ein bild

Wasserlunge


An dunklen frühen Morgen wie diesem
jagt mich ein Schnarren aus dem Schlaf.
Auch das Rieseln von all dem Wasser,
hinfließend über das Fenster, ist da,
so flüssig wie das Licht damals war.
Dann höre ich das tiefe Keuchen, tief
aus dem Tier, meinen sterbenden Hund
im Nebenzimmer an dem frühen Morgen.
Und ich setze mich im Bett auf, lausche
dem Nein der Wasserlunge, ihrem Ja
vielleicht mit letzter Luft, die schlief,
Schnarren, Rieseln in der Brust. Die
Augen sehe ich, einwärtsrollend, klar,
Krähen oder Stare wieder in der Luft,
und meine Hände, wie sie schreiben
in das schwarze Fell, Gefieder eines
Dobermannes, dem Verbrennen nah.

*


30.01.2009 11:01:36 

Gettysburg


Ein Knie, ein Arm, im Gras ein halbes Ohr,
wo die Zerfetzten lagen, die schon Toten,
aufgebläht, zerpflückt von Krähen Pferde,
wo Blut in Lachen stand, in denen morsch,
kaputt, ein Sterbender ertrank, wächst jetzt
bei leichtem Wind in dicken Büscheln Gras.
Und in der Luft sind Hummeln und Libellen.
Berberitzen, es gibt Büsche, Flieder, Hasel,
tief unterm Gras erinnert sich die Wurzel,
dass es sie gab, an ihren Duft im Sommer,
wo über Baltimore ein Abfangjäger jetzt,
der weder steigt noch fällt noch dreht, nur
steht. Die Zeit fing Feuer, und brennt noch.
Vom Highway 15 her rauscht Fernverkehr.
Siebenhundert Grad heiß war die Juliluft.

*


22.01.2009 14:39:31 

Plädoyer für einen Hund


5 (Fortsetzung und Schluss)

Abgemagert, schlotternd, halb blind und so weit entkräftet, dass mehr als zwei Flaschen zu tragen mir nicht mehr gelang, taumelte ich mehrmals täglich zu einem nahegelegenen Kiosk und kaufte Wasser. Dabei begegnete mir immer wieder ein Alter, der mit seinem Hund unterwegs war im Viertel, um sich für die Nacht einen Schlafplatz in einem Hauseingang zu suchen. Ich traf ihn morgens, wenn er noch in den Schlafsack eingemummelt lag, neben sich den Hund, von dem unter einer Decke nur die Schnauze hervorsah. Und ich traf ihn abends, wenn er schon daranging, sich einzurichten, indem er auf seinen Habseligkeiten hockend sich die Nägel schnitt oder an das Tier eine Knackwurst verfütterte. Soweit ich sah, war der Hund ein junger Neufundländer. Er bewachte den alten Mann auf Schritt und Tritt und schien geduldig zu warten auf den Beginn des Tages, den Beginn der Nacht.
„Rocker“ nannte ihn der Alte, und ich glaube mich zu erinnern, dass mir Tränen in die Augen stiegen, als ich ihn zum ersten Mal den Namen rufen hörte. Für mich klang darin der Ort mit, von dem ich kam, jenes Cabo da Roca, das Felsenkap, wo ich glücklich gewesen war, so kräftig und frei, dass es mir vorkam, als sei es in einem anderen Leben gewesen. Dieser zufällige Gleichklang war der Grund, weshalb ich eines Abends meinen Mut zusammennahm und den Alten fragte, ob ich seinem Hund etwas zu fressen kaufen könne. Bei einem Schlachter besorgte ich einen Rinderknochen und ging damit zurück zu den beiden, und während der Hund dann den Knochen abnagte, kam ich mit dem alten Mann ins Gespräch. Er erzählte mir von seinen Wanderungen, Schlafplätzen und seinen Kollegen, wie er die anderen Obdachlosen im Viertel nannte. Seit er krank sei, sagte er, sei das Leben doppelt schwer für ihn. Wie zum Beweis holte er aus seiner Jackentasche dasjenige, was ich für eine Nagelschere gehalten hatte, und stach sich damit in eine Fingerkuppe. Den hervorquellenden Blutstropfen träufelte er in ein kleines Gerät, das er in der Faust hielt und das ihm, wie er erklärte, den Blutzuckerspiegel messe, seit er vor einigen Jahren nach einem unerklärlichen Gewichtsverlust, einer ungeheuren Sucht nach jeder Form von Wasser und einer praktisch über Nacht aufgetretenen rapiden Verschlechterung seiner Augen, seiner Haut und einem Haarausfall, der ihn zum Fürchten habe aussehen lassen, erkrankt sei an der Zuckerkrankheit.
Wenig später, als es mir dank erster Insulinspritzen rasch besser ging, verlor ich den alten Mann, mit dem ich noch desöfteren gesprochen und Erfahrungen ausgetauscht habe, aus den Augen, denn beide waren wir wohl, wenn auch auf unterschiedliche Weise, Nomaden und bei aller Zerworfenheit darauf aus, unterwegs zu bleiben. Meine Scheidung trieb mich bald fort aus dem Viertel, und so habe ich ihn nie wiedergesehen.
„Rocker“ aber, sein Hund, begegnet mir regelmäßig und nicht nur dann, wenn ich meinen Großonkel besuche und über seinem Schreibtisch die Zeichnung von dem werwolfgleichen Köter betrachte. So las ich kürzlich ein Buch Pierre Bayards, in dem er Doyles „Hund der Baskervilles“ vom Vorwurf des Mordes freispricht. Fragen müsse man sich, so Bayard, „ob dieser so ungeschickt vorgehende offizielle Mörder, der von Anfang an als der Schuldige gehandelt wird, nicht ein Verbrechen aufgebürdet bekommen hat, das ein paar Schuhnummern zu groß für ihn ist“. Ohne sein Wissen decke er vielleicht einen der teuflischsten Mörder.
Wer aber kann dieser Mörder anderes sein als der Tod selbst. In ihrem „Gedicht vom Tod“ schreibt Inger Christensen vom Dunkel, der Ahnung und der Angst, aber auch von einem Traum und lebendigen Begleiter:

Heut nacht hab ich geträumt
ich sei tot und käme mit meinem
Hund zusammen ins
Totenreich gelaufen

***

19.01.2009 19:52:05 

Plädoyer für einen Hund


5 (Fortsetzung)

Dass ich am Leben blieb, verdanke ich zwölf Hunden: in Lissabon keinem, dafür einem in Bukarest, zehn in Toronto und einem in meiner Heimatstadt Hamburg. Dem rumänischen Physiologen Nicolae Paulescu gelang 1916 im Tierversuch an einem Hund herauszufinden, was sechs Jahre später der kanadische Arzt Frederick Banting und sein Assistent, der Medizinstudent Charles Best, mit Hilfe von Experimenten an zehn qualvoll verendenden Hunden wiederholten, nämlich dass winzige Zellorgane in der Bauchspeicheldrüse für die Registrierung des Blutzuckerspiegels und die Herstellung eines lebenswichtigen Hormons verantwortlich sind. Unabhängig voneinander gelang den drei Forschern die Isolierung des Hormons und damit die Verfertigung und Nutzbarmachung eines Schlüssels, der die Tür zur Behandlung des Diabetes mellitus öffnete. Paulescu, der sich später in Verruf brachte mit pseudowissenschaftlichen Artikeln unter anderem zur Verbindung von Judentum und Alkoholismus, nannte den von ihm entdeckten Botenstoff Pankrein, Banting und Best dagegen tauften ihn Isletin. Durchgesetzt als Bezeichnung für das Hormon hat sich Insulin, und erstmals erfolgreich injiziert wurde es einem Hund, dem man zuvor die Bauchspeicheldrüse entfernt hatte, im Sommer 1922. Mit dem Extrakt aus Bauchspeicheldrüsen von fünf seiner bereits toten Artgenossen überlebte dieser gleichfalls namenlose Hund fünf Tage lang.
77 Jahre später hatte ich nach fünf Tagen zehn Kilo meines Körpergewichts verloren. Zurücktransportiert aus Sesimbra an den Tejo, dann weiter an die Elbe, fehlte mir noch immer jede Vorstellung, worunter ich litt. Meinem Hausarzt ebenso. Er verordnete Ruhe, Zwieback, Hühnerbrühe, und als meine Haut grau wurde und die Augen zurücktraten in ihre Höhlen, mahnte er Bewegung an, Sonne, kräftigendes Essen. Unterdessen fielen mir die Haare aus, meine Haut wurde schuppig, die Nägel rissig. Tags zerfraß mich innere Unruhe, und über Nacht ließ meine Sehschärfe nach und verschwamm die Welt in einem frühmorgendlichen Zwielicht, das sich aufzuhellen nicht länger bereit war. Es war mir gleichgültig, solange ich trank. Ich träumte, ich schwimme in einem See aus Mineralwasser, und ich durchforstete die Zeitung nach Annoncen von Wasserlieferdiensten, auch wenn Telefonnummern sich nicht mehr entziffern ließen.

(Fortsetzung folgt)

*


12.01.2009 15:00:09 

Plädoyer für einen Hund


5

„Der junge Fordt“ erschien im Herbst 1999. Kurz zuvor verübte der Tod sein viertes Attentat auf mich, und diesmal hatte er zumindest teilweise Erfolg. Ich fühlte mich, als sei ich gestorben, und trudelte betäubt durch endloses Dämmern. Das Verlöschen ist ein Zauber, und so war es eines der schönsten Erlebnisse meines Lebens auch deshalb, weil ich weder wusste, wie mir geschah noch was mir fehlte. Ich aß nichts. Lieber trank ich Unmengen an Wasser aus Hähnen und Flaschen. Ich trank mich aus der Welt, vergaß trinkend, wer ich war, und schlief, unterhalten von süßesten Träumen, ununterbrochen drei Tage lang. Dass noch 77 Jahre zuvor nichts mehr mich gerettet hätte, wusste ich nicht, doch fühlte scharf und träumte deutlich, dass der Tod nun nicht mehr neben mir lag, sondern dass er in mich hineingekrochen war und ich ihn in mir hatte.
Das Bett, in dem ich träumend mit dem Tod rang, stand im früheren Mädchenzimmer meiner damaligen Frau. Vor den Fenstern ihres Elternhauses lag Westfalen, das Bergische Land, und der Sommerwind, der durch die Jalousien strich, sorgte im Garten, an dem Hang, unterhalb dessen die Stadt lag, für leises Rauschen in Apfel- und Quittenbäumen. In dem verdunkelten Zimmer mit der Gitarre auf dem Schrank, mit den Kindheitsfotos der zwei Töchter und den Drucken von Miró-Gemälden an den Wänden sann ich Tagen nach, die soeben verstrichen sein mussten, Bildern von Lissabon, Belém, Sintra und Sesimbra, und in einer Art versilberten Verzweiflung lag ich da und stand doch wieder am Ufer des Tejo, blickte auf das Wasser und verspürte nichts als den Wunsch, den Fluss leerzutrinken bis auf den Grund.
Nie hatte ich einen breiteren Strom gesehen als den Rio Tejo bei Lissabon. Meine Frau schlief noch, als ich am Fenster unserer Pension im Schatten der eingerüsteten Sé-Kathedrale stand und mir ansah, wie weit draußen, präsentiert auf einem funkelnden Silbertablett, ein Lastschiff entladen wurde. Ein Schwarm Barkassen näherte sich langsam, schwärmte aus, und aus dem Stern kleiner, bauchiger Boote schnellte immer nur eines dem großen Pott entgegen, machte an seinem Rumpf fest und wurde dann beladen mit dem Kies oder schwarzen Sand, den der Frachter stromaufwärts befördert hatte.
Ich suchte mit Blicken den herrlichen Fluss ab. Die rote Hängebrücke führte südwärts in den Alentejo, das portugiesische „Jenseits des Tejo“, ein turmhoher Jesus breitete die steinernen Arme über den Fluss und die Kurs offenes Meer nehmenden Schiffe.
Wir mieteten uns einen Wagen und fuhren am Tejo entlang, bis der Fluss so breit wurde, dass er im Meer aufging. Ich fühlte mich kräftig, frei und gesund, als ich mich an dem felsigen Strand unter dem Schloss von Sintra in die Brecher stellte, die über den Atlantik hereinrollten. Eine Welle, doppelt so mächtig wie die anderen, spülte bis zu unseren Sachen herauf, Handtasche, Taschenbuch, Schuhe schwappten davon und trieben dann in der Brandung unterhalb des Cabo da Roca.
Ach, Tejo! Die heißen Sommernachmittage in Belém und Estoril, und der warme Abend im schwarzen Sand, im Schatten der Fischerboote von Cascais. Ich hätte, vielleicht, nicht über den Fluss fahren sollen. Dort, am anderen Ufer, holte er mich ein. Das Glück, es war zunächst doch immer nur ein glückliches Gefühl; kräftig, frei und gesund zu sein; im Silber des Atlantiks zu baden; abends in einer Spelunke, wo präparierte Katzenhaie im Fenster hingen, Schnaps aus wilden Erdbeeren zu trinken.
Bitter, und doch war es das Wasser, das mir den honigsüßen Tod brachte – eine vielleicht in 80, in 100 Jahren nie erneuerte, nie beherzt gereinigte Leitung in einer kleinen Pension in dem kleinen Ort Sesimbra. Da saß das Tejo-Bakterium und wurde, als ich es trank, binnen Sekunden von meiner Körperpolizei als feindlich erkannt und ausgelöscht. Bloß etwas übereifrig gingen meine Weißen Blutkörperchen dabei vor, denn sie, die Leukozyten, zerstörten irritiert marodierend die Langerhans-Inseln meiner Bauchspeicheldrüse gleich mit. Und so wäre ich gestorben in Sesimbra. Und ich sang meinen Fado:

Schwarz, ach so schwarz,
schwarz war der Sommer,
ach schwarzer, schwarzer
sommerdunkler Sommer.

(Fortsetzung folgt)

*


09.01.2009 14:31:11 

Geschichte. Zum Tod von Inger Christensen


Schwer, jedes – auch und gerade das eigene – ästhetische, politische, philosophische oder anders geartete Programm zu vermeiden. Doch jeder neue Text, besser jede neue Zeile soll so lange als möglich im unsicheren Neuland bleiben. Und schon dieses Diktum kommt mir zu seicht, zu nahe an ein poetologisches Programm heran.
Immer wieder wurde versucht, Claude Simon als kriegskritischen, engagierten Autor zu fesseln, indem man auf seine detaillierten, minutiösen Schilderungen der Schlachten in Belgien wie des Bürgerkrieges in Spanien verwies, die ja auch wirklich monströs sind gerade durch ihre Langsamkeit. Doch findet sich nirgends eine auf ein Ganzes, theoretisch, gar programmatisch Fassbares abzielende Anklage. In beinahe jedem seiner Bücher taucht das Soldatenpferd auf, halb in den Boden gesunken, mitten in der Bewegung erstarrt und verendet. Über die fünfzig Jahre seines Werkes hinweg – das Pferd, Pferd, Pferd. Beim Durchschauen von Materialien von dem Soldatenlager, in dem Simon in Sachsen inhaftiert war, fiel ihm die Darstellung eines Swimmingpools auf, den es in Wirklichkeit gar nicht gegeben hat. Es sind einzelne, winzige Punkte, Nuancen, kleinste Verschiebungen, Facetten. Mir scheint, Simon geht es darum, GESCHICHTE zum Stillstand zu bringen, um sie wiedererkennbar werden zu lassen als Zeit.
Geschichte: Am Boden liegt der tote Bobby Kennedy, seine Frau, seine Witwe drängt zu ihm und wird zurückgehalten, -gerissen von einem Reporter, der Fotos schießt und die stumme, die kreischende Frau anbrüllt, ohne sie anzusehen: "This is HISTORY!"
Inger Christensen schreibt in "Die klassenlose Gesellschaft" sinngemäß, als Schriftstellerin betrachte sie sich weder als Vermittler noch als Meinungsproduzent, ja nicht einmal als Einwirkender auf das Bewusstsein. Werde sie gegen ihre Absicht in dieser oder jener Funktion gebraucht oder missbraucht, sei das, kurz gesagt (der Aufsatz ist eloquent poetisch und im Zeilenbruch geschrieben): okay.
Inger Christensen: "Ich will auf die Blindheit einwirken. / Die Menschen schaffen die Geschichte in einer verworrenen Mischung aus Bewusstsein und Blindheit." Mehr als auf den im Prinzip bekannten Faktor lohne es sich auf den unbekannten einzuwirken. "Ich betrachte es als die Aufgabe eines Schriftstellers, einen Code zu konstruieren, der den Würfelfall lesbar macht."
Ähnliches haben Novalis und Keats mit ihren Entwürfen zu einer "willkührlichen Magie" bzw. "negative capability", zu einem "Sichnichtfestzulegenfähigsein" gemeint, "eine Wahrheit zu erfinden, die den Zufall notwendig macht, und sich ein Zeichensystem vorzustellen, das die Blindheit übermittelt", wie Christensen schreibt. Dich verlassen die Geister, wenn sie in Gesellschaft kommen; wenn die noch-nicht-existierende Sprache einer noch-nicht-existierenden Gesellschaft zu gebrauchen Aufgabe zu sein habe.
Versuchen, etwas von der Bewusstmachung des Glücks zu formulieren, Zufall und Aufundab des Lebens auf die Spur zu kommen. Wie wichtig die Unterscheidung ist, wird deutlich, wenn man sich fragt, ob im Fall offen oder verdeckt kultur- und damit menschenfeindlicher Äußerungen der bewusste oder der blinde Faktor zu beleuchten anstehe. Das Buch liegt offen da – Trakls Satz steht darin: Alle Menschen sind der Liebe wert.

Gepostet im "Forum der 13", Februar 2000; erschienen in "Zwischen den Zeilen" 19/2002

*


06.01.2009 17:46:16 

Plädoyer für einen Hund


4 (For(d)tsetzung)

Auf dem Busbahnhof wäre er zufällig gestorben. Auf der nächtlichen Landstraße starb zufällig ein Anderer. Beide Male hatte er die Empfindung von plötzlichem Zugriff: vom überfallartigen Piranha-Verhalten des Todes. In der Luke dagegen herrschte die Langsamkeit. Was war der Zufall? Zwei aufeinander folgende oder benachbarte Punkte im Raum-Zeit-Gefüge überlagerten sich schlagartig: rapide Verschiebung der Lebenstektonik. Der junge Fordt in der Luke, ein Hund in der Schlinge: lange Zeit in Todesangst – das hatte folglich mit Zufall wenig zu tun. Oder? In der zweiten Spielart verlangte der Tod einen Gegner, der aushielt oder erschlaffte: Agonie. Aber hielt man das Python-Verhalten des Todes denn aus? Mit dem Tod nur zu ringen, hieß doch schon sterben; es sei denn, dich rettete …: der Schlüsselnotdienst; ein Arzt. Schwer zu entscheiden, ob seine Mutter an diesem Tag zufällig früher nach Haus kam. Sie habe so ein ungutes Gefühl gehabt, sagte sie.“

Heute gibt es den Busbahnhof nicht mehr, wo vor 30 Jahren in Gestalt eines durch die Menge eilenden Mannes der Tod auf mich wartete, um mich auf die Fahrbahn zu stoßen. Der Kiosk und der Imbiss, das Wartehäuschen, die Bussteige und die Fußgängerbrücke aus Regenfleckenbeton, die das trist graue Areal mit dem Einkaufszentrum verband, sind abgerissen und eingeebnet worden, um einer neuen Shoppingmall und einem Elektroniksupermarkt Platz zu machen. Das Haus, das mich zu erdrosseln versuchte, existiert zwar noch, doch leben dort inzwischen andere Leute, die es umgebaut und die Luke, in der ich mich erhängen sollte, zugemauert haben. Und auch die Landstraße, auf der ich, wider Erwarten volljährig geworden, dem Motorradfahrer folgte, bis er an meiner Statt wie mitten in den Tod hinein fuhr, ja den Tod quasi über den Haufen fuhr, kann niemanden mehr umbringen, seit zu beiden Seiten der heute verkehrsberuhigten Straße Einfamilienhäuser gebaut wurden. Für das kleine Holzkreuz, das noch ein paar Jahre lang an den toten Suzukifahrer erinnerte, fand sich in einem der neuangelegten Vorgärten keine Verwendung mehr. So will es mir immer wieder scheinen, dass ich durch mein Leben eile wie durch einen Tunnel, der hinter mir einstürzt und alle Zeichen verschüttet. Das ist das Absurde: An Orte des Schocks zieht es mich mit aller Kraft. Was zöge einen zu glücklichen Flecken? Nichts, solange das Glück nicht ruiniert ist. Erst dann will ich den See wiedersehen mit den Bäumen, die so nah am Ufer standen, dass von ihnen ins Wasser zu springen leicht war, und will den Schauder spüren beim Anblick der lange gefällten oder verrotteten Bäume, vor denen ich stehe, zu schwer, zu feige, um noch durch ihr Geäst bis über das grüne Wasser zu klettern. Nie habe ich mich verbunden gefühlt mit dem Ort, an dem ich zur Welt kam, doch seit ich vor ein paar Jahren bei einem Besuch am Tegernsee zufällig sah, wie das städtische Krankenhaus, in dem ich geboren wurde, verlassen, mit blinden Fenstern, im Nieselregen stand und verfiel, bin ich immer wieder an den See gefahren, bin am Ufer entlang und an der alten Klosterbrauerei vorbei hinaufgestiegen bis zu dem Bretterzaun, hinter dem heute bloß eine Baugrube voller Schlamm, Ziegelbrocken und schönen Silberdisteln liegt. Bewacht wird sie von einem großen schwarzen Hund. Müde trottet er auf und ab zwischen dem Zaun und einer Hütte, auf der nicht sein Name steht, sondern der Satz „Hier wache ich“. Ich aber kenne ihn, denn er ist kein anderer als der Hund auf der Zeichnung im Schreibzimmer meines Großonkels.

(Fortsetzung folgt)

*


05.01.2009 18:20:09 

Plädoyer für einen Hund


4 (For(d)tsetzung)

Als er eine zweite Spielart des möglichen Todes erlebte, war er noch weit davon entfernt, selbst einen Wagen zu lenken. Sein Vater fuhr noch zur See. Seine Mutter war Fußpflegerin und er ihr Schlüsselkind mit den immer wieder sonntags pedikürten Füßen. Der Bus brachte ihn nicht um, sondern heim, er zog den Ranzen hinter sich her bis zur Durchfahrt mit dem Gerümpel der Nachbarn, in der Küche stand ein Gericht in Zellophan eingeschlagen, darauf klebte ein Zettel mit der Mikrowellenherd-Minutenzahl. Er durchstöberte die ‚Bild’ nach dem feinkörnigsten Nacktfoto und verschloss, auch wenn er noch Stunden allein war, die Toilettentür zweifach. Er bastelte ein ‚Faller’-Haus zusammen oder sprengte eines in die Luft, wenn von Silvester noch Böller da waren – auf dem Komposthaufen im Hof verrottete in rauen Mengen sein Plastik.
Wäre er als dieser 13-Jährige abergläubisch gewesen: er hätte gewarnt sein müssen, als er vor allen anderen im Schulbus den erhöhten Sitz überm Radkasten hatte ergattern können. Dass er sich geborgen fühlte in dieser vibrierenden Sänfte, von Stahlmantelreifen durch sattgrüne Felder getragen, hätte ihn nachdenklich stimmen müssen – und erst, dass ausgerechnet das hübscheste Mädchen aus der Parallelklasse, das blonde und schmale, das so seifig roch, sich neben ihn setzte und gar nicht unfreundlich, nur sehr erstaunt zu ihm sagte, als er ihren Pferdeschwanz anfasste: ‚Du träumst wohl?’ Zumindest musste er nach dem Sportunterricht in Gedanken gewesen sein, als er die Schnur mit dem Schlüssel im Umkleideraum hängen ließ. Er träumte nicht. Er stand im Regen, hungrig, nass und, schlimmer, nach den ersten mit Sonja gewechselten Worten mit überschäumendem Verlangen vor verschlossener Tür.
Er ließ den Ranzen liegen, ging ums Haus und fand die Hoftür genauso verschlossen. Sie führte in die Küche. Gesicht an der Scheibe, sah er sein Essen auf der Anrichte, Wurfsendungen und Zeitung im Flur auf der Fußmatte unterm Postschlitz. Auf der Treppe zu Mamas Schlafzimmer, dem Pediküre-Raum für Privatkunden und seinem Zimmer standen Flaschen: Pfandglas, das er einmal die Woche wegbrachte, um sein Taschengeld aufzubessern. Bevor sie zur Arbeit gefahren war, hatte seine Mutter die Flaschen aus dem Heizungsraum genommen und sie ihm hingestellt, als Denkstütze. Die Feuerschutztür zu diesem dunklen Raum, der an die Küche grenzte und gerade mal dem Öltank und einem Schuhregal Platz bot, stand einen Spaltbreit offen.
Aus der Garage, die nur abgeschlossen wurde, wenn ihr Wagen darin stand, holte er die ausrangierte Küchenleiter und lehnte sie neben der Hoftür an die Hauswand. Etwa zwei Meter überm Boden, unvergittert und ohne Fensterkreuz, diente dort eine Luke als Entlüftungsschacht. Sie war quadratisch und hatte ein horizontal angebrachtes Drehfenster: Wollte man die Luke als Ein- oder Ausstieg benutzen, hieß es entweder über oder unter dem Drehflügel hindurchkriechen. Er stieg hinauf, kippte das Fenster in die Waagrechte, schob den Kopf in die Bollerluft und tastete die Innenwand nach etwas ab, woran er sich festhalten und hineinziehen könnte. Soweit sein Arm reichte, spürte er Putz. Er griff in Spinngewebe, und die Spinne kroch ihm über die Hand. Er schlug mit der Hand gegen die Wand und mit dem Kopf gegen das Glas. Und während er noch zappelte, um nun so schnell wie möglich entweder hinein oder hinaus zu gelangen, weg von dem Viech; während ihm nicht etwa klar wurde, dass nach den Jahren, die sein Vater ihn nicht mehr zum Knochenfuchs, der hier lebte und sich von Fußknöcheln ernährte, in den Heizungsraum eingesperrt hatte, er offenbar zu groß geworden war, um durch die Luke ins Freie zu kriechen und damit auch umgekehrt: aus dem trostlosen Freien in ein wenigstens warmes Gefängnis; während alles, was ihm durch seine missliche Lage hätte klar werden können, in diffuser doch spürbarer Panik verflog und er spürte, ich sitze fest … fiel unter seinen Füßen die Leiter.
Kopf und linker Arm im Heizungsraum, den Rest des Körpers baumelnd, zappelnd draußen, hing er in der Wand. Was ihn festhielt, spürte er im Nacken: Der Drehflügel schnitt in den Hals ein, presste ihm die Kehle auf den Rahmen, so dass er, wenn er nicht ersticken wollte, den Kopf drehen und dadurch die Stelle im Nacken noch stärkerem Druck aussetzen musste. Erlöse mich von dem Übel!, mach, dass es gelingt, die Turnschuhe abzustreifen, mit den Sohlen finde ich an der glitschigen Wand keinen Halt! – sie waren zu fest geschnürt, kein Wunder: Wie immer, wenn ihm das achtlose Schnürsenkelbinden einmal bewusst wurde, dachte er vielleicht schlaglichtartig an den Menschen, der es ihm beigebracht hatte: ein Stammgast im Lokal seiner Großeltern namens ‚der Spargl Sepp’, ein hagerer, rotwangiger Alter mit cremefarbenem Goggomobil, der im Sägewerk arbeitete … und wahrscheinlich half ihm das, die rotierende schwarze Windmühle im Kopf abzubremsen zu einem langsam kreisenden, wiederkehrenden Dunkel. Denn bevor er das Bewusstsein verlor, deckte sich – ja, wie das nennen: die Topographie seiner Gedanken exakt mit dem, was er sah (die Finsternis im Heizungsraum) und dem, was er hörte (das gleichmäßige Surren der Ölpumpe); Außen und Innen drehten sich ineinander, sein Kopf wurde ein Raum, und die Beine, wie sie draußen gegen die Wand schlugen, dachten … er selbst wurde schwarz, ein langsam kreisender Rotor, drehte er sich um eine Achse, die durch den Schmerzmittelpunkt in seinem Nacken verlief. Erst, als er das Gefühl hatte, aufgespießt worden zu sein und herumgewirbelt zu werden auf diesem Spieß, ließ der Schmerz nach, hörte er sich nicht länger weinen. Als er die Augen schloss, tat er es im festen Glauben, zu sterben.

(Fortsetzung folgt)

*


02.01.2009 12:46:13 

Plädoyer für einen Hund


3 (Fortsetzung)

In Marseille schloss ich meinen ersten Roman „Der junge Fordt“ ab und widmete ihn meinen Großeltern: Ein stürmisches Buch, getragen von einem Witz und einer Verve, die mir zehn Jahre später oft peinlich sind und noch öfter auf die Nerven gehen. Ohne Ziel, nur auf Körperkontakt aus, wie Drängler in der Menge, kommt diese hart gefügte und doch lavaweiche Eruption daher, die Erlebnisse in meiner Kindheit und Jugend durcheinander wirbelt, umordnet und fortwälzt. En passant verarbeitet „Der junge Fordt“ Doderer, Kafka, Kleist, Schiller, Trakl und andere Lektüren auf dem Weg zu einer neuen, epochalen Erzähllogik des Zweifels. Dafür steht mein Alter ego mit seinem Namen ein, den er zum Gedenken an seinen an Krebs gestorbenen Dobermann vorübergehend ändert in „Hundt“. Beredte Ratlosigkeit, ein funkelnder Scherbenhaufen ist der Lohn des Lesers nach 277 Seiten, die mich drei Jahre meines Lebens kosteten. Als Trojanisches Pferd konzipiert, ging das Buch als Bleiente unter. Dennoch bin ich den Gründen für die doppelte Zerrüttung der Ehe meiner Eltern, die einander zweimal heirateten und sich zweimal voneinander scheiden ließen, nie dichter auf den Fersen gewesen, mithin den Wurzeln meiner eigenen, nicht minder katastrophalen Liebesbiographie. Und ich schrieb in jenem Winter in Marseille unter dem Eindruck des plötzlichen Todes meiner Großmutter ein paar Seiten, denen es gelingt, drei der vier Überfälle, die der Tod auf mich selber verübte, so darzustellen, wie ich sie erlebt hatte, gepackt zwar von nacktem Entsetzen, aber nie und nimmer gewillt, mich zu ergeben:


4

„Ich habe dem Tod des öfteren ins Auge geblickt – das sagte sich so leicht. Paradox: den Tod ein lebendiges Gegenüber zu nennen, das Macht nur über den hat, der, unfähig sich zu beherrschen, in sein Medusengesicht starrt. Als hätte man im Angesicht des Todes die Wahl. Allerdings musste man zwischen vielen verschiedenen Arten von möglichem Tod unterscheiden – zumal jeder dem Tod auf seine Weise begegnete. Überhaupt: Wer erschien sterblich, wenn nicht der, der vom Tod sprach? – Der junge Fordt hatte zwei Spielarten des Todes kennengelernt, die eine gleich zweimal: Als er mit acht Jahren auf dem Busbahnhof stand, stieß ihn ein rasch durch die Menge drängender Mann auf die Fahrbahn; im selben Moment kam der Bus; als er fiel, dachte er nichts; erst als er hart gegen die Seitenwand prallte, auf den Bürgersteig zurückgeschleudert wurde und dort unversehrt aufstand, wusste er, dass er nicht mehr leben würde, wenn der Bus ein klein wenig später gekommen wäre. Kurz nachdem er den Führerschein gemacht hatte, unternahmen sein Vater und er eine Spritztour aufs Land. Vom Beifahrersitz aus bestimmte Fordt die Geschwindigkeit: auf geraden Strecken Gas geben, in Kurven Tempo drosseln. Es wurde Abend, nur wenige Wagen kamen ihnen entgegen. Auf einer langen Gerade zwischen zwei Waldinseln überholte sie ein Motorrad. Fast im selben Moment erkannte er an zwei dicht nebeneinander liegenden Scheinwerfern einen Traktor, der, aus dem zweiten Wäldchen kommend, in die Straße einscherte. Die drei mit Strohballen beladenen Anhänger waren unbeleuchtet, der Motorradfahrer sah sie zu spät, und auch der junge Fordt hätte sie zu spät gesehen, wäre mit seinem Vater neben sich in die Hänger gerast und gestorben wie der Junge auf seiner Suzuki, bei dem er sich bedanken konnte, dass er noch lebte, und – paradox – doch nie, solange er lebte, sich würde bedanken können.

(Fortsetzung folgt)

*



27.12.2008 14:45:31 

Plädoyer für einen Hund


3

Ein „Nahtoderlebnis“ – den Ausdruck habe ich nie begreifen wollen. „Unser Leben ist der Mord durch Arbeit; wir hängen 60 Jahre lang am Strick und zappeln“, sagt Georg Büchner zu Recht, auch wenn es mittlerweile 80 Jahre sind, die man hat an „durchschnittlicher Lebenserwartung“, was ein ebenso absurder Begriff ist, und auch wenn Büchner selbst nur 23 wurde. Ich erinnere mich an die Zeit, als auf den Tag genau elf Monate vor dem Warngauer Zugunglück mein Großvater starb: ein Jubelfest im ganzen Land. In der Nacht auf den 8. Juli 1974, als die Fußballnationalelf Weltmeister geworden war, schlief mein Großvater selig vor Glück und Stolz ein und wachte nie mehr wieder auf. Die Freude, hieß es, sei zuviel für ihn gewesen, eine Ansicht, die ich nicht teile, denn er, der im Jahr, als der Kaiser abdankte, so alt war wie ich, und der im Hitlerkrieg Funker und nach dem Krieg Eisverkäufer war, mein Großvater, er ging zum Lachen nicht in den Keller. Und nie getraut, schon damals nicht, als ich neun war, habe ich der ärztlichen Hypothese, nach der ein amerikanischer Granatsplitter, der meinen Großvater 1943 in Ligurien getroffen haben soll, 31 Jahre lang durch seine Blutbahnen gewandert sei, um in jener Nacht auf einer Woge der Freude in sein Herz gespült zu werden. Ebenso überzeugend finde ich die Vorstellung, mein Großvater könnte bereits 1914 in Galizien verwundet worden sein, wo er nie war, geschweige denn als Siebenjähriger. In einem dichterischen Gemüt liegen die Zeiten wohl synchron nebeneinander, die Vernunft der Chronologie jedenfalls ist nicht bedeutsamer als jede andere denkbare Möglichkeit. So schreibt Zbigniew Herbert über seinen im Zweiten Weltkrieg gefallenen Bruder:

ein granatsplitter
traf ihn bei Verdun
vielleicht bei Tannenberg
(die einzelheiten hatte er vergessen)

Zu jeder Zeit und noch im größten Glück steht neben mir der Tod und lehnt die Stirn an meine Schulter. Ich schlafe nicht allein, o nein. Jede Nacht liegt neben mir in meinem Bett ein großer schwarzer Hund und zuckt im Traum. Dort bin ich ihm und ist er mir so nah, wie ich mir selbst es nie sein werde. An jedem Morgen neu wache ich auf nach so einem Nahtoderlebnis, und jeder Tag ist erneut ein Wunder nicht zu guter Letzt darum, weil neben mir der Schatten geht.
Wie ein Schatten stets bei mir ist auch meine tote Großmutter. Unvermutet wie aus dem Nichts materialisiert steht sie neben mir und streckt die Hand nach meinem Arm aus. Als ich im November 2007 von Ushuaia auf Feuerland abfuhr und das Schiff Kurs nahm auf die Antarktis, las ich das Versepos „La Araucana“ des spanischen Spätrenaissance-Dichters Alonso de Ercilla, den Chile als Nationalhelden verehrt. Ercilla beschreibt darin die Indios vom Stamm der Araukaner auf eine Weise, dass ich, ohne es zu wollen, leibhaftig meine Großmutter vor mir sah und sie daraufhin im Sinn behielt auch am vergletscherten Ende der Welt:

Robust und bartlos, sanft
Die Gestalt und muskulös,
Glieder hart, Nerven stählern,
Wendig und ehern, fröhlich,
Beseelt, wagemutig und tapfer,
Abgehärtet von Arbeit, geduldig
Bei tödlicher Kälte, Hunger, Hitze.

So lang wie Georg Büchner lebte, 23 Jahre lang, lebte sie nach dem Tod meines Großvaters noch weiter. Klein und kleiner wurde sie, nervös und etwas fahrig, und zehrte von der Idee, ihre „Babiere“ in Ordnung zu bringen, Steuerunterlagen, Versicherungspolicen, Schuldentilgungstabellen und einen Stammbaum, der in einem kleinen, in rotes Leder gebundenen Buch zurückreicht bis zu meinem Urururgroßvater, von dem sie behauptete, er sei verwandt gewesen mit Karl May. Sie starb im Januar 1998 unerwartet und plötzlich nach einer erfolgreichen Blinddarmentfernung an einer Lungenembolie, der von ärztlicher Seite nicht vorgebeugt worden war. Am Neujahrsabend hatte ich sie zuletzt gesehen: Kaum größer als ein Kühlschrank, aus geröteten Augen lächelnd, stand die Araukanerin, die Erzgebirge und Hohe Tatra liebte, mit dem ewigen Geschirrtuch in der Hand in der Haustür und rief mir etwas nach in ihrem Sächsisch, das so spitz und schnell sein konnte, dass die beiden Namen ihrer Heimatstadt, wenn sie sie aussprach, ununterscheidbar klangen und auf diese Weise wieder eins wurden. So habe ich nie einen Zweifel daran gehabt, dass Chemnitz und Karl-Marx-Stadt immer eins gewesen sind. Sie winkte noch, meine Großmutter Käte, die ich Oem nannte, und tags darauf flog ich, um ein Stipendium anzutreten, nach Marseille davon.

(For(d)tsetzung folgt)

*


23.12.2008 18:30:35 

Far Rockaway


Ein kleiner Junge neben mir am Geländer
   spielte Nintendo DS und zeigte mir genau,
wie unerschöpflich wandelbar Monster sind,

   seine Mutter drehte seiner Schwester Zöpfe
in ihr funkelndes Haar, Destiny, sagte die Frau,
   du sollst mich anschauen, nicht das Meer.

Jenseits des Gleises, wo wir vier warteten
   auf die Subway nach Queens, lagen grau
Dünen voll wildem Müll, im Gras der Schrott

   eines in Brand gesteckten, lange gelöschten
Thunderbird, der im Sand versank als Verhau
   aus Gummi und Blech, und in den Augen

des still sitzenden Mädchens, dessen Zöpfe
   schimmerten, sah ich den Ozean, sein Blau,
wie es hereinbrandete ohne Zukunft oder Ziel.

*


18.12.2008 21:41:07 

Plädoyer für einen Hund


2

Im Spätfrühling 1975 jedenfalls muss es gewesen sein, als meine Mutter mich mitnahm auf eine Reise nach Warngau, wo sie eine frühere Kollegin besuchte mit dem schönen Namen Hermine und wo ich dem schwarzen Hund, von dem ich zu träumen begonnen hatte, erstmals leibhaftig gegenüberstand. Wiesen voller Butterblumen und Lupinen wellten sich dem Tegernsee und jenseits seines Türkis den Bergen entgegen, und über allem stand ein ruhiger Himmel von der Farbe meiner Augen, unter dem ich mit Schauen beschäftigt war und der mit einem Mal zerriss. Ein Furcht erregender Knall kam gefolgt von einem langen schauderhaften Kreischen am Mittag, als ich auf der Terrasse von Hermine spielte, herüber aus einem Waldstück in der Nähe, und der unsichtbare Schrecken, der sich von da an in der warmen Luft hielt, schien sich mir nicht nur auf den Garten, sein grünes Blinken und die ihn umgebenden Bäume zu legen, anzuhaften schien er genauso den Vögeln, Fliegen und Hummeln, denen ich dabei zusah, wie sie durch den Tag schwirrten, als sei nichts geschehen. Sirenen von Streifenwagen, Krankenwagen und Löschzügen heulten unablässig durch das Dorf, und auf dem Nachbargrundstück jaulte dazu ein Hund so markerschütternd, dass ich mich schließlich an den Zaun schlich und dann unter Bäumen stehend drüben das schreiende Tier sah, das in einem Zwinger auf und ab lief und das mir so vertraut schien. Als Hermine meiner Mutter und mir erzählte, dass nahe des Dorfes zwei Züge zusammengestoßen und dass bei dem Unglück sehr viele (ich weiß heute: 41) Menschen getötet und viele weitere verletzt worden waren, haben wir uns am folgenden Morgen in aller Frühe in unseren Käfer gesetzt und sind vor allem vor dem noch immer jaulenden Hund geflohen. Wie Dutzende andere Schaulustige, die über die Wiesen strömten und zwischen den Kühen umherstolperten, sind wir, ohne dass uns jemand daran gehindert hätte, mit dem Volkswagen bis zu dem Waldrand gefahren und liefen dann zu Fuß weiter zu den Gleisen.
Die zwei baugleichen roten Lokomotiven, die ineinander gerast waren und nun stumm zwischen den Bäumen standen, wirkten wie ein riesenhaftes Ungetüm auf mich, so wie die eine aus der anderen herausragte, steckengeblieben bei dem Versuch, durcheinander hindurchzufahren. Als noch viel schlimmer aber empfand ich den Anblick der Waggons, die durch die Wucht des Aufpralls in die Höhe getrieben, krumm gebogen oder in der Mitte auseinander gebrochen worden waren. Denn anders als die beiden Loks, die mir vorkamen wie zusammengeschmolzen zu einer Ungeheuermaschine, bereit, auf der Stelle davonzubrausen, waren die Waggons nur mehr Schrott, zerfetzte, zerplatzte Wracks, aus deren Innern das Schaudern hervorquoll. Man sah keine Krankenwagen mehr, und es war keine Suchmannschaft mehr vor Ort. Die Verletzten waren versorgt, die Toten geborgen worden, während ich auf der Terrasse verzweifelt gespielt hatte, ich weiß nicht mehr, womit, um das Jaulen des Hundes zu vergessen. Als ich an der Hand meiner Mutter durch das Gerümpel stieg, das über Hunderte von Metern den Bahndamm säumte, Koffer, Sitze, Flaschen, alles was aus den zwei Zügen geschleudert und von den Rettungstrupps ins Freie geworfen worden war, hatte ich das Gefühl, zwischen dem ganzen Müll aus noch am vorigen Morgen eingepackten intakten Dingen wenigstens eines entdecken zu müssen, das eine Spur wäre und mir verriete, wem es gehört hatte und was mit seinem Besitzer geschehen war. Es war dumpf und unaufrichtig, dieses ungute Gefühl. Zwischen den Habseligkeiten der Verunglückten suchte ich in Wirklichkeit mit gierigen Blicken nach einem handfesten, blutigen Beweis dafür, dass Andere ausgelöscht worden waren, während zurselben Zeit ich weiterlebte.
Weder in dem Waldstück bei Warngau noch auf den Unfallbildern meines Großonkels war der Beweis zu finden. Liegen gelassene, aufgegebene Dinge, Habseligkeiten und Bäume, Wald, Moor und Äcker, und darin die Verheerung, das Böse, der brüllende schwarze Hund. So wenig an Spuren von einem der zu Schaden gekommenen Menschen ich ausmachen konnte zwischen alledem, was mir wie das nach außen gestülpte, vollkommen entseelte Innenleben der beiden zerstörten Züge vorkam, so wenig wussten die Fotos von dem Autounfall über diejenigen zu berichten, die da mit ihrem Wagen irgendwann einmal gegen einen Baum gerast und gestorben waren. Nirgends ein Mensch, ein Opfer oder einer, der sich wehrte, so wenig wie auf der Zeichnung von dem gespenstischen Hund. Meine Mutter kann sich nicht daran erinnern, und dennoch bilde ich mir ein, sie an dem Tag vor 35 Jahren in Warngau gefragt zu haben, wo alle die Leute seien, denen alle die Sachen gehört hätten, womit ich nur zum Ausdruck brachte, dass mir etwas Wichtiges fehlte, ein Hinweis, der deutlich gemacht hätte, was in dem Waldstück wirklich geschehen war.
Es gab ihn nicht, nicht für einen Zehnjährigen: Von den Überbleibseln einer so umfassenden Zertrümmerung auf das Unglück selbst zu schließen, gelang mir nicht. Und wie in dem Wald, durch den die erste Sommersonne fiel und wo die Vögel sangen zum Geraune derer, die mit uns umherstöberten im Müll der Toten und Davongekommenen, so vermisste ich auch auf den Bildern von dem Autounfall die Leute, die ihn miterlebt hatten. Wäre da nur einer gewesen, der geschrien oder geweint hätte. Wäre unter den Fotos nur eines mit auf dem Schreibtisch ausgelegt gewesen, das ein Opfer zeigte, im Hintergrund einen Mann, eine Frau, ein Kind mit einer Wunde. Ich glaube, ich hätte noch immer kaum begriffen, warum hier wer verunglückt war, wenigstens aber hätte ich eine Vorstellung davon gehabt, weshalb mein Großonkel alle die Bilder sammelte: Das Tragische gehöre verworfen, nachdem man ihm ins Gesicht geblickt habe, nicht vorher, schreibt Albert Camus, der in diesem Auto starb, als es in dem kleinen Ort Villeblevin gegen einen Baum raste.

(Fortsetzung folgt)

*

15.12.2008 21:05:41 

Plädoyer für einen Hund


1

Seit ich denken kann, hängt über dem Schreibtisch meines Großonkels eine alte Zeichnung von einem großen schwarzen Hund. Mit gefletschten Zähnen, die Lefzen wie die Augen weit aufgerissen, zeigt ihn das Bild mitten im Sprung auf etwas zu, das jenseits des Rahmens ganz in der Phantasie des Betrachters liegt. Wer immer dort ist: ein Fliehender oder einer, dem noch eine Waffe zu ziehen gelang, nie hatte ich Zweifel daran, dass er im nächsten Moment unter den Bissen jenes Grauen erregenden Hundes sein Leben ausgehaucht haben würde.
Es ist Arthur Conan Doyles „Hund der Baskervilles“, den die Zeichnung zeigt, und anders als jeder, der sie in den hundert Jahren seit Sherlock Holmes’ vielleicht berühmtestem Fall betrachtete, fühlte sich mein Großonkel immer auf mir unverständliche Weise beschützt von dem Bild. Den Raum rings um seinen Schreibtisch, sagt er noch heute, verwandele das schwarze Ungetüm in ein imaginäres Dartmoor, und die einzigen zwei Menschen, denen er gestatte, diesen wehrhaften Bezirk zu betreten, das seien er selber und ich, sein wissbegieriger Großneffe.
So habe ich mich jahrelang dem Arbeitsbereich meines Großonkels nur mit äußerster Vorsicht genähert. Erst als ich selbst begann, Doyles Erzählungen von Sherlock Holmes und seinem Assistenten Dr. Watson zu lesen, ist mein Respekt, der mich bis in die Träume hinein verfolgte, allmählich einem Interesse gewichen, das mir erlaubte, in einer Darstellung von einem blutrünstigen Hund schließlich nicht mehr allein das Ungeheuer zu sehen, sondern zunächst einmal ein ungeheures Bild.
Ob es 1975 oder 1976, ob ich also zehn oder elf war, als ich erstmals „Der Hund der Baskervilles“ las, kann ich nicht mehr sagen. Ich weiß nur noch bestimmt, dass der Schreibtisch meines Großonkels zurselben Zeit unter einer Unzahl anderer, nicht minder ungeheurer Bilder verschwand. Es waren zumeist Zeitungsausrisse und Fotos aus Büchern, Aufnahmen, die, soweit ich mich erinnere, alle das Immergleiche zeigten: einen verheerenden Autounfall auf einer von großen alten Platanen gesäumten, ansonsten aber verlassenen und tristen Chaussee. An einem Ackerrain war ein Wagen gegen einen Baum gerast, ein Fabrikat, das ich nie zuvor gesehen hatte. Ich nahm an, dass es ziemlich alt sein musste, wenn auch nicht so alt, dass ich das in zwei Hälften zerrissene Gefährt, das auf den Bildern von allen Seiten und in allen Einzelheiten zu sehen war, als Oldtimer bezeichnet hätte. Als der Junge, der ich damals war, hatte ich doch noch bestimmt keine Vorstellung von Nachkriegszeit, den 50er oder 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Fotografien, die mein Großonkel sammelte, ohne dass ich hätte sagen können, zu welchem Zweck, zeigten für mich das zerfetzte, in seine Einzelteile zurückgesprengte Wrack eines bloß alten Autos.
Aber ich weiß noch, dass stets, wenn mich die Langeweile an einem verregneten Nachmittag in das Arbeitszimmer trieb, dasselbe „ungute Gefühl“ in mir aufstieg, von dem meine Mutter oft sprach, überzeugt, ihre hektische Nervosität sei Ausdruck einer telepathischen Fähigkeit. Bewacht von dem schwarzen hyänengleichen Hund an der Wand ordnete mein Großonkel Papiere, und ich presste so lange die Stirn gegen den kalten Türrahmen, bis meine Verholzung offensichtlich wurde und er mich zu sich rief. Stundenlang sortierten wir dann gemeinsam Bilder und Artikel, die ich aus alten, zumeist französischen Zeitungen ausschnitt und die er beschriftete mit einer Quellenangabe, einem Datum und den immer gleichen zwei Namen „Camus, Villeblevin“, die mir nichts sagten, aber die sich mir einprägten, so als wären sie eintätowiert worden in den Teller meiner noch schmalen Hand mit den roten Druckringen von der unermüdlich auf und ab durch das Papier gleitenden Schere.

(Fortsetzung folgt)

*


11.12.2008 23:55:35 

Zeit zu bleiben, Zeit zu gehen


Der Schreibtisch passt nicht in den Koffer,
er leert sich also, nichts will bleiben.
Muss alles unterwegs sein? Dabei bellt
seit Monaten da draußen dieser kleine Hund
in dem umzäunten Auslauffeld, und durch
die Decke kommt wie jeden Abend spät
Rachmaninov, die stille Melodie auf dem Klavier.
Licht blitzt herüber von den Fotoateliers
am Broadway, und in dunklen Pausen sind
noch dunkle Silhouetten auf dem Dach zu sehen,
die ihre allerletzten Runden drehen, obwohl
es kühl und windig ist und Zeit zu gehen.
Die Blätter von den Gingkobäumen treiben
hinauf ans Fenster, wo ich immer stand.

*


12.11.2008 19:37:16 

Harlem


Das letzte Haus an der Madison Avenue
ist ein verrußter Ziegelbau: Nummer 2066.
Besprüht mit Graffitis, parkt davor ein Van,
ausgeschlachtet auf den Felgen im Regen.

An Gusseisengittern entlang geht es hinauf
in einen kleinen Park: Bänke, Turm, Glocke.
Aus roten Bäumen ein Rund, wo auf Mauern
Gestalten sitzen, hinabblickend nach Harlem.

*


10.11.2008 00:47:21 

Okapi


Am Bordstein steht Petrarca, auf den Schultern
die kleine Tochter mit Perücke, fahl geschminkt,
wohl leprakrank. Der Tod umarmt zwei Starlets,
zu Nixons Tanz mit Mao applaudiert die Polizei.
Und oben spielt der Pianist schon wieder Liszt.
Es funkelt Berenikes Haar. Die Nacht wird kalt.

In einer Rikscha Jackie Kennedy. Und im Gejaul
von Feuerwehren unterm Teppichklopfgeräusch
der Helikopter ein Okapi in der Bleecker Street.
Zur Halloweenparade kommt die Stadt zu sich
und ich nicht weiter. Durch den Turm jagt noch
ein später Lift hinab. In Pennsylvania schneit es.

Für Norbert Hummelt

*



07.11.2008 06:12:34 

Broadway-Melodie


3/3

In den Sinn gebunden eines der Lieder –
ein kleines Kind im Lift nach oben weint –
lausche ich über den Wipfeln im 7. Stock
am Fenster meines regengrauen Turms.
Und ich spüre, wie mir durch die Glieder
das Blut hinrennt zum müden Herzen eines
Dobermanns, der träumt. Howard Hughes
verkauft Gedichte, Breakdancer tanzen zu
In the Mood, einer sprüht an eine Wand
in Blumen immer wieder Gottes Namen.
        Jiddische Mädchen summen Reime –
               Laub und Regen, Raub und Segen.

*

04.11.2008 16:11:27 

Broadway-Melodie


2/3

Von allem getrennt, das ich liebe,
bleiben Lieder. Sie ziehen sich zurück –
es singt wer New York City State of Mind –
in ihre Sanftmut, ganz als legte sich ein
Lamm mitten auf dem Broadway nieder.
Eine Abendmaschine kreist über Queens.
Starenschwärme teilen sich und fliegen
aufs Meer. Durch seinen Regen irre ich
tiefer in Geschäfte für Bilder, für Sirenen
sinnlos verloren, ratlos mit einem Blick
        telefonierend, täglich intangibler,
               unberührbar mein Gesicht.

*


03.11.2008 03:29:36 

Broadway-Melodie


singing may wash away the blood of the lamb
Grace Paley


1/3

Es gibt dich nicht, überirdisches Licht
New Yorks, nur Himmelsweite, See und
die steinern überbaute Zunge der Insel.
Der Sturm vorm schwarzen Fenster greint –
es ist spät Herbst geworden in Manhattan.
Die paar Platanen am Broadway färben sich
rot und gelb, und immer noch jaulen beflaggt
mit Sternenbannern Löschzüge, klirren mit der
Totenfahne Ambulanzen durch die abendliche
Menge in den Thermopylen aus Boutiquen.
        Davon getragen letzte Reste Wärme,
               ist der Sommer ausverkauft.

*



01.11.2008 17:09:32 

Das China Town-Seniorenorchester


Im Columbus Park an der Mulberry Street
fängt China an, ein gelbes Meer aus Neon,
darin Genua Insel. An einem Gusseisenzaun
sitzt auf einem Hockerchen auf dem Gehweg
meine Mutter mit ihrem Hamburger Schuhwerk
in Händen, und Mister Ling, Eckschuster hier,
länger als sie denken kann, formt ihr mit Fingern

einen neuen Absatz. Das China Town-Senioren-
orchester spielt dazu im Park auf Instrumenten
der Ming-Dynastie, und rings die grauen Frauen,
zusammen älter als das konfuzianische Licht,
liest mir ein Greis aus dem Handteller, Unglück
sei der erste Schritt vorwärts, so für eine Nation
wie einen Menschen. Es riecht nach Oktopus,

als über Spitzahornbäume und die stinkende
Pagode mit kaputten Toiletten in den Himmel
Benjamin Franklin steigt, der vom Mond sagte,
dessen Gesicht sei nicht so bekannt wie seines.

*


28.10.2008 20:01:39 

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