Sebastian Haffner: Die deutsche Revolution 1918/19 (Sachbuch) |
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Inhaltsangabe: Die Oberste Heeresleitung war seit Herbst 1916 Deutschlands wirkliche Regierung. Der wirkliche Kaiser hieß von jetzt an Hindenburg, der wirkliche Kanzler Ludendorff. (Seite 19) Als sich die Russen nach der Oktoberrevolution am 3. März 1918 in Brest-Litowsk erbarmungslose Friedensbedingungen diktieren ließen, und der Zweifrontenkrieg der Deutschen damit endete, schien der Sieg zum Greifen nahe. Aber am 27. September 1918 gab Ludendorff den Krieg plötzlich verloren – und begann daraufhin, die Niederlage so effizient zu planen wie zuvor die Kriegsführung. Ludendorff war niemals ein Mann der Vorsicht, der Rückversicherung und der nach allen Seiten offen gehaltenen Optionen gewesen. [...] Ludendorff war gewohnt, Alternativpläne in Gedanken generalstabsmäßig durchzuspielen, sich dann scharf für einen zu entscheiden und den gewählten Plan mit äußerster Energie durchzuführen. (Seite 32) Um die Existenz der Armee zu retten, wollte er schleunigst einen Waffenstillstand herbeiführen, und um zugleich die Ehre der Armee zu retten, sollte das entsprechende Gesuch an die Alliierten nicht von der militärischen, sondern von der politischen Führung gestellt werden. Mit einer "Revolution von oben" köderte er die Parteien, die im Reichstag die Mehrheit hatten – allen voran die Sozialdemokraten –, damit sie die ihnen zugedachte Rolle übernahmen. Das vergrößerte zugleich die Chancen auf eine Annahme des Waffenstillstandsgesuches durch US-Präsident Woodrow Wilson, der erst am 27. September betont hatte, nur mit parlamentarischen Regierungen verhandeln zu wollen. Je vollständiger der Bruch mit der bisherigen Regierung und Verfassung war, umso glaubwürdiger würde es sein, dass das Waffenstillstandsgesuch dem eigenen politischen Wollen der neuen Männer entsprungen sei – und dass die Armee nichts damit zu tun hatte. (Seite 37)
Am 29. September 1918 setzte Erich Ludendorff seinen Plan durch. Tags darauf verfügte Kaiser Wilhelm II. die Beteiligung der Reichstagsparteien an der Regierung. Prinz Max von Baden, der neue Reichskanzler, wehrte sich vergeblich gegen Ludendorffs Forderung, unverzüglich ein Waffenstillstandsgesuch an die Kriegsgegner zu richten: Am 4. Oktober musste er sich fügen, weil Ludendorff angeblich oder tatsächlich mit dem unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch der Westfront rechnete. Nach dem Krieg – das bedeutete für den einfachen Mann in Deutschland bis tief in den Sommer 1918 hinein: nach dem Sieg oder, allenfalls, nach einem Verständigungsfrieden. Der Gedanke an eine mögliche Niederlage war nie ernsthaft aufgekommen. Hatte man nicht vier Jahre lang ununterbrochen Siege errungen? Stand man nicht überall in Feindesland? Hatte man nicht Russland bereits zum Frieden gezwungen? Der Krieg bestand für die Menschen in Deutschland aus Hunger, aus Sorge um "die draußen" – und aus Siegesnachrichten. (Seite 24)
In der zweiten Oktoberhälfte änderte Ludendorff noch einmal abrupt seine Haltung, agitierte gegen den angestrebten Waffenstillstand und vertrat öffentlich die Meinung, die Deutschen sollten weiterkämpfen. Auf diese Weise spielte er den Helden und schob den Politikern noch deutlicher sichtbar die Verantwortung für den verlorenen Krieg zu. Die Regierung, die darauf bedacht war, die Kriegsgegner nicht merken zu lassen, dass die Oberste Heeresleitung nicht mehr an einen Sieg glaubte, tat alles, um den Anschein zu erwecken, aus eigenem Antrieb zu handeln – und machte es ihren innenpolitischen Feinden umso leichter, später die sog. Dolchstoßlegende in die Welt zu setzen, derzufolge die im Feld unbesiegte deutsche Armee von den Politikern in Berlin hinterrücks gemeuchelt wurde. Wie aus der Meuterei [am 30. Oktober 1918 in Wilhelmshaven] eine Revolte geworden war, so musste jetzt aus der Revolte [am 4. November 1918 in Kiel] die Revolution [in Deutschland] werden. (Seite 65) Außer in München – wo der Berliner Journalist und Theaterkritiker Kurt Eisner ("ein Bilderbuch-Intellektueller mit Bart und Brille und Bohemeallüren" – Seite 197) als Regisseur und Hauptdarsteller eine "Ein-Mann-Schau" (Seite 198) veranstaltete – hatte die Novemberrevolution weder einen Führer noch eine Organisation, ... "[...] sie war das spontane Werk der Massen, der Arbeiter und der gemeinen Soldaten" (Seite 69) Als am 9. November 1918 die Massen in die Innenstadt von Berlin strömten, begriff Reichskanzler Max von Baden, dass die Revolution kaum noch niedergeschlagen werden konnte. Man musste sie gewissermaßen ersticken. Zu diesem Zweck log er, der Kaiser sei zurückgetreten und übergab – ohne dass er dazu das Recht gehabt hätte – das Amt des Reichskanzlers dem Parteichef der Sozialdemokratischen Partei, Friedrich Ebert. Einige Stunden später schickte Wilhelm II. seine Abdankung aus dem Hauptquartier in Spa nach Berlin. Er wolle zwar als Kaiser zurücktreten, nicht jedoch als König von Preußen. Aber diese Differenzierung hatte ohnehin keine Bedeutung mehr, denn die Erklärung wurde von der Regierung nicht gegengezeichnet und blieb damit ungültig. Die Ereignisse rollten ohnehin über die einzelnen Schritte Max von Badens und Wilhelms II. hinweg. Es war, als ob die Schauspieler in einer Haupt- und Staatsaktion noch augenrollend und gestikulierend ihre Verse deklamieren, während der Vorhang schon gefallen ist. (Seite 84f) Friedrich Ebert ("Typ des deutschen Handwerksmeisters: gediegen, gewissenhaft, von beschränktem Horizont" – Seite 95) empfand es als großes Unglück, dass ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die Sozialdemokraten die Regierung übernahmen und damit am Ziel waren, seine eigenen Parteifreunde die Revolution durchsetzen wollten.
Er [Friedrich Ebert] war kein Gegner der Regierung [...]; auch kein grundsätzlicher Gegner der Monarchie; schon gar kein Gegner der staatlichen Ordnung – er empfand sich und seine Partei als staatserhaltende Kraft, als die letzte Reserve des bestehenden Staates. (Seite 75) Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann aßen gerade an getrennten Tischen im Reichstag Kartoffelsuppe, als Unruhen vor dem Gebäude gemeldet wurden. Scheidemann schob seinen Teller zurück, trat durch ein bodentiefes Fenster auf einen Balkon und rief: "Das Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt! Es lebe die deutsche Republik!" (Seite 90) Reichskanzler Friedrich Ebert tobte über diese Eigenmächtigkeit, aber Scheidemanns Proklamation hatte sowieso keine staatsrechtliche Bedeutung. Gefährlicher war eine andere Entwicklung: Am nächsten Morgen, einem Sonntag, wurden in den Berliner Fabriken und Kasernen Arbeiter- und Soldatenräte gewählt, die um 17 Uhr zu einer Versammlung im Zirkus Busch zusammenkamen, um als provisorische Regierung einen "Rat der Volksbeauftragten" zu wählen. Friedrich Ebert ließ sich und seine Regierung nicht auf die Seite schieben, sondern es gelang ihm, neben Hugo Haase als einer der beiden Vorsitzenden des Rats der Volksbeauftragten gewählt zu werden. Wenn er die Revolution jetzt noch verhindern wollte, musste er zunächst einmal selbst zum Schein an die Spitze treten. (Seite 107)
Im heimlichen Bündnis mit Ludendorffs Nachfolger, General Wilhelm Groener, wollte Friedrich Ebert wieder für Ordnung sorgen, doch die heimkehrenden Soldaten, die er am 10. Dezember am Brandenburger Tor mit dem politisch unklugen Lob "Kein Feind hat euch überwunden!" (Seite 135) empfing, verließen spontan ihre Einheiten und konnten als Ordnungsfaktor nicht mehr eingesetzt werden. Die "bolschewistische Gefahr" war im Herbst 1918 in Deutschland eine Vogelscheuche, keine Realität. (Seite 128)
Weil der Berliner Stadtkommandant Otto Wels (SPD) die im Schloss einquartierte, erst in der Revolution formierte "Volksmarinedivision" von 1500 auf 800 Mann verkleinern wollte und ihr den Sold vorenthielt, besetzten die aufgebrachten Matrosen am 23. Dezember die Reichskanzlei und nahmen Otto Wels als Geisel. Die meuternden Matrosen kappten zwar die Telefonverbindungen in der Zentrale, konnten aber nicht verhindern, dass Friedrich Ebert über eine geheime Direktleitung die Oberste Heeresleitung in Kassel anrief und Hilfe anforderte. Als es den regierungstreuen Truppen nicht gelang, die Volksmarinedivision zu überwältigen, verhandelte die Regierung mit den Aufständischen und löste auf diese Weise den Konflikt.
Was am 5. Januar in Berlin geschah, hatte niemand vorausgeplant oder vorausgesehen. Es war eine spontane Massenexplosion. (Seite 155) Friedrich Ebert ließ die von den Aufständischen besetzten Gebäude nach und nach von regierungstreuen Soldaten räumen und die Revolution zusammenschießen. Mit derselben Arglosigkeit, mit der vor zwei Monaten die Revolution sich Ebert ausgeliefert hatte, lieferte sich jetzt Ebert der Gegenrevolution aus. (Seite 166f)
Mit der Wahl zur Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 war die Revolution für Friedrich Ebert endgültig beendet. |
Buchbesprechung:
[...] öffneten 1918 die Türhüter des Kaiserreichs den sozialdemokratischen Führern selbst das lange versperrte Außentor [...] Nach einem halben Jahrhundert des Wartens schien die deutsche Sozialdemokratie im November 1918 endlich am Ziel. Gedanklich brillant beleuchtet Sebastian Haffner (1907 - 1999) Gegensätze und Übereinstimmungen in Situationen, Motivationen und Aktionen und schildert ebenso pointiert wie leicht verständlich die Hauptlinien der komplexen Entwicklungen von September 1918 bis Januar 1919. Auch wenn man die eine oder andere von ihm aufgestellte Behauptung bezweifelt, ist es immer wieder ein intellektuelles Vergnügen, Sebastian Haffners journalistisch zugespitzte und zugleich auf das Wesentliche fokussierte Bücher zu lesen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 Textauszüge: © Kindler Verlag, Berlin 2002 Die Seitenangaben beziehen sich auf die Rowohlt-Taschenbuchausgabe von 2004 Seitenanfang |
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