Verhinderungssieg im „Land der Frühaufsteher“
Das war ein Paukenschlag, als am Sonntag Punkt 18 Uhr die demoskopisch ermittelte Prognose für den Wahlausgang der Abstimmung über den nächsten Magdeburger Landtag verkündet wurde: 36 Prozent für die schon vom bisherigen Ministerpräsidenten Reiner Haseloff geführte CDU, 24 Prozent für die in weiten Teilen rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD). Am Ende lautete das Verhältnis sogar 37 zu 20,9. Auch unter den Mitbewerbern – Linke, Grüne, SPD und FDP – vollzog sich an diesem denkwürdigen Tag Bemerkenswertes.
Doch die Aufmerksamkeit weit über die schwarz-rot-goldenen Grenzen hinaus galt nahezu ausschliesslich der Frage: Wie tief hat sich rechtsfaschistisches Gedankengut, haben sich neuer wie alter Antisemitismus und Hass auf alles Fremde sowie die Ablehnung des demokratischen Systems mittlerweile in der deutschen Gesellschaft etabliert und festgebissen?
Allgemeines Aufatmen
Den bangen Fragen folgte ein weithin vernehmbares, erleichtertes Aufatmen. Zum einen nach dem Motto: Es hätte auch noch schlimmer kommen können. Zum anderen begleitet von dem Jubel: Seht her, wir – die Christdemokraten – können ja doch noch Wahlen gewinnen! Das klare, eindeutige Ergebnis dieses letzten regionalen Urnengangs vor den Bundestagswahlen am 26. September macht es den Betrachtern zudem relativ einfach, die wesentlichen Ursachen und vermutlichen Wirkungen zu benennen.
Der hohe Sieg ist, fraglos, ein persönlicher Triumph des 67-jährigen Ministerpräsidenten Reiner Haseloff, der nun sein drittes Kabinett bilden kann. Der bedächtige Christdemokrat hat das Kunststück geschafft, das vor fünf Jahren, bei Gott, nicht wegen gegenseitiger Sympathie errichtete und nahezu wöchentlich vom Einsturz bedrohte Koalitions-„Bollwerk gegen rechts“ aus CDU, SPD und Grünen immer wieder zu stabilisieren. Trotzdem trägt der unerwartet grosse Erfolg der Christlichen Demokraten in Sachsen-Anhalt einen Namen: „Verhinderung“.
Wer vor allem die Wanderbewegungen der Wählerschaften analysiert, kommt schnell zu der Erkenntnis, dass viele Stimmberechtigte aus „eigentlich“ anderen politischen Lagern trotzdem dieses Mal für die CDU votiert haben, weil sie in deren Stärkung die einzige realistische Chance sahen, einen dramatischen Rechtsruck im Land zu verhindern.
Entscheiden dabei war, dass diese Wähler der Festlegung Haseloffs glaubten, es werde weder irgendwelche Gemeinsamkeiten, noch gar Koalitionen mit den rechten „Alternativen“ geben. Davon liess sich sogar jene Bevölkerungsgruppe im Land beeindrucken, die sonst in aller Regel den Stimmurnen fernbleibt – 35’000 sogenannte Nichtwähler votierten für die CDU.
Letzter Stimmungstest vor Bundestagswahl
Landtagswahlen sind immer auch Hoch-Zeiten für politische Kaffeesatzleser. Welche Auswirkungen, so die zentrale Frage, haben sie wohl auf den Bund? Gibt die Stimmung in der Region möglicherweise (oder vielleicht sogar tatsächlich) die gesamtstaatliche Gefühlslage wieder? Natürlich liegt diese Frage im aktuellen Fall besonders nahe. Das Votum vom Sonntag an Elbe und Saale, im Harz und an den Wirkungsstätten von Martin Luther war schliesslich der letzte Stimmungstest vor der spannenden Bundestagswahl am 26. September. Jenem Ereignis also, bei dem es nicht bloss um parlamentarische Mehrheiten geht, sondern um die Nachfolge der (scheinbar) „ewigen“ Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Kein Wunder, dass in den Berliner Zentralen der Parteien die Köpfe rauchen. Mit Armin Laschet, dem CDU-Bundesvorsitzenden, hat zumindest einer der Protagonisten Grund durchzuschnaufen. Der erst vor wenigen Monate nach einem nicht sonderlich schönen Machtkampf mit seinem Münchener Kollegen Markus Söder zum gemeinsamen Kanzlerkandidaten der Union ausgerufene nordrhein-westfälische Ministerpräsident hat ganz sicher nichts (oder nur wenig) zur Entscheidung über den nächsten Magdeburger Landtag beigetragen. Und doch profitiert er, ohne Frage, erheblich vom dortigen Ergebnis.
Haseloffs persönlicher Triumph und das damit verbundene Abschneiden der CDU hat der in jüngster Zeit – nicht ohne eigenes Verschulden – ziemlich gebeutelten Bundespartei zumindest einen deutlichen moralischen Schub gegeben. Wäre „Magdeburg“ für die CDU anders verlaufen, hätte Laschet ganz sicher den dicksten Packen mit Schuldzuweisungen aufgebürdet bekommen.
Ritt auf der Rasierklinge
Das allerdings ist dies auch so ziemlich das Einzige, was als Lehre für den Bund hätte gelten können. Dies und vielleicht auch noch die Erkenntnis, dass die Wähler Klarheit, Deutlichkeit, Ehrlichkeit und Mut anerkennen und zu honorieren wissen. Denn es ist für Reiner Haseloff mit Sicherheit nicht einfach gewesen, vor allem seine Partei so konsequent von den politischen Rechtsaussen abzugrenzen. Gerade in der sachsen-anhaltinischen CDU existieren viele persönliche Verbindungen mit Kollegen der AfD – Verbindungen, die mitunter viele Jahre zurückreichen und die man (jenseits von Ideologien und parteilichen Zugehörigkeiten) auch nicht aufgeben möchte. So gesehen glich die Abgrenzungsstrategie des Magdeburger Regierungschefs durchaus auch einem Ritt auf der Rasierklinge.
Insgesamt allerdings hat das überraschende Ergebnis neben einem in dieser Höhe absolut nicht erwartbaren Triumph zwar manche Enttäuschungen, viele politische (auch persönliche) Debakel gebracht, aber kaum wirklich verwertbare Ausblicke auf die Bundestagswahl. Die schon im Wahlkampf erkennbare und sich im Resultat niederschlagende Polarisierung in der Sorge vor einem Rechtsruck wird sich beim Rennen um die Bundestagsmandate in dieser Weise kaum wiederholen.
Trotzdem könnten sich, bei aller Vorsicht, immerhin ein paar Tendenzen abzeichnen. Beispiel die Partei „Die Linke“: Während die mehrfach umgetauften Nachfolger der einstigen DDR-Staatspartei SED im Westen der Republik kaum je eine Rolle spielten, konnten sie im Osten im Verlauf der Jahre immer mehr Punkte sammeln und fühlten sich dort – durchaus zu Recht – inzwischen als neue Volkspartei. Man honorierte, dass sie sich als eine Art „Kümmerer“ der Sorgen und Nöte von Menschen annahm, die sich nach der Wiedervereinigung abgehängt und vergessen wähnten.
In Sachsen-Anhalt verlor Die Linke 5,1 Punkte und landete bei für sie mickrigen 11,2 Prozent. Und das in einem Land, das nach 1990, etwa beim Umbau der veralteten Chemie-Industrie oder bei der Braunkohle-Förderung, schmerzhafte Prozesse durchlebte, aus dem hunderttausende vor allem junger Menschen abwanderten und in dem deshalb heute mehr alte als junge Menschen leben. Nach Höhenflügen in den vergangenen Jahren verzeichnet die linke Partei allerdings nun schon seit längerem einen Niedergang – auch und gerade im Osten. Wird dieser Trend bis zum 26. September zu stoppen sein? Oder gar umkehren? Kaum anzunehmen.
Wird grün allmählich grau?
Und was ist mit den Grünen, die besonders seit dem vorigen Herbst geradezu getragen werden von einer Welle der Zustimmung und Begeisterung. Während Merkels CDU infolge Impfpannen und diversen Skandalen von etwa 40 Prozent im Sommer 2020 auf jetzt lamentable 25 abstürzte, zogen die einstigen Sonnenblumenfreunde mit dem neuen Strahlepaar Annalena Baerbock und Robert Habeck in der Gunst des Volkes zeitweise sogar an den ratlosen Christdemokraten vorbei. Nun gebietet die Fairness den Hinweis, dass diese Himmelsstürmerei vor allem im Westen und dort bei jungen Menschen erfolgte, während im Bereich der einstigen DDR davon nicht so viel zu spüren war. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn Baerbock angesichts des Mini-Ergebnisses von nur 6,1 Prozent nur den kleinen Zugewinn von 0,9 Prozent im Vergleich zu vor vier Jahren vorweisen kann.
Natürlich wird das sachsen-anhaltinische Debakel von den grünen Analysten genauestens untersucht werden. Schliesslich gilt es aufzupassen, dass grün nicht im Herbst möglicherweise zu grau wird. Doch diese Gefahr lässt sich aus „Magdeburg“ nicht ableiten, ein Abflauen des „Durch-die-Decke-Schiessens“ dagegen schon. Vor allem die neue Hoffnungsträgerin Annalena Baerbock hat in den vergangenen Wochen einige Böcke geschossen – politische wie private, Nichts Dramatisches, aber es ist für sie halt eine bislang noch nicht gekannte Erfahrung, dass politische Gegner so etwas nicht durchgehen lassen. Auch nicht einer Frau. Und schon gar nicht in Wahlkampfzeiten.
Was wird aus der SPD
Was soll bloss aus der SPD werden? Während die Liberalen in Magdeburg nach zehn Jahren ausserparlamentarischer Opposition wieder in den dortigen Landtag einziehen konnten und sich (aus gutem Grund) durchaus vorstellen können, an der nächsten Regierung beteiligt zu werden, purzelten die Sozialdemokraten mit 8,3 Prozent sogar in die Einstelligkeit. Deutschlands älteste Partei, die Partei, die Bismarcks Sozialistengesetze überlebte, die unter der Verfolgung durch die Nazis litt und von den Kommunisten in der DDR zur SED zwangsvereinigt wurde. Die Partei Bebels, Schumachers, Brandts, Wehners und Schmidts. Bei 8,3 Prozent! Wer heute auf der Strasse nach den sozialdemokratischen Vorsitzenden fragt, wird allenfalls fragende Blicke ernten. Es bietet sich ein Bild des Elends, und die Frage, ob der bereits im Dezember zum Kanzlerkandidaten gekürte aktuelle Bundesfinanzminister Olaf Scholz bei der Bundestagswahl Wege aus diesem Elend zu finden weiss, scheint allmählich zu einer Überlebensfrage zu werden.
Dieses Problem hat Reiner Haseloff nicht. Im Gegenteil, nach der Wahl am vergangenen Sonntag bieten sich sogar mehrere Lösungen für seine künftige Landesregierung an. Es ginge (wie bisher) mit der SPD und den Grünen, er könnte mit den Freien Demokraten und mit Grün oder mit Rot, hat also praktisch ein Luxusproblem. Er muss auch nicht sofort entscheiden. Die Koalitionsverhandlungen werden sich daher vermutlich auch noch ziemlich lange hinziehen. Dabei soll, betont er immer wieder, das Wohl des Landes ganz obenan stehen. Es wird seine letzte Amtszeit sein. Am Ende wird man sehen, ob es ihm gelingt, Sachsen-Anhalt vielleicht sogar ein neues Logo zu verpassen. Noch nennt es sich selbst das „Land der Frühaufsteher“ – wegen der vielen täglichen Pendler nach Berlin und in den Westen.