bekannt gewordene Diskussion doch einigen Nachhall erzeugt, stellt sie doch konkrete Fragen nach der Diversität der Autor*innen an Schreibschulen, die als Nachwuchs wesentlich die Gegenwartsliteratur beeinflussen. Eben diese Diversitätsfrage brannte im Juli 2017 wieder auf, als zunächst am Hildesheimer Institut und anschließend  in Beiträgen auf dem Blog der Zeitschrift Merkur eine Debatte zu Sexismus an Schreibschulen begann, die in den sozialen Medien mit dem Hashtag #WriteWhatWeKnow versehen wurde. Anhand dieses Schreibschulmantras, das in zahlreichen Schreibratgebern und Leitfäden eine zentrale Position einnimmt und dementsprechend intensiv diskutiert wird, wollen wir uns zu dritt darüber austauschen, was das Paradigma, nur darüber zu schreiben, was man kennt, für Schreibende bedeutet und welche Auswirkungen es auf Literatur und Buchmarkt hat. Wir haben uns entschieden, dieses Thema als Dialog zu bearbeiten, weil wir uns sicher sind, dass auch Fragestellungen, die eine Meta-Ebene der Literatur- und Literaturbetriebskritik betreffen, am besten aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet werden. Gerade der Austausch untereinander hat erheblich zur Schärfung unserer eigenen Überlegungen beigetragen.

BERIT:
Das Verhältnis der Autor*innenbiographie zu den produzierten literarischen Texten ist im Jahr Zehn nach Knausgaard in aller Munde. Besonders in den identitätspolitisch aufgeheizten Debatten der letzten Monate müssen auch Schreibende es sich gefallen lassen, dass literarische Texte in ein Verhältnis zu ihrer Identität gesetzt werden. Dieses Verhältnis wurde in der Arztsohn-Debatte bereits implizit mitgedacht, könnte man doch auf Kesslers Feststellung eines saturierten Herkunftsmilieus der Schreibschüler*innen auch entgegnen, dass nicht nur die individuelle Identität der Schreibenden, sondern auch das Konzept eines Autors Konstrukte sind, die nicht notwendigerweise Einfluss auf die Rezeption eines Textes haben sollten. Dieser Konflikt zwischen einem identitätsorientierten und einem konstruktivistischen Zugang zu literarischen Texten wurde erst kürzlich im New Yorker diskutiert:

If it is a game, then, does it really matter who wrote it? The old literature-professor response was that authorship, like identity, is a construction, and so it doesn’t. The response of what Miller calls “the new identitarians” is that we should not accept representations of experiences that the author could not have known, and so it does. Both arguments are provocations. They should get us thinking about what we mean by things like authenticity and identity.”
(Louis Menand: Literary Hoaxes and the Ethics of Authorship.” New Yorker, 10.12.2018)

Das Schlachtfeld von Identität, Wirklichkeit, Narration, Rezeption, Authentizität, Wahrheit und dem narrativen Eigentumsrecht von Individuen und Gruppen verdient es also näher betrachtet zu werden, möchte man nicht bei einem schlichten write what you know” verharren.  

SIMON:
Es zeigt sich vor allem deutlich, dass – unabhängig von dem Grund, aus dem eine Person sich selbst oder einen Teil ihrer Identität zum literarischen Thema macht – ein gesteigertes Interesse an vermeintlich authentischen Geschichten besteht und dass es sich bei dem Wunsch nach Authentizität offenbar um ein aktuelles Paradigma des deutschsprachigen Literaturbetriebs handelt, das sich auch in einigen anderen Ländern deutlich wiederfindet. Nicht allein das Phänomen Knausgaard, der offensichtlich autofiktional schreibt – der Untertitel der deutschen Ausgabe Das autobiographische Projekt suggeriert gar eine autobiographische Lesart – sondern auch der große Erfolg, den Elena Ferrante mit ihren Romanen in den USA und Europa erfahren hat, sind ein Beispiel dafür, dass der Wunsch nach Erzählungen, die in Bezug zu ihrem*r Verfasser*in stehen, sehr groß ist. Das zeigt sich gerade bei Romanen wie denen von Ferrante, die anders als die Werke von Knausgaard nicht ganz so offensichtlich eine autofiktionale Lektüre forcieren. Doch obwohl es sich hier deutlicher um einen Roman, einen also per Definition fiktionalen Text handelt, wurde schnell die Vermutung angestellt, es handele sich um die Geschichte der Autorin, was auch damit zusammenhing, dass durch Verschleierung ihrer Identität ein großes Augenmerk auf die Identität der Verfasserin selbst gelegt wurde. Um ein letztes Beispiel zu nennen: auch der Umgang mit dem Debütroman Mit der Faust in die Welt schlagen von Lukas Rietzschel, der im Zuge der Marketingkampagne des Verlags in ein direktes Verhältnis zu seinem Roman gestellt und zum vermeintlichen Experten in der Frage zur Entstehung und Verbreitung rassistischen und neo-nazistischen Gedankenguts in den neuen Bundesländern erklärt wurde, weist auf ein Bedürfnis hin, den literarischen Text durch die Brille der Autor*innenidentität wahrzunehmen. Dieses erkennbare Suchen nach autobiographischen Hintergründen von an sich fiktionalen Texten, wird einerseits vom Literaturbetrieb dankend als Möglichkeit zur Aufmerksamkeitserzeugung aufgegriffen, und andererseits befeuert es das Entstehen von Texten, die eine solche Lesart ermöglichen.

 

Die Freiheit, Ich” zu sagen

In those days, in the late 1970s, nearly all of the children’s literature that was available in Moroccan bookstores was still in French. The characters’ names, their homes, their cities, their lives were wholly different from my own, and yet, because of my constant exposure to them, they had grown utterly familiar. These images invaded my imaginary world to such an extent that I never thought they came from an alien place. Over time, the fantasy in the books came to define normalcy, while my own reality somehow seemed foreign. Like my country, my imagination had been colonized.”
(Laila Lalami: So To Speak, World Literature Today, September 2009)

BERIT:
Diese von Simon angesprochene aktuelle häufig anzutreffende Rezeption von Romanen mit übergroßem Fokus auf die Verfasser*innen zieht einige Fragen nach sich. Im Spannungsfeld aktueller identitätspolitischer Debatten wird oft über das Eigentumsrecht von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen an ihrer Geschichte gesprochen, hierbei geht es vor allem darum, welches Recht Schreibende haben eine Geschichte zu erzählen. Darf beispielsweise ein deutscher Autor eine Geschichte aus der Perspektive einer syrischen Geflüchteten erzählen? Mit welchem Recht können Autor*innen die traumatischen Erlebnisse bestimmter Gesellschaftsgruppen aufgreifen und fiktional verarbeiten? In der Vergangenheit gab zu diesem Problemfeld einer möglichen narrativen Enteignung einige große Skandale. Johannes Franzen schreibt dazu:

Auch die fiktionale Verarbeitung bestimmter Stoffe unterliegt also einem Autorisierungsgebot, das nur durch biographische Betroffenheit erfüllt werden kann.”
(Johannes Franzen:
Indiskrete Fiktionen. S. 333)

Dieses Eigentumsrecht lässt sich insofern um die Forderung erweitern, dass Gruppen von Menschen, die bisher im Literaturbetrieb kaum eine Chance dazu bekamen, ihre Geschichten selbst erzählen sollten. Obwohl einige Autor*innen mit dem Verweis auf die Freiheit der Fiktion das Argument vertreten, dass beispielsweise auch ein weißer männlicher Autor aus der Perspektive einer jungen schwarzen Frau schreiben darf, denke ich, dass es ein starkes Argument dafür gibt, eine Vielfalt an Stimmen direkt zu Wort kommen zu lassen. Das Recht auch literarisch Ich” zu sagen, das Recht auf Nabelschau und auf Thematisierung der subjektiven Identität wurde ja in einem Literaturbetrieb, der lange wesentlich die Texte weißer Männer veröffentlichte und kanonisierte, großen Gesellschaftsgruppen vorenthalten.

SIMON:
Das spricht einen wichtigen Punkt an. Es geht in dieser Frage ja nicht darum, dass alle Ich” sagen, sondern darum, dass Menschen, die Gruppen angehören, die bisher wenig bis gar nicht literarisch zu Wort kamen, ihrer eigenen Geschichte eine Stimme geben. Niemand wird fordern, dass der sogenannte alte weiße Mann endlich seine Geschichte aufschreibt. Im Gegenteil, die Forderung, dass bisher kaum vernehmbare Stimmen mit ihren Erzählungen Ich” schreiben, impliziert auch eine Absage an das Ich” der weißen Männer. Ebenso ist das vermeintliche Verbot, die Perspektive anderer einzunehmen, auch – zurecht – kein ausgeglichenes. Aus dem Blickwinkel einer anderer Person zu schreiben, ist immer eine Machtgeste. Man eignet sich die Gedanken, Emotionen und die Sprache eines anderen Menschen an und äußert gleichzeitig, dass man in der Lage sei, diese adäquat wiederzugeben. Mit Blick auf die Vergangenheit ist eine solche Machtgeste eines weißen Mannes gegenüber eines Menschen, aus einer gesellschaftlich weniger privilegierten Gruppe, problematisch. Aus einer ethischen Perspektive werden damit gerade weißen Männern, also auch mir, berechtigterweise Möglichkeiten des fiktionalen Erzählens genommen – das Spektrum möglicher Geschichten aus der Feder weißer Männer wird kleiner.

ASAL:
Das Spektrum wird in der Tat kleiner, weil nun alle, also auch die weiße, männliche Stimme, die bisher als Autorität für fast alles gelten konnte, auf sich selbst und ihre Limitationen zurückgeführt werden. Das ist verständlicherweise ein schmerzlicher Prozess für den Einzelnen. Doch den Schmerz, nicht immer und überall Gehör zu finden, nicht zu jedem Thema sprechen zu dürfen oder auf das reduziert zu werden, was man ist, den kennen bisher marginalisierte Menschen nur zu gut. Nun teilen wir diesen Schmerz – das ist auch eine Geschichte, die man erzählen kann.

Niemand braucht ein Sprachrohr, stattdessen bedarf es Zugang zu einem Publikum, das hören und lesen möchte. Aber diese Geschichten müssen von jenen, deren Stimmen bisher keinen Raum fanden, auch erst einmal entdeckt werden. Sie müssen ihr eigenes Vokabular finden, neue Bilder entwerfen, andere literarische Wege einschlagen. Das Ich” findet nämlich nicht nur Ausdruck in neuen Geschichten, es muss sich eine ganze Sprache zu Eigen machen und sich von den bestehenden Narrativen befreien. Meine Geschichte lässt sich nicht erzählen wie die von Wolfgang Herrndorf, ebenso wie meine Geschichten sich nicht wie seine anhören werden. Das ist eine immense Herausforderung für die Schreibenden, ebenso wie für den Literaturbetrieb und die Leserschaft, die sich öffnen und umgewöhnen müssen. Sucht der Literaturbetrieb jedoch nur Menschen, die bestimmte neue Kriterien erfüllen, sich aber in die tradierten Marketingmuster und den etablierten Habitus drängen lassen, dann haben wir vielleicht etwas mehr Abwechslung bei den Identitätsentwürfen, aber eine Veränderung der Machtverhältnisse findet damit noch lange nicht statt. Der Markt verleibt sich ja nur zu gern Neues ein, reduziert dabei aber die Komplexität von Themen und Lebenswelten. Diese Gefahr sehe ich derzeit bei all den Büchern, die zu stark auf die Person und Biografie der Autor*innen zurückgeführt werden. Das kann man den Schreibenden nur selten vorwerfen, sie wollen schreiben, sie wollen gehört werden und sie wollen vor allem auch von etwas leben. Die Frage ist, wie viele von ihnen veröffentlicht und gelesen würden, wenn sie sich stärker widersetzten und versuchten, über etwas zu schreiben, das nicht auf den ersten Blick in ihren Gesichtern, Körpern und Biografien abgelesen werden kann.

 

Die Last, Ich” sagen zu müssen

Ein Schriftsteller, der über Dinge schreibt, die er nicht kennt, ist wie ein Stierkämpfer, der die Bewegungen macht, ohne daß ein Stier da ist.”
(William S. Burroughs über Jack Kerouac, zitiert nach Jörg Fauser: „Die Legende des Duluoz.” In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959 – 1987, Berlin 2014, S. 391)

BERIT:
Als Saša Stanišić 2014 seinen Roman Vor dem Fest veröffentlichte, wurde er von Maxim Biller in der ZEIT für seinen antibiografischen Themenwechsel” kritisiert. Am 31. Mai 2016 begründete Biller in der taz seine Kritik folgenderweise:

Weil er keine Ahnung von der Uckermark hat – und wenn, dann nur wie ein Tourist, wie ein siebengescheiter Reiseschriftsteller. Er war natürlich richtig sauer auf mich. Es gibt immer wieder Menschen, die nach Deutschland kommen, und die wollen dann unbedingt dazugehören. Aber wenn sie älter werden, werden sie schon merken, dass das nicht funktioniert. Statt aus der Not eine Tugend zu machen, versuchen sie sozusagen ihre Gesichter weiß zu malen.”

Ich frage mich jedoch inzwischen, ob sich aus diesem Recht an der eigenen Geschichte umgekehrt auch eine Verpflichtung auf das Erzählen eben dieser Geschichten ableitet. Wenn Maxim Biller seine Kritik an Saša Stanišićs Uckermark-Roman damit begründet, dass dieser keine Ahnung von der Uckermark haben könne und stattdessen anerkennen müsse, dass er nicht dazu gehöre, dann wird eben ein Schriftsteller anhand eines sehr engen biographischen Rahmens auf eine Geschichte festgelegt und ihm so letztlich auch die Freiheit genommen, andere Geschichten zu erzählen als die eigene.

ASAL:
Kein Mensch hat bloß eine Geschichte zu erzählen und vielleicht ist jene, die er über sich selbst zu erzählen hat noch nicht einmal die beste. Billers Kritik an Stanišić besteht allerdings aus einer literarisch-ästhetischen und einer politischen Ebene, die nicht unbedingt zusammen gehören. Zum einen steht die Frage im Raum, welche Geschichten man erzählen darf und soll, wie viel von einem selbst in diesen Geschichten sein muss. Was bedeutet es schon, eine Ahnung von der Uckermark zu haben? Wie viele Tage, Jahre, Generationen muss man dort verbracht haben, um etwas über sie schreiben zu dürfen? Auch wenn ich verstehe, dass Biller sich mit seiner Kritik lange vor der Publikation von Max Czolleks Desintegriert Euch! (2018) gegen die Anpassung an die dominante Kultur wehrt, erscheint mir sein Ansatz recht deutsch, deutscher als ich es ihm zugetraut hätte. Es steckt doch schon eine extreme Mythologisierung und Romantisierung darin, so auf die Beziehung eines Menschen zu einem Ort, zu einer Herkunft, zu blicken. Und das ist die zweite Ebene der Kritik, nämlich die Frage nach der gesellschaftlichen Verortung eines Menschen, der nicht in diesem Land geboren wurde. Er spricht von Zugehörigkeit, als sei Gleichheit ihre Voraussetzung und übernimmt damit die Idee, dass das konservative Leitkultur-Wir eine Entsprechung in der Realität hätte. Aber es ist ein Konstrukt, das man eben nicht nur dadurch auflösen kann, indem man als Marginalisierte von der eigenen Marginalisierung spricht, sondern auch, wenn man wie Stanišić sagt, ich schreib mal  über eure Uckermark, weil es auch meine Uckermark ist. Es gibt einen Unterschied zwischen write what you know” und write what you are”, und der ist in dieser Frage gravierend.

BERIT:
Genau deswegen finde ich es so spannend, wenn marginalisierte Stimmen nicht nur auf die eine Geschichte festgelegt werden, für die sie mit ausreichend autobiographischem Kapital bürgen können. Wenn man für jede erzählte Geschichte biographischen Rückhalt haben muss, also qua Identität auf ein Alleinstellungsmerkmal festgelegt wird, dann wird einem eben auch der Raum genommen sich mit Fiktionen an der Realität abzuarbeiten. Vielleicht bin ich aus diesem Grund skeptisch, wenn es um die autofiktionale Bearbeitung biographischer Traumata geht, besonders dann, wenn Autor*innen aufgrund ihrer Identität auf diese Narrative festgelegt zu werden scheinen. So werden seelische Verwundungen auf ein Reservoir für literarische Bearbeitungen reduziert, begründet durch beinahe fetischisierte Vorstellungen von Authentizität und mit einem voyeuristischen Beigeschmack. Für mich kommt das überspitzt gesagt einer Art narrativer Selbstausbeutung gleich, bei der die Teilhabe am Literatur- oder Kulturbetrieb mit dem Leiden der Schreibenden legitimiert werden muss. Es liegt eine subversive Kraft darin, die eigene Geschichte erzählen zu können, nicht sprachlos bleiben zu müssen, aber was passiert, wenn man nur auf diese eine Geschichte festgelegt wird? Wird dann die Identität zu einem Korsett für das eigene Schreiben?

ASAL:
In einem sehenswerten Gespräch mit Günter Grass erzählte der erst kurz zuvor aus der DDR ausgereiste Thomas Brasch, wie deprimierend er es als Dissident und Autor finde, dass solange man die Erwartungen der Öffentlichkeit bediene, niemand sage lieber Freund, da ist der Stil nicht gut.” Ich möchte dir also zustimmen, nicht zuletzt weil ich immer wieder merke, wie mir dieses Korsett angelegt wird oder ich es mir selbst anlege. Aber ich zögere auch, weil ich mich frage, ob man die Werke von Jeanette Winterson von der Armut in Manchester und die von Derek Walcott vom postkolonialen St. Lucia trennen kann oder ob Audre Lorde nicht immer wieder darauf hätte hinweisen sollen, dass sie eine Schwarze lesbische Poetin ist? An welcher Realität soll man sich abarbeiten, wenn nicht an der eigenen? Aber es stimmt, ohne identitätspolitische Schubladen kommt man heute nur sehr schwer weiter. Sie haben eine wichtige politische Funktion, von der sie allerdings nicht getrennt werden sollten. Sonst werden sie schnell zu einem Instrument der Reduktion anstelle der Weitung. Die Selbstausbeutung, von der du sprichst, ist eine von außen auferlegte. Was soll man tun, wenn man schreiben will und muss, wenn man das geschriebene Wort gewählt hat, um in die Welt zu treten? Das Dilemma ist, gehört werden zu wollen, aber auf Ohren zu treffen, die nur gewisse Klänge wahrnehmen möchten. Und selbst, wenn man es schafft, daraus auszubrechen, kommt einer um die Ecke und sagt, schreib doch lieber über dich selbst, du bist doch hier nur Tourist*in.

SIMON:
Die Anforderung an eine*n Autor*in, über sich selbst zu schreiben, ist in diesem Fall ja meist eine Forderung, die eigenen Traumata literarisch aufzuarbeiten. Daher auch die Ansicht, dass jemand wie Stanišić eben über seine Rolle als Kriegsgeflüchteter aus Bosnien-Herzegowina schreiben solle, auch wenn er vermutlich genauso über anderes aus eigener Erfahrung schreiben könnte – auch über die Uckermark, wenn er eine zeitlang dort verbracht hat. Es handelt sich hierbei, denke ich, um einen Blick auf das Schreiben, der das Erzählen der eigenen Geschichte zum Einen als Verarbeitung eines belastenden Ereignisses denkt, zum Anderen aber auch als politisch oder gesellschaftlich wichtigen Akt, im Sinne einer Forderung nach Aufklärung durch die Betroffenen. Im ersten Fall ist es auch der Wunsch des Publikums und des Literaturbetriebs sich selbst mit dem erfahrenen Leid, das nun vermeintlich literarisch verarbeitet wird, zu schmücken, indem man es honoriert. Der Nachweis der Bedeutung dieser Texte ist dann – wie Du, Asal, das mit dem Zitat von Brasch ja auch gesagt hast – nicht die literarische Qualität, sondern ihre Authentifizierung durch eigenes  Leid. Es ist die vermeintliche Nähe zum Leben einer anderen Person, die Leid erfahren hat, an dem man durch das Lesen dieser Erzählung teilnimmt. Die Honorierung dieser Geschichte ist dann gleichzeitig wieder in gewisser Weise ein selbstnobilitierender Vorgang.

BERIT:
Natürlich kann Literatur auch eine politische und gesellschaftliche Funktion erfüllen, es ist jedoch ein Problem, wenn bei den Texten bestimmter Autor*innen immer diese Funktion dominieren muss. Dann kommt es beinahe zwangsläufig zu einer Gleichförmigkeit sowohl in der Narration, nur bestimmte Themen und Erzählmuster werden diesen Autor*innen vom Literaturbetrieb gestattet, als auch in der Rezeption, indem jeder Text auf Bezüge zur Autor*innenbiographie heruntergebrochen und nicht mehr als vieldeutiger ästhetischer Texte rezipiert wird. Und die sehr eng abgesteckte Nische, die dann bestimmten Gruppen zum Publizieren ermöglicht wird, limitiert dann eben auch die Möglichkeiten dieser Autor*innen eine genuin eigene Stimme zu entwickeln. Es soll schon politisch sein, aber gleichzeitig muss es auch gefällig sein, nicht zu wütend, nicht zu bitter und schon gar nicht desillusioniert. Es ist beispielsweise kein Zufall, dass Anke Stelling, eine der Autorinnen mit wirklich eigener Stimme zum Thema Mutterschaft, die sich in ihren Romanen mit der ganzen emotionalen und sozialen Komplexität der Angelegenheit befasst, es schwer hatte, für diese Texte einen Platz in einem Literaturbetrieb zu finden, der diesem Thema viel zu wenig Aufmerksamkeit schenkt:

“In den Ablehnungen ging es nie um den literarischen Wert, erzählt Stelling. Stets war von Aufhängern die Rede, die man für Buchhandlungen, Kritik, Leserinnen finden müsse. Für die Verlage war die Inzestgeschichte offenkundig ein absolutes no-no gewesen. Aber auch Mutterschaft als Thema schien ein Problem, jedenfalls dann, wenn die Erzählung die negativen Seiten, freundlich gesagt, nicht verschweigt.”
(Ekkehard Knörer: Fata, Libelli. Literaturkolumne. 20.2.2018)

Ich bin oft überrascht, wie abwesend Kinder und Mütter in vielen Romanen sind und wenn sie überhaupt als Nebenfiguren auftauchen dürfen, wie stereotyp dann über sie geschrieben wird. Dabei würde die Erfahrung von Elternschaft, in all ihrer großartigen Ambivalenz, der intensiven Liebe, der gehirnzerfressenden Langeweile und der körperlich wahrnehmbaren Erfahrung des Würgegriffs gesellschaftlicher Strukturen, ein großartiges und spannungsreiches Erzählfeld bieten. Doch dazu bedarf es einer Stimmenvielfalt, die weit über die Grenzen der bürgerlichen Kleinfamilie hinausgeht, deren Rahmen noch das Erzählen von Elternschaft dominiert. Gerade am Beispiel der Erzählung von Mutterschaft wird sehr deutlich, wie dominante Narrative eine Komplexität und Vielfalt, die dem Thema angemessen und dringend nötig wäre, unterdrücken.

 

Die Unmöglichkeit, weiter so  Ich” zu sagen, wie bisher

„Mein Ziel ist eine Literatur der Konfrontation, die es dem Leser verbietet, sich abzuwenden von der Wirklichkeit. Sartre hat gesagt, engagierte Literatur, das ist die Freiheit, sich zuzuwenden. Ich möchte etwas anderes. Ich möchte eine Literatur der Konfrontation, die es dem Leser verbietet, sich abzuwenden von der Wirklichkeit, in der er lebt.”
(Édouard Louis im DLF Kultur 23.7.2018)

SIMON:
Wenn ich an meine Jugend denke, die sich größtenteils in einer südwestdeutschen Kleinstadt in den Nullerjahren abgespielt hat, tauchen sofort bestimmte Bilder auf: Sommernächte an Flussufern, heiße Augustnachmittage auf Wiesen, weite Felder in der Sommerhitze, vertrödelte Nachmittage nach der Schule. Die gleichen Bilder kenne ich aus Romanen – vorrangig von Männern, die in den 80er und 90ern ihre Jugend erlebt haben – wie Wolfgang Herrndorfs In Plüschgewittern und Thomas Klupps Paradiso. Diese beiden Romane sind nur die ersten, die mir einfallen, aber Erzählungen von Männern, die zwischen 1965 und 1985 geboren wurden und über eine Jugend schreiben, die ihre sein könnte, sind in den letzten zwanzig Jahren unzählige erschienen, flankiert von Filmen, die ähnliche Geschichten erzählen (beispielsweise Schule (2000)). Diese Romane affirmieren das Bild einer heilen Kindheits- und Jugendwelt in den 80er und 90er Jahren. Insbesondere durch Rückblicke der inzwischen erwachsenen Erzähler, die meist im gleichen Alter und Umfeld wie die Autoren sind, werden diese westdeutschen Idyllen aufgerufen:

In meiner frühsten Erinnerung läuft meine Mutter mit nackten Füßen durch den Garten auf mich zu. Sie trägt ein gelbes Kleid aus Leinen und um den Hals eine Kette aus rotem Gold. Wenn ich an diese ersten Jahre meines Lebens zurückdenke, ist immer später Sommer, und es kommt mir vor, als hätten meine Eltern viele Feste gefeiert, auf denen sie Bier aus braunen Flaschen tranken und wir Kinder Limonade, die Schwip Schwap hieß.
(Takis Würger: Der Club (Kein & Aber 2017)

Durch die Omnipräsenz dieser Geschichten, die einem ganz bestimmten Schema einer idealisierten Jugend und Kindheit in einer vermeintlich sicheren Umwelt folgen, habe ich das Gefühl, dass meine eigenen Erinnerungen in diese angelesenen, kollektiven Erinnerungen eingebettet werden, sie werden in gewisser Weise zu einem Teil einer großen Erzählung einer Mittelstandsjugend in Westdeutschland. Das führt in meiner Wahrnehmung zu zwei Phänomenen: Zum Einen führt es dazu, dass ich mir teilweise meiner eigenen Erinnerung nicht mehr sicher bin – spielen Felder in der Sommerhitze wirklich eine so große Rolle in meiner Jugenderinnerung oder ist das eine Verklärung anhand von angelesenen, vergleichbaren Erzählungen? Zum Anderen führt es dazu, dass das Erzählen meiner eigenen Geschichte beinahe unmöglich wird. Sie ist schon x-mal erzählt worden. Der erste Kuss auf einer Party im Sommer, während die anderen um das Lagerfeuer sitzen – das könnte auch Benjamin von Stuckrad-Barre erzählen, man würde es ihm glauben. Ist das noch meine Geschichte oder ist es einfach eine mögliche von tausenden ähnlichen?

ASAL:
Mir kommen diese Bücher und Filme und diese westdeutschen Urbilder, die sie kreieren, ebenfalls vertraut vor, wenngleich meine eigene Kindheit und Jugend an den Rändern dessen stattfanden, was dort beschrieben wird. Eben deshalb habe ich geschrieben, dass es einer neuen Sprache bedarf, nicht nur neuer Erzählender.

Für mich, die ja auch in Hildesheim Kulturwissenschaften studiert hat, steckt hier eine doppelte Erdrückung. Zum einen, weil mir als Heranwachsende meine Lebenswelt nirgends gespiegelt wurde, ich mich in keinen Büchern, Filmen und anderen Darstellungen wiederfand. Ich fühlte mich nicht gesehen und sah auch niemanden, dem ich mich nah fühlen konnte. In Hildesheim bewarb ich mich mit einem Text über einen politischen Häftling im Iran, der einen Brief an eine geliebte Person schreibt. Er erzählt darin, wie er immer wieder eine Waffe an den Kopf gehalten kriegt und jedes Mal wünscht, es möge nun doch endlich vorbei sein. Vermutlich alles etwas melodramatisch, aber ich war zwanzig Jahre alt und hatte fast ein Jahr in der internationalen Nachrichtenredaktion von CNN.com gearbeitet, wo die Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg zu meinem täglichen Job gehörte. Ich wollte über meinen Vater schreiben, aber das hätte ich damals noch nicht geschafft. Der Prüfer sagte mir dann, es klinge alles ein wenig wie Peter Maffays Über Sieben Brücken Musst Du Gehen. Ich wurde dennoch angenommen, geweint habe ich an dem Tag aber nicht aus Freude. Ich war eine wütende Studentin, aber ich war auch gut. Und obwohl ich das Gefühl hatte, nicht dazuzugehören, saß ich mit den Leuten, die Florian Kessler in seinem Artikel erwähnt, in denselben Räumen und habe meistens innerlich, ganz selten auch öffentlich, gezetert über diese bürgerlichen Geschichten, die immer wieder wie Variationen der gleichen Geschichte wirkten. Irgendwann blieb ich diesen Schreibseminaren fern und konzentrierte mich auf jene, wo ich gehört und gefördert wurde. Im Anschluss an mein Studium in Hildesheim habe ich viele Jahre nicht geschrieben. Es ging einfach nicht. Erst mit Florian Kesslers Artikel, den ich sehr befreiend fand, und den ich ganz und gar nicht als hölzerne Polemik empfinde, wurde in mir eine Tür geöffnet. Ja, ein weißer, bürgerlicher Jungautor hat das für mich gemacht, weil meine eigenen Worte in der Zwischenzeit verschüttet wurden. Es hätten vielleicht meine sein können. Heute finde ich den Text von Selim Özdogan, der vor kurzem hier auf dem Blog veröffentlicht wurde, wesentlich wichtiger und dringlicher. Inzwischen schreibe ich auch wieder. Und werde schreiben und schreiben.

BERIT:
Es bedarf dann jedoch nicht nur einer neuen Sprache, wie du es ausführst Asal, sondern auch eines Literaturbetriebs, der sich solchen Schreibweisen öffnet und die Vermittlung neuer Ästhetiken unterstützt. Eine solche Öffnung kann jedoch nicht nur darauf basieren, dass neuen Stimmen wieder ähnlich festgelegte Narrative aufgedrückt werden, wir also der Erzählung einer westdeutschen Vorortkindheit nur einige neue statische Muster an die Seite stellen.

Es spricht im übrigen ja gar nichts dagegen, dass bestimmte gehäufte Weltzugänge und -wahrnehmungen sich auch in zahlreichen Texten wiederfinden, schwierig wird es dann, wenn Literatur zunehmend die Funktion einer Weltsichtbestätigung der Leser*innen erfüllt und es nicht mehr vermag diese zu Durchbrechen. Natürlich ist eine Bestätigung der eigenen Weltdeutung durch konventionalisierte Erzählverfahren und inhaltliche Stereotype etwas, das den Bedürfnissen vieler Menschen entspricht. Nicht zufällig verkaufen sich bestimmte Genreromane, die immer wieder die gleichen Erzählmuster mit kleinen Abweichungen durchspielen, hervorragend. Das ist auch nicht grundsätzlich negativ, manchmal möchte man eben einfach ausgelatschte Hausschuhe tragen oder sich in seine Lieblingskuscheldecke wickeln, nicht jeder literarische Text muss aufrütteln oder verstören. Texte können uns durch Vorhersehbarkeit auch ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln, von einer Welt die nach geordneten Regeln funktioniert, in der die Guten gewinnen, die Bösen bestraft und die armen Stieftöchter zu Prinzessinnen werden können. Auch die Realitätsflucht durch Immersion in eine spannende Erzählung erfüllt eine Funktion für die Lesenden. Dennoch ist es zu kritisieren, wenn ein verstärkt unter ökonomischen Druck geratener Buchmarkt immer mehr auf wahlweise solche Kuscheldeckenliteratur setzt oder auf Romane, deren Autor*innen uns autobiographisch rückkoppelbar die Welt erklären sollen, weil solche Bücher ein größeres Marktpotenzial haben. Dieser durch Marktlogiken begründete Fokus äußert sich dann eben einerseits inhaltlich, indem bestimmte Geschichten wieder und wieder erzählt und Autor*innen qua ihrer Identität auf bestimmte Erzählmuster festgelegt werden, aber auch ästhetisch, beispielsweise in der Dominanz realistischer Erzählverfahren.

SIMON:
Es bleibt noch die Frage im Raum stehen, was weiße Mittelstandsmänner dann aktuell noch schreiben können, ohne wiederholt in die gleichen Muster einer westdeutschen Kleinstadtkindheit und -jugend zu fallen oder sich die Erzählungen von Menschen aus marginalisierten Gruppen anzueignen. Für mich sind an dieser Stelle die Romane und die darin angewendeten Erzählverfahren von Jakob Nolte eine mögliche Variante, sich neue Inhalte und Strategien des Erzählens zu erschreiben. Der Roman Alff (2014) erschien zunächst frei zugänglich auf der digitalen Leseplattform fiktion.cc und erst später im Verlag Matthes & Seitz. Mit parataktischer Sprache und filmischer Erzählweise, die die schnellen Schnitte amerikanischer Kinder- und Jugendserien der 80er und 90er Jahre imitiert, wird die Geschichte einer Mordserie an einer US-amerikanischen Highschool erzählt. Der Text ist beinahe überladen von Referenzen an die Popkultur der letzten dreißig Jahre und entfernt sich deutlich von realistischen Erzählmustern. Damit schafft Nolte einen Verweisraum, der sich zwar auf seine eigene Kindheit und Jugend bezieht, sich jedoch deutlich abkoppelt von den Schreibweisen und Zugängen der oben genannten Autoren und auch nicht im wiederholten Nacherzählen der eigenen Kindheitsidylle verharrt. Der zweite Roman Schreckliche Gewalten (2017) erweitert diesen Verweisraum auf die durch Hyperlinks geprägten Gedankensprünge und Querverweise im digitalen Raum. Diese und ähnliche Romane – auch die letzten beiden von Clemens Setz würde ich an dieser Stelle nennen – sind Beispiele für Auseinandersetzungen weißer, männlicher Autoren mit ihrer Lebenswelt und ihrer Jugend, die neue Wege suchen, diese literarisch umzusetzen.

ASAL:
In dem, was du schreibst, Simon, zeigt sich, dass es sich hier nicht bloß um eine Umkehrung handelt, in der nun jene Autor*innen verdrängt werden sollen, die bisher dominierten. Vielmehr geht es in dem, was wir hier gemeinsam herausgearbeitet haben darum, wie  wichtig es auch im Literaturbetrieb ist, eine Vielfalt herzustellen, in der so viele Stimmen wie möglich Platz haben.

BERIT:
Dafür bedarf es einer wirklichen Bibliodiversität nicht nur in der Verlagslandschaft, sondern auch in den Verlagsprogrammen, den Förder- und Stipendienstrukturen und den Zielgruppen der Literaturvermittlung.

 

Abgründe sind wichtig im Leben

Ich reg mich ja so wenig auf und hab immer ein bisschen Angst, das öffentlich zu machen, weil man bestimmt immer die Hälfte nicht bedenkt und die andere Hälfte vergessen hat. Samstagmorgens liege ich allerdings im Bett und lese als wohlerzogener (ich zahle dafür), aber junger (digitale Ausgabe) Bildungsbürger die Zeitung (Süddeutsche). Dort hat man Felicitas von Lovenberg interviewt, weil man offenbar vorhat, alle zwei Monate mal mit ihr zu sprechen (zuletzt im November anlässlich des Erscheinens ihres platt-freundlichen Titels Gebrauchsanleitung fürs Lesen).

Sind Sie je Opfer von Sexismus geworden?

Im aktuellsten Interview, das die SZ nun unter anderem anteasert als Gespräch “über Männer und männliche Eigenschaften”, antwortet von Lovenberg auf die Frage, ob sie je Opfer von Sexismus geworden sei.

Darüber habe ich in letzter Zeit durchaus mal nachgedacht, weil man sich mittlerweile ja fast komisch vorkommt, wenn man sagt: Ich bin nie Opfer von Sexismus geworden.

Spötter könnten jetzt sagen, “oh, sie hat mal nachgedacht, über das Thema der letzten Jahre, hat sich mit gesamtgesellschaftlichen Debatten auseinandergesetzt, als Verlegerin eines der größten deutsche Verlage”, bevor man jetzt aber spotten könnte, antwortet FvL:

Aber gravierende Fälle habe ich tatsächlich nicht erlebt.

Das ist, was man allen wünscht. Case closed.

Aber! dann sagt sie, zwei Antworten weiter, auf die Frage, warum sie nicht in den FAZ Herausgeberkreis berufen wurde allen Ernstes, dass irgendein alter Heini (“ein mächtiger Mann”) ihr gesagt hat,

Ach wissen Sie, Frau von Lovenberg, ich finde nicht, dass sich ein so nettes Mädchen wie Sie einen solchen Job antun sollte.

Und jetzt, obwohl sie in letzter Zeit über das Thema durchaus mal nachgedacht hat, wahrscheinlich genau während sie das sagt, fällt ihr ein, “Oh! huch! Ist das das, wovon die anderen Furien immer berichten??”, und sie schiebt hinterher:

Und ja, wenn Sie so wollen, dieses eine Mal ist es mir dann eben doch passiert. Heute bin ich froh, der Job wäre nicht das Richtige für mich gewesen.

Also alles gut. Der Job wäre ja wirklich nichts für sie gewesen und lieb von dem alten, mächtigen Mann, dass er sie bewahrt hat.

Vielleicht habe ich nur zu versponnene Vorstellungen davon, was Nachdenken über ein Thema heißt, aber sie sagt mir nichts, dir nichts: “Sexismus? Drüber nachgedacht: Kenn ich nicht.” Und auf die erste Frage, die eigentlich nichts mehr direkt mit dem Thema zu tun hat, erzählt sie, dass sie unglaublich ekelhaft und herablassend behandelt wurde, weil sie eine Frau ist! Dies könnte ein feines Beispiel für Sexismus an allerhöchster Stelle des deutschen Journalismus sein.

“Ich mache mir schon ein wenig Sorgen, dass die Natürlichkeit im Verhältnis zwischen Männern und Frauen verloren geht.” (von Lovenberg)

Könnte natürlich sein, dass das ein Zufallstreffer war, aber sie liefert direkt den nächsten Knaller. Es geht immer noch um die FAZ und dass sie als junge Frau mit Marcel Reich-Ranicki gearbeitet hat und wie man mit so einem Mann arbeitet und sie sagt:

[…] wir hatten rasch unseren Modus gefunden. Da war viel Frotzelei dabei, da fielen sicher Sätze, die heute eher nicht mehr gehen, aber ich fand das nie schlimm, eher unterhaltsam und belebend.

Ich nehme an, mit “Frotzeleien” ist der gute, alte Herrenwitz gemint. Dann geht es allen Ernstes weiter:

Wir saßen einmal bei einer Preisverleihung nebeneinander und lauschten den Ansprachen, als er plötzlich tief aufseufzte und mir seine Hand aufs Knie legte.

Find ich ein bisschen übergriffig. Aber weil sie im Vorfeld schon ein bisschen über das Thema nachgedacht hat und auch eine Kollegin ihr damals sagte, sie hätte dem Herrn einfach eine schmieren sollen, macht sie erstmal nichts Weiteres als das kleinzureden (Frotzeleien, unterhaltsam, belebend [!]) und sagt am Ende noch:

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bewundere Feministinnen, die jungen und erst recht die älteren, die den Weg geebnet haben. Die sollen ihre Kämpfe kämpfen, das ist eine Qualität, so lange auf den Tisch zu hauen, bis sich was ändert. Ich kann da nur nicht so mitbrüllen. Vielleicht musste ich mich nie wehren, vielleicht habe ich mich in entscheidenden Momenten nicht unterlegen gefühlt, vielleicht bin ich manchen Kämpfen auch aus dem Weg gegangen.

Ach, Bewunderung ist so einfach und gibt es gratis an jeder Ecke. Verstehen Sie mich nicht falsch, liebe Leser*in, ich bin nur ein junger, weißer Mann, aber ist das nicht ein Schlag ins Gesicht für die meisten Frauen? Sagt sie nicht “Naja, sehen sie, ich hab immer artig gelächelt und bin jetzt halt Piper Verlegerin, wahrscheinlich weil ich immer so artig gelächelt habe, wenn mächtige Männer das wollten. Feminismus sollen die anderen machen. Aber was regen die sich eigentlich so auf?”

Wenn man sich ein Beispiel an von Lovenberg nehmen möchte und sich ebenso toll gegen Sexismus wehren will, der Trick ist einfach, man reagiert auf Sexismus:

Mit Humor. Ich war frech, schlagfertig und habe nicht alles persönlich genommen.

Andere Frauen nehmen einfach alles ein bisschen zu persönlich. Es ist das alte “Hab Dich doch nicht so” – nur dass es hier eben eine Frau sagt. Richtig gemacht kann Sexismus für alle Parteien eher unterhaltsam und belebend sein!

Es gibt keinen Sexismus im deutschen Kulturbetrieb, alle sind nur so fürchterlich empfindlich.

In diesem Zusammenhang ebenso schnurrig – und vielleicht ein Stück weit auch als Erklärung für ihre dicke Haut gegen Sexismus zu deuten – ihre Antwort auf die Frage, ob sie privilegiert aufgewachsen sei (na wegen des “von”). Durchschnaufen, Freunde:

Nicht so sehr in materieller Hinsicht…

Und dann sagt sie endlich Dinge, wie ich sie Samstagmorgens hören will: nicht reich an Geld, aber Reichtum an Kultur und Werten!

NICHT SO SEHR IN MATERIELLER HINSICHT, antwortet sie auf die Frage, die sie auf ihren Besuch eines englischen Internats und Studium in Oxford anspricht. Wann startet denn das Privileg?

Ich bin wirklich sprachlos.

Dazu “Sexismus im Literaturbetrieb – Die subtile Machtausübung der Männer” von Tanja Dückers.

Eine Lüge in der Wirklichkeit wird keine Wahrheit im Roman – Zur Kontroverse um Robert Menasse

Um ein Haar hätte der ‚Fall‘ Menasse gar nicht stattgefunden: begraben unter der Lawine des feuilletonistisch unendlich schmackhaften Skandals um den Fälscher und Großjournalisten Claas Relotius und gehemmt durch eine allgemeine Skandalmüdigkeit am Ende eines Jahres, das vielleicht überreich an ‚Fällen‘ war. Aber etwas Skandalenergie steckt eben doch in der Geschichte des österreichischen Schriftstellers, der Zitate einer realen historischen Figur erfunden hat, und zwar nicht nur in einem Roman, sondern in Zeitungsartikeln, Reden und Essays. Robert Menasse hat dem Europapolitiker Walter Hallstein Sätze in den Mund gelegt, die dieser so gar nicht gesagt hat. Diese Sätze zielen auf eine erhoffte Überwindung der Nationalstaaten durch das politische Projekt eines vereinten Europas, wie etwa: „Ziel ist und bleibt die Überwindung der Nation und die Organisation eines nachnationalen Europa.“ Es handelt sich dabei um den Wortlaut einer Meinung, die aufs Dankbarste mit der Meinung Menasses übereinstimmt. Aber manchmal hat man eben Glück und findet das perfekte Zitat. Nur, und das zeigt auch der Skandal um Relotius: Die perfekte Geschichte und das perfekte Zitat, die gibt es meistens nicht.

Erwischt wurde der Dichter Menasse bei seinen Fälschungen von dem Historiker August Winkler, der die angeblichen Zitate in einer schlecht gelaunten Notiz im Spiegel vom 23. Oktober 2017 vornehm als „apokryph“ und „unecht“ bezeichnete. „Die Lesart vom post-, ja antinationalen EU-Vorkämpfer Hallstein“, schreibt er, „dürfte eine Legende oder, anders gewendet, Ausfluss einer postfaktischen Geschichtsbetrachtung sein.“ Winkler ging es um die Dignität seiner Wissenschaft und das Vetorecht der Quellen, aber wohl auch um das politisch Fehlerhafte der Idee einer anti-nationalstaatlichen EU. Gezeigt werden sollte nicht nur, dass die Sätze Hallsteins gefälscht waren, sondern auch, dass es sich um falsche Sätze handelt. Dem Historiker diente der Fall als Ausgangspunkt für eine weiterführende europapolitische Kontroverse.

Man hat allerdings den Eindruck, dass die Öffentlichkeit an dieser Kontroverse nicht wirklich interessiert war, sonst wäre der Skandal wohl schon im Oktober 2017 explodiert. Skandale als öffentlichkeitswirksame Einzelfälle generieren dann Aufmerksamkeit, wenn sie große Fragen, die eine Kultur aktuell umtreiben, metaphorisch verdichten. Sie verleihen abstrakten Problemen die Konkretion und Anschaulichkeit einer dramatischen Erzählung. In diesem Fall bezieht sich das Interesse allerdings nicht auf die Frage, ob ein post-nationales Europa wünschenswert ist, sondern auf den Aspekt des „Postfaktischen“, den Winkler wohl vor allem deshalb ins Feld geführt hatte, um Menasse inhaltlich zu delegitimieren.

„Postfaktisch“ bezeichnet in diesem Fall ein Wunschdenken, das zu historischen Fälschungen führt. Eine Geschichtsbetrachtung, die ideologischen Begehrlichkeiten folgt und so das narrative Genre der „Legende“ dem geschichtswissenschaftlichen Faktum vorzieht. Dieses Gespenst einer legendarisch verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung gehört zu den wichtigsten Waffen im zeitgenössischen Diskursgetümmel. Politisch effektiv ist das Konzept des „Postfaktischen“, weil es – in der Tradition einflussreicher politischer Begriffe – extreme Aggression mit extremer Beliebigkeit verbindet; kulturwissenschaftlich interessant ist der Kampfbegriff „postfaktisch“, weil sich in ihm ein allgemeines erkenntnistheoretisches und ideologisches Unbehagen an einer als instabil wahrgenommenen Kultur verdichtet. Literaturtheoretisch einschlägig ist der Skandal um die postfaktischen Mätzchen Menasses schließlich, weil (zumindest unterschwellig) der Versuch gemacht wird, das historische Wunschdenken in diesem Fall als Ausdruck einer literarischen Imagination zu adeln. Immerhin handelt es sich um die Fälschungen eines Romanautors, der doch qua Profession als professioneller Fälscher ausgewiesen ist?

So wird dem heillosen Begriffsdurcheinander, das sich um den unglücklichen Begriff „postfaktisch“ rankt, noch eine literarische Komponente hinzugefügt. Der Status eines Textes changiert nun zwischen „postfaktisch“, „gefälscht“, „literarisch“, „fiktional“, „faktual“ etc. und droht so, seine Funktion als Träger von Informationen vollständig zu verlieren. Bedenkenswert erscheinen in diesem Zusammenhang zunächst die Argumente des Autors. Menasse habe nämlich, so heißt es, als er im Schatten der Relotius-Affäre auf die Zitate angesprochen wurde, freimütig seine Fälschungen eingestanden. Dazu berichtet die Welt:

Seine [Menasses] Form des Zitierens sei „nicht zulässig – außer man ist Dichter und eben nicht Wissenschaftler oder Journalist“. Nach den „Regeln von strenger, im Grunde aber unfruchtbarer, weil immer auch ideologisch gefilterter Wissenschaft“ seien die Zitate „nicht ‚existent‘, aber es ist dennoch korrekt, und wird auch durch andere Aussagen von Hallstein inhaltlich gestützt. Was kümmert mich das ‚Wörtliche‘, wenn es mir um den Sinn geht.“ Wenn er also „Hallstein als Kronzeugen für die vernünftigerweise bewusst gestaltete nachnationale Entwicklung Europas brauche, dann lasse ich ihn das sagen, auch wenn es nicht den einen zitablen Satz von ihm gibt, in dem er das sagt – aber doch hat er es gesagt!“

Diese Argumente haben sich nicht nur auf den ersten Blick das Verdikt „aberwitzig“ (Patrick Bahners) redlich verdient: Man möchte die Person kennen lernen, die es sich gefallen lässt, die eigenen Worte sinngemäß im Sinne des Wiedergebenden aufgeschrieben zu sehen. Es scheint keine übertriebene Eitelkeit zu sein, in solchen Fällen auf dem stabilen Boden des „Wortwörtlichen“ verharren zu wollen. Das ist auch unumstritten oder es wäre unumstritten, wenn Menasse sich nicht selbst als Dichter von dieser Ethik des Wortwörtlichen entlastet hätte. Interessant werden seine Argumente nämlich dort, wo sie auf weitverbreitete und einflussreiche literaturtheoretische Missverständnisse verweisen.

Dieses Missverständnis bezieht sich vor allem auf die angebliche Freiheit in der Darstellung, die Dichter*innen traditionell zugesprochen wird. Es hat sich als stolze historische Errungenschaft unserer Kultur etabliert, dass die Autor*in eines Romans, eines Theaterstücks oder Gedichts mehr darf als die Verfasser*in einer Reportage oder eines Geschichtswerkes. Sie darf Figuren erfinden, sie darf abseitige und idiosynkratische sprachliche Mittel verwenden und sie darf mit den Figuren so schonungslos und indiskret umgehen, wie sie möchte. Diese Lizenzen kommen Texten aber eben nicht deshalb zu, weil sie von Dichter*innen geschrieben wurden oder weil sie dichterisch geschrieben sind, sondern aufgrund ihrer markierten Fiktionalität. Missverständlich wirkt in diesem Fall die Verwirrung von „Literat“, „literarisch“ und „fiktional“. Nicht alle literarischen Texte sind fiktional, wie die lange ruhmreiche Geschichte des Essays zeigt; und nicht alle fiktionalen Texte sind literarisch (Das zeigt die lange und alles andere als ruhmreiche Geschichte der Werbung). Literat*innen sind Menschen, die literarische, fiktionale und gänzlich alltägliche Texte schreiben können. Müssen die Empfängerinnen der dienstlichen E-Mails des Dichters Robert Menasse jedes Mal um deren Faktizität fürchten? Wohl eher nicht.

Fiktionalität bezeichnet vor allem einen Geltungsanspruch. Der Text tritt auf mit dem Versprechen, dass die wichtigsten Elemente erfunden sind. So werden die entsprechenden Lizenzen eingeworben. Fiktionalität ist also ein Status, der in einer Kommunikationssituation zwischen Autor*in und Leser*in ausgehandelt werden muss, im Sinne der Metapher eines „Fiktionsvertrags“ (Umberto Eco). Dieser Vertrag muss für jeden Text neu abgeschlossen werden. Auch ein als Verfasser fiktionaler Romane bekannter Autor wie Menasse hat keinen Anspruch darauf, dass für seine Äußerungen eine allgemeine Fiktionsvermutung gilt (was lebenspraktisch auch eher unerfreulich wäre) und noch viel weniger entlastet ihn dieser Status davon, sich im Fall faktualer Texte an die jeweils geltenden Regeln der Kommunikation zu halten. Wenn ein Text in einer Zeitung erscheint und nicht als fiktional markiert ist, dann dürfen die Leser*innen davon ausgehen, dass hier nichts erfunden wurde. Wenn sich herausstellt, dass Elemente gefälscht wurden, dann handelt sich – auch, wenn der Verfasser ein Dichter ist – nicht um einen fiktionalen Text, sondern um einen defekten faktualen.

Es mag also sein, dass das Publikum sich, wie Carsten Otte in der taz schreibt, vom Lebensthema des Autors (Europa) hat begeistern lassen, „ohne darauf zu achten, dass der Schriftsteller am Rednerpult weiterhin ein Künstler des Fiktiven ist.“ Es ist allerdings nicht die Aufgabe des Publikums, sondern die des Autors, den Status eines Textes zu markieren: Auch am Rednerpult (und vielleicht gerade dort) muss sich der Künstler deutlich zu erkennen geben, wenn er im Modus des Fiktiven sprechen möchte. Ottes Vermutung, dass Menasse „selbstverständlich“ weiterhin „Fiktion und Realität verschwimmen lassen“ wird, und zwar nicht nur im Roman, „sondern auch in allem anderen, was er sagt und schreibt“, sollte vor allem dazu führen, ihn als Redner und Essayisten zu disqualifizieren. Zumal es in diesem Fall auch gar nicht so wirkt, als hätte Menasse unter dem Vorbehalt des Fiktionalen gesprochen, sondern diesen Vorbehalt erst in dem Moment schützend vor den Text gestellt, als er bei einer gänzlichen prosaischen Schwindelei erwischt wurde.

Die Tatsache, dass Menasse vor allem als Romancier bekannt ist, entlastet ihn also keineswegs von den alltäglichen Regeln der Kommunikation – im Gegenteil kontaminieren seine Regelverstöße auch sein fiktionales Schaffen. Damit ist ein weiteres Missverständnis angesprochen, nämlich, dass Menasse, wäre er nur beim literarischen Erfinden geblieben, gar keine Probleme bekommen hätte. So stellt Carsten Otte in der taz fest: „Wer Menasse liest, wird feststellen, dass viel von dem, was derzeit moniert wird, schon im Roman thematisiert ist.“ Verbunden ist diese Feststellung mit der Hoffnung, der Autor möge sich wieder dem offiziell Fiktionalen zuwenden, wo sich das Problem erfundener Ereignisse und Zitate gar nicht erst stellt. Das bezieht sich insbesondere auf die unappetitliche Entdeckung, dass Menasse einen Auftritt Walter Hallsteins in Auschwitz (die Antrittsrede zu seiner EU-Kommissions-Präsidentschaft) ebenfalls erfunden habe – einen Auftritt, den der Autor sowohl in seinem hochgelobten Europaroman Die Hauptstadt als auch in faktualen Texten untergebracht hat. Auch Hubert Winkels geht im Deutschlandfunk von einer möglichen Legitimation dieser Erfindung im Schutzraum des Romans aus. „Und wenn er das alles in seinem Roman ‚Die Hauptstadt‘ gemacht hätte“, sagt Winkels, „würde man das vielleicht gelten lassen.“

Allerdings – und das ist ein großes Missverständnis in Bezug auf die autonome Fiktion – stellen  auch in der fiktiven Welt des Romans erfundene Zitate, die einer realen Person in den Mund gelegt werden, ein Problem dar. Auch im Modus des Fiktionalen kann man reale Personen nicht nach Belieben „gebrauchen“ oder brauchbare Dinge sagen „lassen“. Wer den Roman als den Ort der totalen Lizenz stark machen möchte, der muss sich nur einmal vorstellen, wie das wäre, wenn eine Autorin ihm unter Realnamen Worte in den Mund legen würde. Reale Personen sind, im Gegensatz zu fiktiven Figuren, keine reinen Marionetten, die dem Fingerspiel der Autor*in folgen. Sie haben ein Eigenleben außerhalb des Textes, das die Lizenzen in der Darstellung je nach Fall mehr oder weniger einschränkt. Tolstoi konnte zwar den realen Napoleon in Krieg und Frieden Dinge sagen und denken lassen, die so nicht nachweisbar sind, aber es handelte sich eben auch um ein feindseliges Porträt, das Verehrer Napoleons verstimmen musste.

Ähnliches gilt für den Goethe in Thomas Manns Lotte in Weimar. Gerade Thomas Manns Roman ist einschlägig als Vergleich, denn auch in diesem Fall „gebrauchte“ der Autor seine Figur als Sprachrohr für politische Aussagen, und auch damals führte dieser Umgang mit den Lizenzen der Fiktionalität zu realweltlichen Missverständnissen. In Lotte in Weimar (1940) lässt der Autor den alternden Goethe einen inneren Monolog halten, der sich als Kommentar gegenwärtiger Ereignisse lesen lässt. Im Jahr 1946, während der Nürnberger Prozesse, zitierte Hartley Shawcross, der Hauptankläger des britischen Königreichs, unwissentlich den fiktiven Goethe Thomas Manns mit einer Einschätzung über die Deutschen, in der es untere anderem heißt, „daß sie sich jedem verrückten Schurken gläubig hingeben, der ihr Niedrigstes aufruft, sie in ihren Lastern bestärkt und sie lehrt, Nationalität als Isolierung und Roheit zu begreifen, ist miserabel.“ Thomas Mann schrieb später in der Entstehung des Dr. Faustus, er habe damals diese Fehlzitat verteidigt: „Doch verbürgte ich mich dafür, daß, wenn Goethe nicht wirklich gesagt habe, was der Ankläger ihm in den Mund gelegt, er es doch sehr wohl hätte sagen können, und in einem höheren Sinn habe Sir Hartley also doch richtig zitiert.“

Das entspricht nun fast wortwörtlich der gegenwärtigen Verteidigung Menasses gegen den historischen Wortlaut. Der Erfinder von Hallstein-Zitaten könnte sich also auf den hoch-kanonisierten Erfinder von Goethe-Zitaten berufen. Allerdings zeigt gerade der Vergleich der beiden Fälle eher, warum Menasses Argumente nicht stichhaltig sind. Denn in Thomas Manns Lotte in Weimar ist die Figurenrede klar als Gedankenwiedergabe und damit als potentiell fiktiv markiert. Zudem handelt es sich um eine extrem berühmte historische Person, deren Aussagen sich mit den Aussagen der fiktiven Figur recht einfach vergleichen lassen; und schließlich sind die deutlichen Aktualisierungen gegenwärtiger politische Vorgänge ein klarer Indikator dafür, dass hier erfunden wurde. Vor allem aber hat Thomas Mann nicht versucht, diese Zitate auch außerhalb des Romans als O-Töne Goethes zu verkaufen. Es ist dieser Vorgang, der im Fall von Die Hauptstadt auch Menasses Romanfiktion ins Zwielicht rückt. Denn die faktuale Behauptung, Hallstein habe in Auschwitz eine Rede gehalten, erscheint wie der Versuch, die Fiktion im Roman mit einer Evidenz auszustatten, die sie auch als Realie erscheinen lässt. So beschmutzt die außerliterarische Fälschung die Erfindung des Romans.

Schließlich finden die Lizenzen der Fiktionalität in diesem Fall auch eine thematische Einschränkung. Auf diese hat Patrick Bahners in der FAZ deutlich hingewiesen: „In den Theorien des historischen Wissens und der literarischen Fiktion wie im öffentlichen moralischen Bewusstsein ist Auschwitz der Inbegriff der Tatsache, mit der man nicht spielt.“ Die Shoah erscheint als Paradigma eines Ereignisses, das sich seiner Verwendung als literarischer Stoff verweigert. Dieser Aspekt der Debatte lässt die Selbst-Entlastung des Dichters Menasse endgültig auch als ethisches Problem erscheinen. Denn selbst im Bereich des Dichterischen verbieten es die kulturell ausgehandelten Regeln und Konventionen mit einem historischen Faktum wie Auschwitz uneingeschränkt fantasievoll zu verfahren. Daraus folgt kein absolutes Fiktionsverbot, aber doch die Forderung nach einem respektvollen und reflektierten Umgang, der über das freimütige und freche Spiel einer dichterischen Entpflichtung hinausgeht.

Schließlich verweist die Behauptung, Hallstein hätte die erfundenen Sätze sagen können (und sollen) – eine Argumentationsstrategie, die Thomas Mann ja auch auf seinen Goethe anwendet – auf ein letztes Missverständnis in der Kontroverse: Die Vorstellung, dass die ‚höhere Wahrheit‘ der fiktionalen Literatur die Erfindung von höheren Wahrheiten rechtfertigt. Diese Vorstellung kann sich auf die berühmte Verteidigung der Tragödie durch Aristoteles berufen, der in seiner Poetik schreibt: „Deshalb ist Dichtung auch etwas Philosophischeres und Erhabeneres als Geschichtsschreibung. Denn die Dichtung sagt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung aber das Besondere.“ Allerdings beschränkt Aristoteles diese Spiele mit der Möglichkeit eines Geschehens auf den eng umgrenzten Bereich der Tragödie selbst, und deren Aufführungskontext allein minimiert die Gefahr von Missverständnissen. Auch die ‚höhere Wahrheit‘ der Fiktion bedarf eines markierten Schutzraumes und das ist der Schutzraum des literarischen Textes – und auch dort darf man nicht willkürlich hausen; von nichts anderem spricht die Poetik, die ein frühes Zeugnis für einen poetologischen Text ist, der die Freiheit der Fiktionalität nicht nur postuliert, sondern auch einschränken möchte.

Der Hinweis auf dieses Missverständnis ist deshalb von Bedeutung, da der Fall Menasse das Publikum mit dem eigenen Bedürfnis konfrontiert, die „höhere Wahrheit“ mit der Realität zu verwechseln. Es schien zunächst, als sei die Öffentlichkeit dazu geneigt, Menasse mit seiner Fälschung durchkommen zu lassen und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem Menasse sich in diesen Fälschungen gerechtfertigt fühlte – weil es sich um eine politisch sympathische Illusion handelt. Allerdings gilt auch und gerade in diesem Fall: Eine Fälschung ist eine Fälschung und lässt sich auch nicht durch das vage literaturtheoretische Konstrukt einer ‚höheren Wahrheit‘ rechtfertigen, die nur deshalb anerkannt wird, weil es die ‚richtige Wahrheit‘ ist. Als reale Fälschung ist die ‚höhere Wahrheit‘ der Literatur überhaupt keine Wahrheit mehr, sondern eine Lüge. Natürlich möchte man gerne glauben, dass ein Mann wie Hallstein schon damals ein starkes Europa als Garant gegen die Exzesse des Nationalismus behauptet hat – aber es stimmt eben nicht. Es stimmt weder in der Historie, noch stimmt es im Roman. Postfaktisch sind immer die anderen, aber von Zeit zu Zeit erscheint es angemessen, das eigene Bedürfnis nach erwünschten ‚höheren Wahrheiten‘, die sich verführerisch als Realität ausgeben, zu hinterfragen.