Total Translation
„An ihrer archaischen Quelle ist die Dichtung Gesang und das „Geheul“ des Priesters und Heilers. In dieser frühen kultischen Praxis sind die Seele und die Dinge noch nicht voneinander getrennt, die Materie, die Tiere, Pflanzen und Menschen sind ineinander verwandelbar. In diese Sphäre des Ungeschiedenen führen uns seit einiger Zeit die Dichtungskonzepte einiger amerikanischer Dichter, die das Mystische und das Biologische in einer poetischen Symbiose vereinigen wollen. An diese schamanistische Vorstellung knüpfen auch die Gesänge der Navajo-Indianer an, denen der jüdisch-amerikanische Dichter und Ethno-Poet Jerome Rothenberg eine „Total-Übersetzung“, eine „Total Translation“ gewidmet hat. Die aktuelle Ausgabe, die Nummer 82 der Literaturzeitschrift „Schreibheft“ gibt einen faszinierenden Einblick in diese Welt der Sprachmagie. Im Blick auf diese Gesänge darf man sich den Dichter als „verrückten Hund“ oder aber als „weißes Geisterpferd“ vorstellen. Denn in dieser Dichtung sind die Tiere die poetischen Repräsentanten der leiblichen wie seelischen Entäußerung des Dichters. „Mal dich weiß an“, heißt es in einem dieser indianischen Gesänge, „steig auf ein weißes Pferd leg ihm die Hände auf die Augen und bring es dazu einen steilen und felsigen Hang hinunterzuspringen bis ihr beide zerschmettert seid.“ Jerome Rothenberg hat den paradox anmutenden Versuch unternommen, die ursprünglich rein orale Kultur der Navajo-Indianer in eine poetische Schriftform zu bringen. Die reinen Lautketten des Navajao-Idioms werden in ein Englisch transferiert, das seinerseits die schamanistische Energie des Ursprung-Gesangs in sich aufnimmt. Die Herkulesaufgabe der „Total Translation“ der Navajo-Lieder ins Deutsche hat sich im „Schreibheft“ der Berliner Dichter Norbert Lange aufgeladen. Er hat nicht nur das „Schreibheft“-Dossier zu Jerome Rothenberg zusammengestellt, sondern demonstriert auch am Beispiel des „Horse-Songs“, wie die archaischen poetischen Energien entbunden werden können. Das Pferd ist nicht nur bei den Navajo-Indianern, sondern auch in der frühen europäischen Dichtung das poetische Wappentier par exzellence. Norbert Lange findet für den „Horse-Song“ eine Sprache der unablässigen lautpoetischen Aufladung und absoluten semantischen Entgrenzung – eine Zerstäubung des Sinns zugunsten mystischen Stammelns.“
Michael Braun in seiner Zeitschriftenlese im Poetenladen.
Weiteres über das neue Schreibheft N° 83 hier.
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