Kippeffekte
Das Eis in der Arktis schmilzt wesentlich schneller als bisher angenommen. Das Forschungsschiff «Polarstern» hat diese im Gang befindliche Katastrophe auf ihrer jüngsten, ein ganzes Jahr andauernden Forschungsreise noch genauer vermessen. Wissenschaftler sprechen von Kipppunkten: Mit dem Schwinden des Eises in der Arktis nehmen die Meere über die Sonneneinstrahlung mehr Wärme auf. Die Temperaturen in Sibirien steigen, die Böden tauen auf, das darin gespeicherte Methan entweicht, was wiederum zur Klimaerwärmung beiträgt. Zugleich wird der Regenwald im Amazonas zusätzlich zur von Menschen verursachten Abholzung geschädigt.
Mit dem Wort Kipppunkt wird die Tatsache umschrieben, dass Systeme aus dem Gleichgewicht geraten und Effekte erzeugen, die man sich bislang in dieser Weise nicht vorgestellt hätte und die in ihrer weiteren Entwicklung nur schwer vorherzusagen sind. Das ist die eine Seite der Umweltproblematik.
Die andere Seite besteht darin, dass trotz intensiver internationaler Diskussionen einschliesslich vertraglich vereinbarter Ziele für die Rückführung der CO2-Emissionen bislang eher ein Ansteigen als ein Sinken zu verzeichnen ist. Die Wunder der Technik lassen auf sich warten, und sicher ist nur eines: Eine radikale Änderung der Konsumgewohnheiten und Lebensstile gelingt vielleicht punktuell, aber nicht in einer global benötigten Grössenordnung.
Dennoch beharren Klima-Wissenschaftler darauf, dass am 2-Grad-Ziel festzuhalten sei, und die Grünen erfreuen sich grosser Popularität. In Deutschland haben sie schon das Kanzleramt für die nächste Legislaturperiode im Visier, und um diese Chance nicht zu verspielen, machen sie klar, dass ihre ökologische Kritik am Reisen mit dem Flugzeug so rigoros, wie sie bisweilen klingt, nun auch wieder nicht ist. Der Mallorca-Flug ist schon ok.
Mit einer gewissen Portion Zynismus lässt sich die Frage stellen, ob es in Anbetracht der sich schon jetzt abzeichnenden Kippeffekte nicht durchaus realistisch ist, die Möglichkeiten klimaverträglichen Verhaltens geringer als bisher zu veranschlagen. Insofern wäre der Opportunismus der Grünen der wahre Realismus. Und man kann die einschlägigen Wissenschaftler fragen, ob nicht ihre Diagnose der Kippeffekte so niederschmetternd ist, dass daraus keine rationalen Handlungsoptionen zur Begrenzung oder gar Umsteuerung mehr abgeleitet werden können.
Wir lebten dann allerdings in einer buchstäblich hoffnungslosen Gesellschaft. Das wäre auch ein Kippeffekt.
Dass wir mehr und mehr in einer hoffnungslosen Gesellschaft leben, scheint wahr zu werden. Selbst die Grünen mögen lieber an der Macht schnuppern oder noch lieber daran teilhaben, als der Realität in die Augen zu sehen, um vor allem potentielle Wähler, aber auch verdienstvolle Parteigänger nicht zu vergraulen. Das System des Kapitalismus mit der sakrosankten Doktrin des Wachtums ist widerstandsfähiger als das Klima oder die Artenvielfalt. Einschränkungen bezüglich Konsum sind für alle Politiker des Teufels und seien wir ehrlich auf für die Mehrheit der Bürger - ausser es ist gerade Pandemie. Eine derartige Symbiose ist der Garant für die Wiederwahl von Politikern. Eine Lebensweise nach mir die Sintflut hat Hochkonjunktur. Wer dafür plädiert, andere Wertvorstellungen und Lebensweisen zu vertreten und sie auch entsprechend zu leben, hat gute Chancen, als Ausserirdischer bezeichnet zu werden. Wer sich in Verzicht übt, erleidet einen Lebensqualitätsverlust wird allenthalben moniert. Der Homo sapiens ist wie geschaffen dafür, sein eigenes Gärtchen zu pflegen und zu hegen. In grösseren Dimensionen zu denken und zu verinnerlichen, also anderen Wesen die Lebensgrundlage nicht gänzlich zu entziehen, ist sozusagen nicht menschengerecht. Solange das so ist, kann sich nichts ereignen, das Besserung verspricht. Alles Leben auf diesem Planeten hätte eine Berechtigung; das wäre ein Ansatz, um bescheidener, demütiger zu leben. Aber dies in diesem System nicht vorgesehen. In diesem geht es um das Recht des Stärkeren, des Selbstbezogenen, der wie es ihm genehm ist, Leben ausradiert, anstatt zu schützen. Ein Umdenken zu Gunsten der Natur ist mit Technik und Digitalisierung alleine nicht zu haben. Es bräuchte ein ganz anderes Bewusstsein, um davon überzeugt zu sein, der der Zustand der Welt etwas mit einem selber zu tun hat. Dass hierbei das eigene Gemüt mehr Gewinn als Schaden nehmen könnte, wird geflissentlich unterschlagen. Das Wissen, das allseitig vermittelt wird, hat mit der Einsicht für den Erhalt einer noch lebenswerten, ressourcenschonenden, der Artenvielfalt verpflichtenden Welt nicht sehr viel zu tun. Solange sich daran nichts ändert, leben wir in einer hoffnungslosen Gesellschaft.