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Hundertvierzehn | Extra
Gespräch über Dante

Ossip Mandelstams wichtigster Essay ist ein Manifest gegen alles Erstarrte, Dekretierte, Dogmatische. Zum 125. Geburtstag des russischen Dichters hat der Mandelstam-Übersetzer und -Herausgeber Ralph Dutli einige Kernsätze für uns ausgewählt.

 

Ossip Mandelstam

Ossip Mandelstam, am 15. Januar 1891 in Warschau in einer jüdischen Familie geboren, studierte in Petersburg, Paris und Heidelberg. Seine Gedichtbände ›Der Stein‹ (1913) und ›Tristia‹ (1922), autobiographische Prosa ›Das Rauschen der Zeit‹ (1925) und ›Die ägyptische Briefmarke‹ (1928), sowie seine Essays ›Über Poesie‹ (1928), sind Meilensteine der russischen Dichtung des 20. Jahrhunderts. Ab 1929 politischer Verfolgung ausgesetzt, konnte sein Werk erst Jahrzehnte nach seinem Tod erscheinen. Mandelstam ist eines der prominenten Opfer von Stalins Regime der Terrorjahre. Aufgrund eines satirischen Epigramms auf Stalin im Mai 1934 verhaftet und verbannt, wurde er 1938 erneut verhaftet und zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Er starb am 27. Dezember 1938 in einem Lager bei Wladiwostok. Seine Gedichte wurden von seiner Frau, Nadeschda Mandelstam, auswendig gelernt, versteckt und von Helfern in die USA geschmuggelt. Das Gesamtwerk, auf Deutsch 1985 bis 2000 im Ammann Verlag erschienen, ist im S. Fischer Verlag erhältlich.

Die Qualität der Poesie liegt in der Schnelligkeit und Entschlossenheit, mit der sie ihre Vorhaben und Befehle in die nicht-instrumentale, lexikalische, rein quantitative Natur der Wortbildung hineintreibt. Man muss springend einen Fluss in seiner ganzen Breite überqueren, der voll ist von beweglichen und in verschiedene Richtungen strebenden chinesischen Dschunken – so entsteht der Sinn poetischer Sprache. Seine Marschroute lässt sich nicht durch Befragen der Schiffer rekonstruieren: Sie können uns nicht sagen, wie und warum wir von der einen Dschunke auf die andere gesprungen sind.

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Poetische Sprache ist ein Teppichgewebe aus einer Vielzahl von Fäden, die sich nur im Farbton der Ausführung voneinander unterscheiden, nur in der Partitur des sich ständig verändernden Befehls der instrumentalen Signalgebung.
Sie ist ein aus Wasser gewebter, äußerst dauerhafter Teppich, ein Teppich, in dem sich die Strömungen des Ganges, als textiles Thema verstanden, nie mit denen von Nil und Euphrat vermischen, sondern verschiedenfarbig bleiben in diesen Geflechten, Figuren und Ornamenten, nicht jedoch Mustern, denn das Muster entspricht genau der Nacherzählung. Das Ornament ist gerade deshalb schön, weil es die Spuren seiner Herkunft bewahrt – als ein spielend inszeniertes Stück Natur. Sei es Tier- oder Pflanzenornament, steppennomadisch, skythisch, ägyptisch, einheimisch oder barbarisch – es ist immer sprechend, sehend, wirkend.

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Als der Kreis einer Zeit zu umreißen war, für die ein Jahrtausend weniger ist als ein Wimpernschlag, führt Dante eine kindliche Lautsprache ein in seinen astronomischen, konzertanten, zutiefst öffentlichen Verkünderwortschatz.
Dantes Werk bedeutet vor allem das Hinaustreten der damaligen italienischen Sprache als Ganzes, als System, in die Weltarena.
Die dadaistischste aller romanischen Sprachen rückt auf den weltweit ersten Platz.

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Die Lektüre Dantes ist vor allem eine nie endende Arbeit, die uns, je mehr wir fortschreiten, umso weiter vom Ziel entfernt. Bringt eine erste Lektüre nur Atemnot und eine gesunde Müdigkeit, so besorge man sich für die folgenden ein Paar unverwüstliche Schweizer Nagelschuhe. Ich frage mich allen Ernstes, wie viele Sohlen, wie viel Rindsleder, wie viele Sandalen Alighieri während seiner dichterischen Arbeit auf den Ziegenpfaden Italiens durchgelaufen hat.

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Jedes Wort ist ein Strahlenbündel: Der Sinn bricht in verschiedene Richtungen aus ihm hervor und eilt nicht auf den einen, offiziellen Punkt zu. Wenn wir „Sonne“ sagen, machen wir eine gewaltige Reise, an die wir uns so sehr gewöhnt haben, dass wir sie im Schlaf absolvieren. Poesie unterscheidet sich gerade dadurch von einer automatischen Rede, dass sie uns weckt und aufrüttelt in der Mitte des Wortes. Dann erweist dieses sich als weitaus länger, als wir gedacht haben, und wir erinnern uns, dass Sprechen bedeutet – immer unterwegs zu sein.

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Das Altertum ist in Dantes Verständnis allem zuvor Panoramablick, höchste Gesamtschau, Weltumspannung. Im Odysseus-Gesang ist die Welt bereits rund.
Es ist ein Gesang über die Zusammensetzung des menschlichen Blutes, in dem das Salz des Ozeans enthalten ist. Das Prinzip der Reise liegt im System der Blutgefäße begründet. Das Blut ist planetarisch, solar, salzig …

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Undenkbar, Dantes Gesänge zu lesen, ohne sie auf die Gegenwart zu beziehen. Dazu sind sie geschaffen. Sie sind Gerät zum Einfangen der Zukunft. Sie verlangen einen Kommentar im Futurum.   
Die Zeit ist für Dante der Inhalt der Geschichte, die er als einen einzigen synchronistischen Akt versteht, und umgekehrt: Der Inhalt der Geschichte ist das mit seinen Gefährten, Mitsuchern, Mitentdeckern gemeinsam gehaltene Gut der Zeit.
Dante ist ein Anti-Modernist. Seine Gegenwart ist unerschöpflich, unermesslich, unversiegbar.

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Für die tastende Hand, die sich auf den Hals eines erwärmten Kruges legt, bekommt dieser seine Form dadurch, dass er warm ist. Wärme geht in diesem Fall der Form voraus, gerade sie leistet die skulpturierende Funktion. Im Zustand der Kälte, gewaltsam ihrem Glühen entrissen, taugt Dantes „Komödie“ nur gerade zu einer Zerlegung mittels mechanistischer Zängelchen, nicht aber zum Lesen, zur ausführenden Lektüre.

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In Puschkins Verständnis, das er von den großen Italienern als freies Erbe übernommen hat, ist die Poesie ein Luxus, doch ein Luxus, der so lebensnotwendig ist wie Brot und manchmal genauso bitter.


Aus: Ossip Mandelstam, BAHNHOFSKONZERT. Das Ossip-Mandelstam-Lesebuch. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli.

Bahnhofskonzert

Lange Zeit verschloss das »Jahrhundert der Wölfe« den Zugang zu Ossip Mandelstam. Sein Werk, ein Meilenstein der Weltliteratur, blieb in Russland bis in die 80er Jahre verboten. Für den deutschsprachigen Leser machte es Ralph Dutli mit seiner zehnbändigen Ausgabe im Ammann Verlag auf mustergültige Weise zugänglich. Mit viel gelobten Übersetzungen, präzisen und ausführlichen Kommentaren und glänzenden Nachworten erschloss er uns einen bis dahin Unbekannten. In diesem Band zieht Ralph Dutli eine Summe seiner Arbeit: Entstanden ist ein lebendiges Porträt Ossip Mandelstams aus Gedichten, Geschichten, Essays und Erinnerungen: der Gesang des »modernen Orpheus« (Joseph Brodsky). Eine Einladung zum Staunen.

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Frankfurt am Main 2020
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