[...] Gestern erfuhr ich, dass der Dichter Jacques Prévert verstorben ist. Es mag heute morgen gar nicht hell werden, die Zeit fühlt sich so an, als müsste man nur irgendwo seitwärts einen Keil hineintreiben, um ein anderes Jahrhundert hervorzuholen.
Ich verdanke Prévert die Entdeckung der Materie. Nicht nur das verdanke ich ihm, aber vielleicht ist dies eine fundamentale Entdeckung innerhalb meiner Welt der Gegenstände, denn ich habe die fassbaren Dingen noch nie besonders begriffen.
Prévert hat mir in einem Augenblick gezeigt, dass die Dinge, die uns umgeben, auf einen Ursprung zurückgehen, dass sie nicht tote Gegenstände sind, statisch um uns herum angeordnet, nur dazu da, damit man sich an ihnen stößt und vor allem als Grenze. Ich beobachte seither mit anderen Augen, immer wieder. Ich kann durch jedes Fenster das Meer sehen. Wenn Glas Sand ist, dann werden Fensterscheiben zu luftigen Gebilden, in denen der Wind für einen Augenblick seine Fracht abgeladen hat und die Sonne einen Moment lang Millionen von Sandkörnern in einen Rahmen schmilzt. So verändert sich auch das Wort "Fenster" in einer Weise, die mir die Welt davor und dahinter wie mit einem Schlüssel aufsperrt.
Et les vitres redeviennent sable
l'encre redevient eau
les pupitres redeviennent arbres
la craie redevient falaise
la porte-plume redevient oiseau.
[...]
Marta Vent, aus Lettere mai spedite (Manuskript 1980)
26.07.2005 11:01:57
Marta Vent (Roma 1976)
22.07.2005 21:41:31
Lo ritengo necessario
L.P.
Ich halte es für notwendig, mich ganz auf die Gegenwart zurückzuziehen.
Marta Vent im Gespräch mit Lucio Piccolo. In: Discorsi d'ombra, 6/1969
18.07.2005 14:45:42
Ich erinnere mich an den Kreis aus Steinen und wie wir hintereinander auf den Steinen gingen, einen Stein nach dem anderen betretend, ohne in das Gras zu stürzen, sicher, traumwandlerisch. Ich erinnere mich an den Park mit der Wetterstation, daran, wie wir vor der Tafel mit den Öffnungszeiten standen und kein Papier und keinen Stift dabei hatten. Ich erinnere mich an den Winter, als ich mir schreiend Schnee in die Kleidung schaufelte, unter den Mantel, unter den Pullover, in den Nacken, in die Ritzen zwischen Schnürsenkel und Zunge. Ich erinnere mich an den Abend, als ich zu dir kam und dein Zimmer umgeräumt war: die zwei Tische zueinander gestellt und ein erster Frühlingszweig, der in dein Gesicht ragte, wenn ich über die Grenze zu dir sah. Ich erinnere mich an die Schlangensprache, an die Schlange von Luigi Malerba und wie wir bis zum Morgengrauen im Fiat an einem römischen Brunnen standen, weil Luigi Malerba daran schuld war, dass wir miteinander tanzten. Ich erinnere mich an die Briefmarken mit Bildern von Königen und seltenen Vögeln, die gerahmt an der Wand über deinem Bett hingen. Ich erinnere mich an die versunkenen Inseln, an den goldenen Baum und an den Monitor im Himmel. Ich erinnere mich an die Zungen der blauen Hyazinthe. Ich erinnere mich daran, wie wir im Café saßen und verstohlen zu Emilia Galotti hinübersahen. Ich erinnere mich an den Sand und den kalten Wind und die Sonne und dass ich nicht mehr wusste, was mich mehr blind machte, der gleißende Sand, der eisige Wind von vorne, die Sonne, die mich stach oder das Gefühl, dich im Rücken zu wissen. Ich erinnere mich an die Fischfabrik, an die Transportbänder und an die Arbeiter, während wir durch die immer leerer werdenden Hallen gingen und schwiegen. Ich erinnere mich daran, wie ich so schnell lief, dass meine Füße den Boden kaum berührten und wie der Hund mich in dem Augenblick von hinten ansprang, als ich in der Luft war, wir beide also flogen aber nur ich daraufhin stürzte. Ich erinnere mich an die Rückreise durch den unterseeischen Tunnel und wie wir Richtung Süden ein Feuer mit öligem Papier entfachten, auf einem Autobahnrastplatz, weil auf der Fahrt durch den Abend überall, links und rechts, die Osterfeuer entzündet wurden. Ich erinnere mich an den Drachen, an die Fahrt Paris-Marseille und an die Wirklichkeiten. Ich erinnere mich an das Nordmeer im April und an den Ort, dessen Name "Weißer Sand" bedeutet. Ich erinnere mich an die Musik, an die fleischfressenden Pflanzen und die Kürbisse auf den Fensterbrettern, an die helle Decke, an die Bilder, die Wasser zeigten, Wasser und Sand, an den Holztisch, an das steinerne Treppenhaus, an den Kugelschreiberfleck auf grünem Stoff, an das Zirkuszelt, das den ganzen Platz überspannte, an die Milch, an die Stille im Sonnenschein am Fenster, an die Azteken, an den Berg gebrochenen Glases hinter mir im Aufgang, an das kleine Bett, an den kleinen Teller, an das kleine Glas, an das Märchen, an die zerstochenen Finger, an das Messer, an die vielen Messer, an die Schwerter, an die Beile, an die Enthauptungen, an das Leben, und daran, dass es dieses nur einmal gab.
02.05.2005 09:45:50
Ich erinnere mich daran, dass ich als kleines Kind zuweilen Erde aß, während meiner ersten Schuljahre Stücke von den Löschpapierbögen meiner Hefte oder einzelne Schichten von Tempotaschentüchern und wie ich als Erwachsene in einem homöopathischen Fragebogen genau diese Frage entdeckte: "Haben Sie als Kind öfter Erde, Sand oder andere, nicht zum Verzehr geeignete Materialien gegessen?" und daraufhin erleichtert war. (für Dr. M.)
Ich erinnere mich an den Wald, der schnell näher kam und mir die Farbe Dunkelgrün in die Netzhaut schoss, als ich in einem Segelflieger saß, der absackte. (für Sabine)
Ich erinnere mich an die Schreie aus dem ersten Stock, nachdem Ilonas Vater uns im Keller entdeckt hatte, wie wir Erdbeeren aus dem Rumtopf fischten. (für Ilona)
Ich erinnere mich an W.s geheimes Lager im Schuppen, als wir in Hängematten schaukelten, die aus alten Futtersäcken gemacht waren und an Stricken unter dem Gebälk hingen; daran, wie W. mir den abgebrochenen Mercedesstern vom Auto des Supermarkt-Filialleiters schenkte und ich ihn an einem Lederband als Gürtel um die Hüfte trug. (für Ken)
Ich erinnere mich an die Sommerwochen in Carnalez, als ich mit meiner Cousine Raffaella am frühen Abend durch den Ort schlenderte und sie mir auf dem Nachhauseweg androhte, mir Nachts, im Schlaf, meine Zöpfe abzuschneiden, wenn ich je meinem Onkel verraten würde, dass wir uns hinter der Kapelle mit Jungs trafen. (für Emi)
Ich erinnere mich an das rosa Schwein mit den schwarzen Flecken, das aus dem Stall des Nachbarhofs ausgebrochen war und nun im Hof unserer Nachbarin im Abfall wühlte, während ich und meine Schwester, im Spiel aufgeschreckt, zu fliehen versuchten, das Schwein uns verfolgte und meine Schwester auf eine Leiter kletterte, die am Apfelbaum lehnte, während ich in die andere Richtung rannte und das Schwein sich dafür entschied, mich weiter zu verfolgen. (nicht für Sabine)
Ich erinnere mich daran, dass ich an einer Haustür stand und Sturm klingelte, während hinter mir ein laut schnaufendes Schwein immer näher kam; daran, wie im allerletzten Moment der Türsummer ertönte und ich dem Schwein von innen die Tür auf die Schnauze schlug. (für alle Gejagten)
Ich erinnere mich an die Schweine, die auf einer Wiese neben dem Haus, in dem wir damals wohnten, gehalten wurden; daran, wie meine Mutter die Essensreste aus dem Küchenfenster in diesen Garten warf und einmal das Schälmesser versehentlich mitflog und wie wir später zwar den hölzernen Knauf fanden, aber nicht mehr die metallene Schneide. (für artgerechte Haltung)
29.04.2005 09:44:45
Ich erinnere mich ...
an den Nacken meines Großvaters, als er beim Barbier saß. Daran, wie die silberne Schere des Friseurs silbrige Locken schnitt, wie einzelne Haare durch den Schnitt hochschnellten und einen weiten Bogen beschrieben, bevor sie zu Boden fielen.
23.04.2005 00:43:40
Ich erinnere mich ...
an jenen Gottesdienst in der Pfarrkirche St. Laurentius, den wir von der vierten Klasse der Eschenbacher Volksschule zusammen mit unserem Religionslehrer besuchten, dem Pfarrer der Kirche, dessen Namen ich nicht mehr erinnere, weil ihn alle nur den "Kindlein" nannten, nach Ludwig Thoma, weil auch er seine Predigten immer mit Ihr Kindlein begann, ein greiser Pfarrer mit Dauerlächeln auf den Lippen, auch wenn er schlechte Noten oder Verweise verteilte. Daran, dass Jungs und Mädchen niemals in einer gemeinsamen Reihe anstanden, um die heilige Kommunion zu empfangen, eine weiße, nach Löschpapier schmeckende Oblate, die meist am Gaumen festklebte. Dass links im Chorgestühl immer die Mädchen saßen und rechts die Jungs und dass wir erst einzeln heraustreten mussten und dann gemessenen Schrittes nach vorne zu gehen hatten, die Mädchen zur Nonne, die dem Gottesdienst beiwohnte und die Jungs zum Kindlein. Dass ich diesmal die Erste war, die die Reihe der Mädchen anführen sollte und dass ich wieder einmal an etwas völlig anderes dachte, weil mir so langweilig war und ich mich plötzlich vor dem Kindlein stehend wiederfand, in einer Reihe mit den Jungs, während mir kein einziges Mädchen gefolgt war und der Kindlein die Hostie in der erhobenen Hand hielt und einfach nicht herabführen mochte zu meinem Mund und wie die Nonne auf der anderen Seite des Altars sich räusperte und räusperte und alles in einer Art Erwartung von Heiligkeit oder heiligem Geist verharrte und ich in einer Zeitspange gefangen war, die sich erst löste, als in den Reihen die Mädchen und Jungs zu kichern begannen und ich mit sehr plötzlich heißem Gesicht den langen Weg um den Altar herum gehen musste, um mich als Letzte in die Reihe der Mädchen zu stellen.
20.04.2005 13:57:51
Im Traum
Ging ich auf einen Berg zu
Der war bedeckt mit Schubladen
Man konnte sie herausziehen
Als Stufen benutzen
Hineinsehen
Der ganze Berg bedeckt davon
Die Schubladen waren eine Hilfe
Man musste sie nur öffnen
Ich war schon sehr hoch gestiegen
Fast hatte ich den Gipfel erreicht
Wollte weiter steigen
Ohne Schubladen zu öffnen
Rutschte aus
Fiel
Den Hang hinab
Riss geöffnete Schubladen mit
Der Berg klapperte
Zitterte
Ich fiel und hinter mir
Stürzte alles zusammen
Vision einer Vision Arcimboldos
18.04.2005 15:51:36
Für das X
07.04.2005 19:08:28
Im Traum sah ich eine seltsame Stadt. Ich trug sie
auf meinen Schultern. Man konnte dort nicht leben.
Sie war gebaut aus Eisen und Luft, schlechter Luft
wie aus Kanälen. Gerümpel, Sperriges und ich
der Fluss, den diese Stadt staute. Sie ragte tief
in mich hinein, so tief, dass ihre Keller mein Herz
ummauerten. Weiter geschah nichts.
Accidently veered recently vested - valued
valves: arching vertebrae ache, vitamined
veracose veins, which victory violates vantage
view; time: violence a varied vegetable
virility regulates volunteer army vehicles
Venezuela votes left (vastness, village,
vorticist, ventriliquism); and there was
violin and vodka;
small things vesectomy all vulturisms.
vanity is verse’s inability to verge.
Constraint in writing (or: "I remember smoking because Camus had smoked")
25.03.2005 12:09:11
Miss Macbeth
Im dämmrigen Staffageraum werfe ich
die Nebelmaschine an. Bunte Glühbirnen
leuchten am Gebälk, der Projektor summt.
Diashow: how to use guns in your dreams, mein
Hauptbeschäftigungsgrund, nebst der Anweisung
zum Basteln eines Schmetterlingsflügels. Der Korb
mit Schminkzeug und Pinsel: wieviel Gerümpel und
die Bedienungsanleitung fehlt, das Wichtigste, klar.
Wenn dort ein Haus stünde, gäbe es Lichter hinter
den Fenstern. Der Nebel so flüssig, dass die Bäume
wie in Wasser stehen. Ein See, eine Fläche. Gute
Technik. Bühnenreif. Man macht sich eine Vorstellung.
Es soll heißen: "Wie der Blitz in einen Baumstamm schlug".
Dann wird alles wieder still. Noch ein Krachen, wenn der Strom
ausfällt. Zwei Hälften bleiben vom Stück. Eine Stimme spricht.
23.02.2005 16:05:21
Dragi Aleš,
dobrodošli do zlato riba, bevor ich mich jetzt noch mehr blamiere mit meinen Slowenischbrocken und der Herr Hartinger sich eins ins Fäustchen lacht, lieber nochmal auf Deutsch und richtig:
Herzlich willkommen im Goldenen Fisch und liebe Grüße!
"You won't get far by yourself.
It's dark out there.
There's a long way to go.
The dog knows."
Robert Creeley / Elsa Dorfman: En famille. Granary Books 1999
thx
13.02.2005 15:10:17
Erdrückende Lage
Gemessen an meinen Steinen war der Ausblick
eine Wucht. Grimmig, um-die-Wette-Knirschen,
man lief Gefahr, einen sanften Erstickungstod
zu wünschen: "Heute Morgen war sie noch da",
oder etwas Ähnliches. Winken im Traum - dachte
daran und sah Fieberblasen aufsteigen. Jetzt ist
nichts wieder gut. Alberner Bienenhonig, taubes
Gefühl im Arm, abgeschnittenes Haar, wunderbar.
Wie oft hörte ich das Rezeptpapier rascheln und
wie oft nicht. Die Vorstellung, eine fremde Person
beträte mein Zimmer und wüsste meinen Namen.
"Ich kenne diese Frau Zanier nicht" und plötzlich
wäre auch noch Polizei da und präsentierte mir
Knall auf Fall ein Beweisfoto. Nichts könnte
ich dagegen vorbringen, die verräterischen Haare
mit der Schuhspitze unter das Sofa drückend.
Noch mehr Beweise: "Beschreibung des Todes",
Fundstück aus dem Stapel Lektüre. Zitat Seite
Vierzehn: "Bist du boshaft? - Wir wechselten Blicke."
Vergeblich mein Bericht vom Drachenfisch, dass er
seine Jungen allein großgezogen hätte. Man glaubte
mir nicht. Es passte auch nicht zum Thema. Noch
weniger der Film, dessen Titel mir nicht mehr einfiel,
nur der Satz aus einem Artikel über die Machart des
Stücks: "Die spröde, verschachtelte Erzählweise
erschwert den Zugang". Beweis Nummer drei.
Das Weiß in Fetzen gefunden, so zerrissen, wie
die Arbeit von Monaten bisweilen vergeblich scheint.
Und die Plakate an den Wänden: ich vermisse, ich
vermisse... Mein Gedächtnis ist eine Dunkelkammer,
die nur bei blutrotem Licht Einblick gewährt.