Siegfried Lenz: Das serbische Mädchen (Erzählungen) |
Siegfried Lenz: Das serbische Mädchen |
Das serbische Mädchen
Mit achtzehn läuft Dobrica von zu Hause fort. Weil sie keine Papiere hat, lässt sie sich von einem Lkw-Fahrer unter einer Ladung Felle verstecken und gelangt so nach Österreich. Dort leistet sie sich eine Zugfahrkarte. An der Grenze zu Deutschland wird sie aufgegriffen, aber bei einem unerwarteten Halt des Zuges auf freier Strecke gelingt es ihr, dem Beamten zu entkommen. Achims Mutter hörte zum ersten Mal die Geschichte des letzten Sommers: also von der Panne und der Hilfe und der Wiederbegegnung am Strand und von den wilden Bienen und ihren Stichen und von der Salbe, die Achim half. Auch von einem Fest erfuhr sie und von einem Inselausflug und einem Versprechen -- was allerdings die abgebrochene Löffelschale besagte, die das Versprechen besiegelt haben sollte, das verstand die Frau nicht.
Achim ist bei seinen Eltern ausgezogen und wohnt nun in einem Hochhaus. Mit der Abendschule hat er aufgehört, weil er morgens früh aufstehen und für seinen Arbeitgeber mit einem Lieferwagen zum Blumenmarkt fahren muss. Als sie den Augenblick für gekommen hielt, fischte sie aus ihrem Ledertäschchen die abgebrochene Löffelschale heraus, legte sie lautlos auf den Tisch und beschwor durch diese Geste sogleich jenen Abend am Strand, an dem Achim, nachdem er das Geschirr im Meer abgewaschen hatte, plötzlich einen Aluminiumlöffel zerbrach, ihr die Schale gab und selbst den Stiel behielt und dazu etwas sagte, das sie nicht verstand, nicht zu verstehen brauchte, da sie längst begriffen hatte, was gemeint war und für immer gelten sollte.
Achim durchwühlt seine Schubladen, aber den Löffelstiel findet er nicht. Der Redenschreiber
Der Redenschreiber Gert Lassner fährt mit seiner Frau Maren, den Kindern Franz und Corinna sowie dem Labrador Bolzo für ein verlängertes Wochenende ins Sommerhaus des Referenten Dolenga, um dort eine Rede über den deutschen Nationalcharakter für den Minister zu schreiben. Zum VorzugspreisHenry und Nelly sind seit 30 Jahren verheiratet. Er rupft gerade Tauben, als Nelly ihm eine Bluse zeigt, die sie für 59.80 DM kaufte. Da lässt er die restlichen Tauben erst einmal liegen, geht mit ihr ohne weitere Erklärungen ins Kaufhaus und verlangt den Chef, Herrn Kurtz. Mensch, Henry, sagte er aufgeräumt, endlich machst du's mal wahr, und das ist deine Frau, wenn ich nicht irre. Dass der Chef sie schon beim Eintritt bemerkte hatte, waren sie nicht gewahr geworden, er begrüßte sie mit einwandfreier Überraschung, hielt Ausschau nach einem stilleren Winkel, wo man der Wiedersehensfreude nachgeben könnte, fand aber augenscheinlich nichts und legte dem kleinen Mann eine Hand auf die Schulter -- mit einem Ausdruck von Versonnenheit, der die Frau erstaunte.
Nach einer Weile tut er so, als entdecke er die Kaufhaustüte mit der Bluse, nimmt sie und geht damit zur Kasse. Kaum ist er weg, fragt Nelly ihren Mann: "Woher, Henry, woher kennt ihr euch?" Herr Kurtz kommt zurück, reicht Nelly die Tüte und gibt ihrem Mann den neuen Bon über 37.10 DM und etwas Geld. Die Kunstradfahrer
Kalli beobachtet in einer verlassenen Fabrik die beiden Kunstradfahrer Wim und Paul beim Üben. Das imponiert ihm so, dass er sich von seinem Vater ein erstes Fahrrad erbettelt, das Radfahren erlernt und heimlich Kunststücke übt. Sein Ziel ist es, freihändig auf dem Sattel stehen zu können. Jeder weiß, dass ein Kunstradfahrer sein Training nicht unterbrechen darf, weil man zu schnell aus der Übung kommt und auch die Kommandos vergisst. Darum konnte Kalli es sich gar nicht leisten, mit dem Üben aufzuhören. Auf der Suche nach einem Fahrrad beobachtet Kalli, dass die Gemeindeschwester jeden Nachmittag zur gleichen Zeit zu dem kranken Kapitän fährt und dort zwei Stunden bleibt. Kalli glaubte, dass Gemeindeschwestern nicht allzuviel für Kunstradfahrer übrig haben, darum fragte er erst gar nicht. Er saß einfach auf und strampelte zur alten Fabrik. Seine Mutter wundert sich, wieso er nach wie vor mit ständig neuen Schürfwunden nach Hause kommt. Jeden Nachmittag übt Kalli in der Fabrik. Schließlich ist es so weit: Also jetzt oder nie, das große Kunststück, die Gesellenprüfung der Kunstradfahrer: der Stand auf dem Sattel mit ausgebreiteten Armen. Ein Fuß ist schon oben, noch halten die Hände die Lenkstange. Nun den anderen Fuß, behutsam, gleichmäßig, auch das ist geschafft. Das Rad gehorcht, wird langsamer. so, und jetzt aufrichten zum Stand, höher, noch höher, die Arme dürfen ruhig wackeln. Kalli steht oben, schwankend, aber er steht.
In diesem Augenblick klatschen Wim und Paul am Fabriktor Beifall. Kalli sieht nur einen Augenblick überrascht hin. Das genügt. Die Lenkstange schlägt um, das Rad rutscht weg. Im Bett kommt er wieder zu sich.
Na, sagte Kallis Vater, am Sonntag kommen wir alle mal rüber. |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Siegfried Lenz (Kurzbiografie) |