Habe mich wieder einmal verlesen. Statt "Vorgebirge" lese ich
V o g e l g e b i r g e
Vogelgebirge. Was für ein schönes Wort. Und wie laut es ist, unruhig und mächtig. Etwas Großes, das sich in flatternde Bestandteile auflöst. Vogelgebirge.
Und ist es Zufall, dass ich mich bei Inger Christensen verlesen habe? Ich begann ihren Essay "Das Ende der Welt" zu lesen, der beginnt so:
Auf dem Wege zum Nordkap trifft man in Narvik auf ein Schild,
das von Entfernungen und Sehnsüchten in der Welt erzählt.
Die Reise beginnt.
28.01.2006 20:55:34
Diese Stimme
Reza Bolbol liebte Musik. Ich liebte seine Musik, weil sie von Instrumenten klang, die ich nicht kannte. Die Stimmen der Sänger drangen wie aus tiefen Höhlen daraus hervor, ihre Namen hatte ich nie zuvor gehört und vergaß sie im selben Augenblick.
Manche Stimmen hörte er mit der beginnenden Nacht, bis zum Morgengrauen. Sein Oberkörper wiegte sich im Rhythmus, einem seltsamen Rhythmus von Biegen und Brechen, in den gemischten Tonleitern nicht beschreibbarer Kadenzen.
Erst nach vielen Monaten bekam ich die Stimme seiner Lieblingssängerin zu hören. Meine Ohren hatten sich bis dahin gehört, durch die fremden Töne hindurch gehört bis an den Punkt, an dem das Verständnis für die brechenden Klänge in mich eingewachsen schien, als es so war, dass die Musik in ein Hören in höchster Konzentration gemündet war. Als ich die Texte mit stummen Lippen sprechen konnte, als sich bei manchen Stimmen der Boden auftat.
Wortlos legte Reza Bolbol eine Schallplatte auf. Begleitet von dumpfem Rauschen und Knacken ertönte das Raunen eines Publikums, vereinzelt riefen Stimmen einen Namen. Minutenlang hörte man nur diese Menschen in Erwartung, der unbekannte Raum – er schien dunkel zu sein, rauchgeschwängert – schwoll an von kehligen Lauten, wilden Rufen. Urplötzlich trat Stille ein. Musiker betraten die Bühne und nahmen ihre Plätze ein. Nach einem Moment, in dem das Raunen fast wieder zu Lärm geriet, abermals abrupte Stille, dann schlugen die Instrumente an, eine Trommel mit hellem Schlag über alle Köpfe hinweg und in einem Aufschrei dröhnender Kehlen, in einer Woge aus Beifall betrat sie den Saal: Om Kulthoum.
Wieder auf dem Sprung gegenüber dem unbezwinglichen Außen. Auge und Hand fiebernd nach dem Nicht-Selbst. Durch die von ihm unablässig veränderte Hand unablässig verändertes Auge. Zum Nicht-zu-Sehenden und Nicht-zu-Schaffenden vor- und zurückstoßender Blick. Ruhe im Hin- und Her und Spuren dessen, was es heißt, zu sein und gegenüber zu sein. Tiefe wunde Spuren.
Samuel Beckett, Für Avigdor Arikha (1966)
22.01.2006 17:46:02
05.01.2006 20:33:01
*
... and Happy New Year à tous les lecteurs et écrivains del Pesce d'Oro
31.12.2005 09:36:44
29.12.2005 16:31:21
:
27.12.2005 13:00:48
26.12.2005 12:34:56
Nacht. Es hat geregnet und jetzt friert es. Als wäre das Pflaster von einem Hauch Glas bedeckt. Wieder sehe ich den Chinesen. Ich treffe ihn unregelmäßig. Es ist ein junger Chinese von hoher Statur. Er trägt einfache Baumwollkleidung, schlichte Schuhe. Da es Winter wird, hat er den Kragen seiner Herbstjacke hochgeschlagen. Ich zähle: … siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig… Er holt einen Spaten aus der Luft und fängt an zu schippen. …drei, vier fünf… . Dann wieder zwanzig Schritte. Schippen. Er trägt die Nacht ab. Hinter uns wird es heller. Ich folge ihm durch die Stadt. Er arbeitet, bis der Morgen grüßt, dann trennen sich unsere Wege.
26.12.2005 12:33:15
4.
Er drehte sich zu ihr und sagte: "Hör zu: An deiner Hand in der Nacht wie ein Glühwurm schimmerte meine Uhr. Ich hörte ihr Werk: Wie ein sprödes Geraun von deiner unsichtbaren Hand kam es her. Da wandte sich, meinen Schlaf und seinen Herzschlag aufzufangen, deine Hand an meine dunkle Brust."
Sie schwieg einen Moment. Dann: "Das ist schön. Was ist das?"
"Ein Gedicht. Pablo Neruda".
22.12.2005 09:12:38
Der See
Das Kratzen der Kufen, die Stimmen der anderen dünn von der Kälte. Teresas Hand lag locker in der seinen und sie zogen Kreise, folgten den Linien. Die Schwingungen des Eises übertrugen sich auf die Körper und so hatten sie das Gefühl, als hielte die Luft den Atem an um sie hindurch zu lassen, durch Bögen aus Licht und Wolken stechender Eiskristalle. Sie konnten nicht mehr aufhören, sich der Bewegung nicht mehr entziehen. Ihre Gesichter waren starr vom eisigen Wind, aus den leicht geöffneten Lippen zogen Atemdämpfe. Im Dahingleiten suchte er immer wieder ihren Blick, aber Teresa sah ihn nicht an. Sie war wie hypnotisiert vom Glanz der Fläche, sie lachte.
Später musste er sie wieder zum Bahnhof bringen, er hatte es der Mutter versprochen. Als der Zug anfuhr, trieb die Kälte Tränen in seine Augen. Und als er weinte, wandte der Zug den Kopf zurück wie ein Pferd.
cut out
21.12.2005 15:56:21
Eisfische
Eiszapfen glänzten in der Sonne. Der Park war menschenleer, als er an diesem Sonntagmorgen durch die Allee wanderte. Er nahm den Weg, der zum See führte. Stille und Kälte veränderten die Landschaft. Es war wie: außerhalb einer Zeit sein, ein Land betreten, dessen Tore sich ihm selten öffneten.
Als er das Ufer des Sees erreichte, betrat er das Eis am Rand, wagte sich ein paar Schritte vor, federte ein wenig. Die Eisdecke war fest genug, um ihn zu halten. Er rutschte auf die gläserne Fläche. So durchsichtig war das Eis, dass er Steine am Grund des Uferschlicks erkennen konnte, starre Wasserpflanzen, eingeschlossene Luftblasen. Er drehte sein Gesicht zur Sonne und schloss die Augen, rutschte ein wenig weiter. Unter seinen Füßen begann es leise zu knacken und zu knirschen, eine Warnung vielleicht.
Das Wasser unter ihm schien tiefer zu werden, er konnte keinen Grund mehr erkennen. Doch wenige Meter vor ihm plötzlich Flecken, Schatten im Wasser, Umrisse. Im Näherkommen sah er Fische, es waren im Eis eingeschlossene Fische, die mit offenen Augen schliefen. Er kniete nieder und betrachtete den kleinen Schwarm. Ihre Körper zeigten alle in dieselbe Richtung, manche von ihnen lagen ein wenig schief darin. Er fragte sich, ob sie bei Tauwetter wieder lebendig würden, ob sie sich mit schnellem Flossenschlag aus einem Rest des Blocks befreien und weiterschwimmen würden, wie um einen kurz unterbrochenen Spaziergang weiterzuführen.
Das Bild der Fische verfolgte ihn bis in den Traum. Er schwamm in dunklem Wasser, es wurde kälter. Er schwamm auf eine lichte Stelle zu, eine helle Kammer, dort war das Wasser warm, die Helligkeit wie eine Schale, die sich um ihn legte. Immer enger wurde. Ihn umschloss. Er konnte nicht mehr atmen, wollte um sich schlagen, war wie gelähmt. Erwachte schweißgebadet.
Einige Tage später ging er wieder dorthin. Schon von weitem konnte er sehen, dass auf dem Eis etwas geschehen war. Als er sich der Stelle näherte, nahm er durchdringenden Gestank wahr. Eisstücke lagen verteilt, abgerissene Äste. Er vermutete, dass es Kinder gewesen waren, die mit spitzigen Steinen und Stöcken das Eis bearbeitet hatten. Es war ihnen gelungen, zwei Fische aufzuhacken, die Rücken waren zerfetzt, gebrochene Gräten und Fischhaut lagen in den befleckten Eislöchern. Verwesungsgestank. Übelkeit stieg in ihm hoch.
gabriele mangiava mele, mangiava aria
con la maria, dopo nove mesi sono scesi
in tre, secondo me: qualcosa hanno presi.
*
funiculi funicola
07.12.2005 15:14:03
cartolina
non ti scordar di me, tutti i giorni
strisce, acqua, farina, attenzione
coltello: la famiglia christiana e
la parola di dio. tagliamento.
mai vissuto sotto terra. ormai
anche il bastone sparito, la
croce, il lenzuolo. e
la ragazza con le guance
rosse. una mia cugina.
sottoterra. l'ombra
delle montagne non
sparisce. solo le tre
cime di lavaredo e solo
di sera: rosse.
*
Nachtrag: soeben erhalte ich via Blitzpost den ersten Übersetzungsversuch
dieses Gedichts, mit Hilfe des Google-Übersetzungswortwolfs: der macht aus
"attenzione / coltello" ein (oder einen?) "Aufmerksamkeitsmesser". Genial. Merci B.!
06.12.2005 10:33:09
Memoria
V
vecchio vecchio, introvabile, come mai
ricordi spezzati armati cucire cucire
senza finire. pungimi. e poi: spiegami
bestiame o
gesù bambin o
cuore
riposa su lana bianca
stanca mi ritrovai nella sera
accanto... accanto...
bestiame o
senti, è inutile spiegarmi cucire cucire o
le tue mani o
taci
sapone sera vasca
da bagno, schiuma bianca
la pappa la picciotta la tosetta
dammi, non spezzare cucire cucire
o bestiame o
braccia o
perso