ein bild

Kathedrale


Ein Ebereschenstrauch
steht im Morningside Park
unterhalb der Kathedrale
von St. John the Divine.

Die Beeren leuchten,
der graue Bau, der brannte
vor sieben Jahren, ist eingerüstet,
und immer noch fehlen hundert
bis zu einem Glockenturm.

Die Beeren leuchten,
rot im Oktober, verschmäht
von den Upper West Side-Staren,
die in Wolken südwärts davon
nach Staten Island ziehen.

Glaub du älteren Zeugen,
vertrau den Vögeln: Stumm
im Wind geht die rote Glocke
aus leuchtenden Beeren.

*


23.10.2008 05:41:48 

Elizabeth


In meinem Roman „Wie wir verschwinden“ spielt ein amerikanisches Ehepaar eine Nebenrolle. Adriana und Christopher, Aid und Chris, sind Botschaftsangestellte in Paris, die aus Elizabeth, New Jersey stammen. Mir gefiel der sinnliche, vertraut klingende Name der Stadt, ihre Nähe zu New York. Elizabeth trennt von Staten Island nur der Fluss Arthur Kill, im Süden und Westen wird es rasch ländlich, beliebte Pendlervororte liegen dort, Roselle Park, Hillside, Rahway.
Elizabeth aber, durchflossen vom Elizabeth River, der der Stadt den Namen gab, ist ein beinahe reiner Industriestandort, was ich nicht wusste, ein verschandelter Fleck Erde nur mehr für Einkaufszentren, Baumärkte, Parkplätze, Truckverladerampen bis hinunter ans Wasser, das hier ebenso tot scheint wie die Landschaft. Auf der Bucht von Newark lösen einander im Stundenrhythmus die Frachter und Tanker ab, die im Hafen der Stadt, in Port Elizabeth, gelöscht oder beladen werden, beides gleichzeitig ist das wahrscheinlichste. Ein paar Kilometer stadteinwärts rauscht auf dem New Jersey Turnpike, der Interstate Route 95, der Verkehr durch Gewerbemischgebiete und Gebirge aus rotgeklinkerten Mietblocks von Mautstation zu Mautstation. In der Luft hängt ein süßer Kerosinduft. Elizabeth ist zudem Einflugschneise. Im Norden liegt der Newark Liberty Airport, ein betoniertes Gelände von fast derselben Ausdehnung wie die ausgeschlachtete und zum Warenumschlagplatz hergerichtete Stadt. Ich bin selbst auf dem Flughafen gelandet. Die Shuttlebusse nach Manhattan fahren aus Schluchten zwischen Parkhäusern und Terminals ab, über die sich leere Rampen und gläserne Brücken spannen, deren Zweck unergründlich bleibt. Die silbernen Maschinen der Continental Airlines landen und starten im Halbminutentakt.
An das Flughafengelände grenzt im Süden ein Areal aus Lagerhäusern. Zwischen einem Busdepot und dem Auslieferungsmagazin der Supermarktkette ShopRite steht hinter Stacheldrahtzäunen eine ehemalige Lagerhalle, die von dem Privatunternehmen Correction Corporation angemietet wurde. Sie beherbergt ein Internierungslager für rund 300 dort inhaftierte illegale Einwanderer und Asylbewerber zumeist aus Lateinamerika, aufgegriffen und hierher deportiert im Auftrag der Immigrations-and-Customs-Enforcement-Behörde, kurz ICE, einer Abteilung des von der Bush-Administration nach den Terroranschlägen vom 11. September eingerichteten Heimatschutzministeriums. Die Nähe zum Flughafen ist kein Zufall. Das Detention Center Elizabeth ist ein Abschiebehaftlager und geriet wegen dort herrschender rigider Praktiken erst kürzlich in die Schlagzeilen, als einer der Insassen nach einer Kopfverletzung tagelang ohne medizinische Versorgung geblieben, ins Koma gefallen und wenige Wochen darauf verstorben sei, wie „Die Zeit“ in ihrer Ausgabe vom 11. September 2008 unter der Überschrift „Der amerikanische Albtraum“ berichtet. Amerikaweit ermittelte die New York Times 66 vergleichbare Todesfälle zwischen 2004 und 2007, unter anderem durch Vergiftung, Nierenversagen und Suizid. Rund 330.000 Menschen würden derzeit in amerikanischen Abschiebegefängnissen einsitzen, während der Gewinn von Unternehmen wie der börsennotierten Correction Corporation of America sich in den vergangenen drei Jahren beinahe verdreifacht habe, seit die ICE dazu übergegangen sei, illegale Einwanderer massenhaft zu internieren.
Aus diesem gespenstischen Ort also, von dem man sich nicht wünscht, dort leben zu müssen, stammen Adriana und Christopher, die allerdings zum Glück für sie ja selber bloß Gespenster sind. Vom Leben der Romanfiguren trennen mich Meere, die Interkontinentalflugzeuge weder ihrer noch meiner Welt überwinden können. Aid und Chris wuchsen auf in einem anderen Elizabeth, einem, wo der Name, sein Klang und seine Bedeutung, Wirklichkeit stiftet. Diesseits des erfundenen Elizabeth aber ist es bittere Realität, dass das Wünschen nie geholfen hat. Spiegel, Stacheldraht, Kontinente stehen zwischen den Leuten, Betonrampen und Brücken aus Glas verbinden uns, nur wissen wir nicht, wozu. Lange küssen wir uns in der steinernen Flughafenschlucht, bevor wieder so ein riesiger silberner Bus, beklebt mit Werbung für ein isotonisches Getränk, Sabine und mich hinüberfährt nach Manhattan. Nach drei Wochen Getrenntsein sind wir gemeinsam in Amerika, preschen über den Turnpike und können es erleben: Raum ist für alles, seine Großzügigkeit setzt die Maßstäbe. So tot zwischen Industriebrachen die Seenlandschaft auch scheint, die da überspannt wird von kilometerlangen Stahlviadukten, so wenig ist sie es. Schwäne, Kormorane und Enten wassern und heben ab unterhalb der Brücken, sie fliegen über die Schilfgürtel von New Jersey durch die blendende Mittagssonne.

*


13.10.2008 03:56:30 

Astroland


Das Meer war so laut! In der Luft Wogen,
und Himmel und See vom selben Grau:
Über den Holzpier kam bloß ein Schwarm
lachender Vögel aus dem Nebel herein.
Frachtschiffe waren zu hören, ihre Hörner
in Dunstschwaden vor Rockaway Point,
die Brandung, die Gischt, Seevögel. Leicht
flogen sie einen Bogen um das verrostete
Riesenrad bei der Mondrakete und segelten
durch die Karussells. Und der Nebel stieg
vom leeren Strand auf, hüllte Mietblocks ein,
Gondeln der Balkone, aus Feuertreppen
die Achterbahn im Coney Island der Möwen.

*


09.10.2008 01:00:15 

Der längste Tag


Und du, was willst du weiter –
in De Roberti’s Diner, Ecke
First Avenue und 11. Straße,

am Nachbartisch ein wirrer Alter
mit Hängelid, das Hemd bekleckert,
schief zugeknöpft, der längste Tag,
du bist doch Deutscher, sagt er laut,
und hast das nie gehört – es war
der längste Tag, the longest day?

Er setzt sich und er sieht mich an
mit anderthalb Paar Augen – es war
mein erster Tag in Brooklyn, angespült

bei De Roberti’s – Heinrich Scheffler,
sagt er, ich wehre ab: Noch nie gehört.
No, sagt er, Heinrich Scheffler am MG,
am Strand bei Caen, bevor im Bunker
sie ihn erschossen haben, wo er saß
und die GIs im Wasser niedermachte

– und du, was willst du, draußen,
es ist ein warmer Tag, Manhattan,
auf einem leeren Schulhof Espen –

da sagte Heinrich Scheffler der Soldat –
du hast es nie gehört, I tell you, boy –
Es war der längste Tag im Leben.

*


01.10.2008 17:32:09 

Woodlawn


Jenseits der 167. Straße kommt die Subway
aus der Erde ans Licht, und es wird hell
in dem silbernen Waggon. Längs der Gleise
die Mietblockgebirge der Bronx, Fabriken
bis zum Mosholu Parkway, wo es grün wird,
plötzlich geisterhaft still. Abschleppwagen
parken an einem Sandhang, Diner, spanische
Reklametafeln im Schatten der Hochbahn,
keiner, du auch nicht, spricht. So fremd, geh,
oder bleib, solange du sicher sein kannst,
nicht vorgestern gestorben zu sein, aufgebahrt
zwischen Melville, Woolworth, Miles Davis
in einem der Marmormausoleen in Woodlawn.


*


24.09.2008 00:30:36 

Blume der Vogue


Da ist sie, Blitze, vor dem weißen Zelt,
sie trägt alte Leggins mit Forsythien darauf,
und eine Umhängetasche, darauf eine Forsythie,
sie ist selbst eine Blume und schwankt in den Blitzen
zwischen dem Bryant Park und dem Bryant Park Hotel.
Abgelichtet von dem Strauß Kameras knickst sie und lacht,
keiner, der nicht weiß, wer sie ist und wie jung, 19, die Blume
der Vogue, aber schafft sie es über die Straße in das Hotel?
Sie stoppt ein Taxi, Blitze, gelb hält es an und sie steigt ein,
zahlt mit einem großen Schein aus der Tasche mit Blume,
doch fährt nicht, Blitze. Drüben steigt sie wieder aus,
sie rennt die Stufen hinauf, taucht durch das Glas
in ihr Spiegelbild ein und ist verschwunden.

*


18.09.2008 05:30:22 

East River


Ein Baldachin von Regenschirmen,
Dach aus Medusen, vorm Eingang
der Grand Central Station singe ich
den amerikanischen Pomp. Großer
Bahnhof für Wirbelsturmausläufer –
als würden sie die Lüfte zerdreschen,
gießt es seit zehn Stunden Scherben.
Ich schwimme in Schuhen auf der 42.
Straße zum Fluss hinunter, da löst sich
zwischen Marmorfassaden von Banken
unter einer Brücke ein junger Mann auf
in einen Möwenschwarm. Wasserwind,
heulend geflogen kommt der East River.

*


14.09.2008 01:52:02 

Abschied vom Empfangskomitee


Wirf das Kraut in den Müllschlucker,
es sind bloß Dahlien und Ranunkeln
aus New Jersey. Lass dich nur nicht
irremachen – Gerüche, Geräusche.
Du kennst die New Yorker Elektrik.
Fährt so ein Sturm im 7. Stockwerk
durch undichte Fenster, dann beben
Glühbirnen und verwelkte Blumen.

Oder ich lasse sie noch eine Weile,
Ranunkeln aus Parsippany, Dahlien
aus Wayne, sollen sie herumstehen.
Selbst Sterne verblühen, Köpfchen
schrumpeln. Schau nur, sie zittern.
Denk dir: am Hudson der Wind, als
die Fähre sie brachte. Und so leer
das Zimmer – sie haben gewartet.

*


09.09.2008 05:17:06 

Hyänen


Wenn man mich holte,
an einem trüben Nachmittag,
um den Höllenhund auszuführen,

würde mir einsilbig Persephone,
beschäftigt, den Winter zu erfinden,
den Köter der Unterwelt überlassen,

ich bräuchte drei Leinen, festes Leder,
für seine drei Hälse, eh es hinaufginge
ans Licht und Richtung Central Park.

Das linke Gesicht das einer Tüpfel-,
das rechte einer Schabrackenhyäne,
ist das kleine in der Mitte ein Erdwolf,

und bestimmt wäre es mir das liebste.
Schnappt nicht, kichert nicht unentwegt,
verschmäht Bobtails oder eine Joggerin,

leckt vom Taxifenster nur Gewitterfliegen.
Wie ihn rufen, und die zwei im Blutrausch,
im Federnregen am Bethesda-Brunnen?

Jeder Buchstabenklang sei ein Retter.
Singen müsste ich, ohne Anklage, süß:
Zerberus, Kerberus, Cerberos – bei Fuß.

*


28.08.2008 18:29:20 

Echo


Das Fahrrad, an dem der Scheinwerfer fehlte,
lehnte am Zaun, am Lenker zwei Spiegel.
Täglich über den Moränenhügel
kam die Sonne und quälte
mit ihrem wärmenden Licht.
Da stand er, die Augen gesenkt,
Fliegen verjagt. Fliegen irren sich nicht.
In der Baumschule hat sich ein Junge erhängt.
Altes Transistorradio, fleckig von Urin.
Verkohlte, verrenkte Tiere
im erloschenen Kamin.
Vogelmiere, Vogelmiere.
Dunkler Wagen schob das Heck an den Baum.
Erinnerung, Echo, Tiefe, Traum.

*

26.08.2008 14:28:30 

Ein postkartengroßes Tuschbild


„Gewitter, dahinter die Sonne“ nennt meine Jüngste ein postkartengroßes Tuschbild, das sie binnen zweier Minuten aus zwei schwarzen horizontalen und je einem schwarzen und gelben vertikalen Balken gemalt hat, als sie drei Jahre alt war. Sie schenkte mir das Bild, und ich stellte es auf ein Küchenbord, wo seine an eines jener abstrakten Gesichter Jawlenskis erinnernde Expressivität jedem, der seither zu Besuch kam, ins Auge fiel, so dass ich auf Fragen wie: wer es gemalt habe und was es bedeute, in den letzten Jahren bestimmt ein dutzend Mal antworten musste.
Auch Julika fragte mich das kürzlich, und als ich ihr sagte, dass sie selber das Bild vor zwei Jahren gemalt und wie sie es genannt habe, wollte sie es zurück haben. Dass es ein Geschenk war, sah sie immerhin ein, bestand aber darauf, das Bild zu kopieren. Sie versuchte es mit Filz- und mit Buntstiften, war enttäuscht und unzufrieden, und gab die Arbeit schließlich auf. Als ich sie daran erinnerte, dass sie „Gewitter, dahinter die Sonne“ seinerzeit getuscht hatte, nahm sie ein frisches Blatt und malte das Bild binnen zweier Minuten neu, größer, klarer, wirklicher, tatsächlich einen schwarzen Gewittersturm über einer schwarzen See mit einer unbegreiflich gelben Sonne dahinter, die Trost spendet und einen Neuanfang verheißt.
Auch die Kopie, gemalt mit fast fünf Jahren – heute hat sie Geburtstag–, ließ sie mir hier, Julika hat nicht wieder nach dem Bild gefragt. Immer, wenn ich es sehe, stehe ich rätselnd davor.

*


19.08.2008 19:04:13 

Samstag


„Du wirst ausradiert wie eine faule Unterschrift“, schreibt Raymond Chandler, wohingegen es fast rührend hilflos klingt, was ich in Ian McEwans „Saturday“ von einem Straßenreiniger lese: Henry Perowne, Neurochirurg und Hauptfigur, glaubt sich für einen schwindelerregenden Moment mit ihm verbunden, ganz so, „als säße er mit ihm auf einer Wippe, die jeden ins Leben des anderen kippen lassen könnte.“ Es war tatsächlich Samstag, als ich das in der Bahn las, nur ein paar Minuten, nachdem ich fassungslos, gnadenlos mitangesehen hatte, wie dem Spiegel eines Fotoautomaten im Hauptbahnhof ein Entstellter, ein Irrer, offensichtlich um ein Vielfaches geistesgegenwärtiger als ich, die ganze Pein seiner Hässlichkeit zubrüllte.

*


15.08.2008 11:34:58 

Ein grünes Feld


Kürzlich in der Werkschau der Gemälde von Mark Rothko stand ich in der Hamburger Galerie der Gegenwart vor dem 1955 entstandenen Bild „Erdbraun und Grün“, das vor blauem Hintergrund die beiden titelgebenden Flächen zeigt: Ein erdbraunes Viereck scheint zu schweben über einem größeren grünen darunter. Andere Bilder von Rothko erschienen mir ausdrucksstärker. Sie bewegten oder verstörten mich durch ihre Kontraste und Zusammenspiele mehr als dieses, und dennoch zog „Erdbraun und Grün“ mich so magisch an und setzte in mir eine so sanfte Verzweiflung frei, dass ich rätselnd vor dem Bild stehen blieb, bis mir auffiel, wieder einfiel, was ich darauf sah.
Ich hatte dieses Grün zuvor nur ein einziges Mal gesehen. Auf einem Feld am Waldrand von Escheburg, einem Pendlerdorf östlich von Hamburg, wo ich bis 1988 lebte, wogte in jedem frühen, nicht zu heißen, nicht zu feuchten Sommer „das trabende Gras“, wie ich es nannte, wenn dort Wind über die Halme strich. Das Stück Feldmark, das es nicht mehr gibt, ein Golfplatz ist dort gebaut worden, war sattgrün, so leuchtend wie dunkel: Ging ich mit meinem Hund über die Redder an dem Feld entlang, dann drang dieses sich wiegende Grün im Schatten der Laubbäume unter dem weiten Himmel in mich ein, ich wurde selber so grün, selber zum Feld. „Gras“ ist für mich seither ein utopischer Begriff.
In seinem Band „Ripostes“ veröffentlichte Ezra Pound 1912 ein Gedicht, das ich seinerzeit oft las: „Portrait d’une femme“ ist eines der schönsten in Pounds Frühwerk. In unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Escheburger Feld lag damals ein kleines um-zäuntes Areal am Waldrand, auf dem eine verfallene, abends in vielfältigen Farben schimmernde Wellblechbaracke stand. Irgendwann schrieb ich eine Variation auf Pounds Gedicht und nannte sie „Portrait d’une baraque“, ein Gedicht, an das ich keine nähere Erinnerung habe und das ich in alten Ordnern nicht mehr finde. Sehe ich mir Reproduktionen von Mark Rothkos Bild an, kommt es mir vor, als würde die erdbraune Fläche über dem größeren, dem grünen Feld auch für diese nun doppelt verschwundene Baracke stehen – Anlass genug für mich, mein Gedicht über sie noch einmal zu schreiben.

*

Portrait d’une baraque
Nach Ezra Pound

Dein Kopf war ich, du mein Sargassomeer,
auf Jahre sandte dir mein Hafen Schiffe
und glänzte mit Tribut für dies und das vor dir:
Ideen, Klatsch, Ramsch alles Wissenswerten,
das ich dir als begeisternd unterschob.
Idiot war ich – kein andrer suchte dich.
Du warst von Anfang an das Letzte. Tragisch?
Nein. Das Gewöhnliche war dir viel lieber:
ein düstrer Spund, blauäugig, abgestumpft,
Hirn Durchschnitt – jährlich ein Gedanke futsch.
Oh ja, du warst geduldig, Stund um Stunde
standst du, wo was vorübertreiben könnte.
Da kam ich, wollte was. Und du gabst reichlich.
Du hattest mich interessiert, ich schlich zu dir
und kriegte wunder was dafür:
vom Wind Gefischtes, sonderbare Winke,
Tatsachendachpappe, ein, zwei Geschichtchen,
so muffig wie Alraunen, was auch immer
dort nützlich an dir schien, nur es nie war
und nirgends Platz und keinen Nutzen hatte,
zu keiner Stunde im Verhau der Tage:
Ein morscher, bunter, wundervoller Schrott.
Figuren, Schmierfett und Emaillereklamen –
das war dein Schatz, sein Höker du. Und doch,
dies ganze Schiffswrack aus dem Laub der Dinge,
aus halb durchweichtem Holz und frischem Talmi:
Im müden Strom, wo Licht und Tiefe wechseln,
nein, da war nichts in diesem Wellblechhaufen,
nichts, das du ganz besaßt –
                                         Doch das warst du.

*



08.08.2008 12:28:51 

Vollendete Einladung


Da komme ich angerannt von der Ostsee und krieche – alt und müd – die Alpen hinan, die Höhe der Alpen, um Dich, lieber Andreas, einzuladen, wo Du doch längst angeregt am Plaudern bist.
Willkommen also!, schnaufe ich, willkommen, Andreas Münzner. Schön, das fein gesetzte Flimmern Deiner Wörter nun auch hier lesen zu können.

*

04.08.2008 11:46:16 

Argus


Manchmal war kaum Zeit
Schnürbänder zu wechseln,
über Stufen, Fußweg, Kiesel
und das Lieblingspaar Schuhe
wachte die Ruhelosigkeit.
Und Schlaf folgte Täuschung,
dem Übermut blühten Ähren:
Schuld, von ihr schnitt man
die Ernte: Tränen. Aischylos
aus dem Krieg heimgekommen
schrieb vom Krieg mit den Persern,
aus dem Büro heimgekommen
schreibe ich von Aischylos,
erschlagen von einer Schildkröte.
Unsere Müdigkeit, dieselbe,
ich binde mir die Schuhe,
und ein Schnürsenkel reißt.
Auf der Couch lümmelt Argus,
zwei Augen studieren Bilder
von New York und Connecticut,
achtundneunzig bewachen mich.
Ich kann nicht täglich Flöten kaufen,
alles Einlullende macht er kaputt.

*

23.07.2008 10:09:27 




Electric President, Grand Machine No. 12

Für Hendrik


*

16.07.2008 13:25:34 

Warum schenkte Franz Kafka einmal Max Brod zu dessen Geburtstag einen Kiesel?


Es liegt nicht in mir, es liegt im Anderen das dritte Auge, oder es liegt dazwischen. Es verbindet mich und mein Gegenüber unsichtbar, sonderbar, indem wir beide nicht denselben, doch den gleichen Blick haben dürfen.
Hendriks Gedicht "Das dritte Auge", über das Sylvia nachdenkt – es steht hier im Archiv –, beginnt mit einer Körper- oder Hirnerfahrung, die jeder kennt, Hendrik nennt sie "Eiskremkopfschmerz": Die Kälte der Eiscreme brennt sich rätselhaft ein in den Kopf und schmerzt zwischen den Brauen. Der Schmerz erinnert Hendrik an ein Bild aus seiner Kindheit: Aus Liebeskummer schoss sich ein Junge namens Gumbold, Sohn des Konditors, wo es Eis gab, nicht in, sondern durch den Kopf – wobei das Gedicht offen lässt, ob der Junge starb oder erblindete. Blind jedenfalls liebte er, und blind war auch das Ich, das sich da erinnert: das "Gumbold" stets für eine Art Kobold hielt und erst viel später entdeckte, dass der Name hugenottischer Herkunft ist und abstammt von "Gumbault". Die Eiscreme wird so zur Madeleine, der proust'sche Schmerz im Kopf öffnet das dritte Auge – eine verbindende, verbindlichere Erinnerung. Dreierlei macht sie mir gewisser: mich selbst mit meinem Körper; die Welt und ihr Gesetz vom Verschwinden; den anderen Jungen, aus dem weiß Gott was wurde: ein blinder Konditor vielleicht, womöglich schon lange verheiratet mit dem Mädchen, dessentwegen er sich einst durch den Kopf schoss. Sicher scheint nur, dass er auch ich hätte sein können.
Bei Egon Friedell las ich kürzlich, die alten Griechen glaubten, Pferde könnten in die Zukunft sehen. Für göttlich hätten sie Hunde mit vier Augen gehalten: Hunde mit andersfarbigen Fellflecken auf der Stirn. Und von einem dritten Auge weiß auch Zbigniew Herbert, mit dessen Gedicht "Kiesel" ich (es) schließe:

Der kiesel ist als geschöpf
vollkommen

sich selber gleich
auf seine grenzen bedacht

genau erfüllt
vom steinernen sinn

mit einem geruch der an nichts erinnert
nichts verscheucht keinen wunsch erweckt

sein eifer und seine kühle
sind richtig und voller würde

ich spür einen schweren vorwurf
halt ich ihn in der hand
weil dann seinen edlen leib
die falsche wärme durchdringt

– kiesel lassen sich nicht zähmen
sie betrachten uns bis zum schluß
mit ruhigem sehr klarem auge

*


10.07.2008 15:00:11 

Post von Penelope


Die blau in blaue Karte: Es ist ihre Handschrift.
Ich sehe es ja ein, unnütz vergöttert hab ich sie.
Die Stimme allerdings, und dieser Schlafgeruch,
was glaubst du, weshalb ich so lange fort blieb.
Wär ich ein Hund wie du, ich sähe sie nicht an.
Ich liefe ihr davon, ich spränge in die See und
triebe es mich auch zurück ans Ufer von Aiaia.
Und käme sie im Boot, ich ließe mich nicht retten.
Immer seh ich sie im Meer, was soll ich machen.

Du weißt es nicht. Du schläfst. Du bist ein Hund!
Ich sehne mich nach ihrem Haar. Es schimmert,
wie die Ägäis nachmittags. Bewundert? Sie hat
den sechsten Sinn, ich nur den vierten, zweiten,
wo eine Zukunft für sie war, sah ich Sekunden.
Ja, sie schrie oft. Morgens roch sie wenig gut.
Und doch, mein Argos, immer sah ich sie mit dir
schwimmen in der Bucht. Sie hat’s dir nie gesagt?
Ein jeder kann in ihren Augen sofort untergehen.

*


04.07.2008 20:15:18 

Dr. Kaesbohrers Puppe, Kafka, meine Töchter und ich


Während längerer Autofahrten wie kürzlich von Kiel heim nach Hamburg ist es nur eine Frage der Zeit, bis meine Tochter Sonia zu mir sagt: "Papi, Papi, erzähl uns eine Geschichte wie früher die mit dem Pferd und dem Baum und dem See, wo sich alles verzaubert" – eine Geschichte, an die ich mich leider nicht erinnere. Stattdessen erzählte ich meinen Töchtern eine Geschichte, die ich einmal ins "Forum der 13" gestellt habe, vor fünfeinhalb Jahren, als meine Jüngste noch gar nicht auf der Welt war.
Hier ist sie:

"Dr. Kaesbohrers Puppe

Zwei schöne, ineinander greifende Geschichten über Kafkas Leben in Berlin berichtet Mark Harman in der aktuellen Nummer von 'Sinn und Form'. Die erste wurde überliefert von Kafkas letzter Lebensgefährtin Dora Diamant; mit ihr war Kafka unterwegs in einem Berliner Park, als sie ein Mädchen trafen, das seine Puppe verloren hatte. Kafka beruhigte das Kind, indem er ihm erzählte, es solle sich keine Sorgen machen; die Puppe habe ihm einen Brief geschrieben, darin erkläre sie alles über ihr plötzliches Verschwinden. Da das Mädchen verständlicherweise den Brief lesen wollte, versprach Kafka, am nächsten Tag wiederzukommen und das Puppenschreiben mitzubringen. Dora Diamant berichtet, Kafka habe fortan tagtäglich einen neuen Brief im Namen der Puppe verfasst. Darin berichte die Puppe ihm, dass sie geheiratet habe und deshalb fortgezogen sei.
Es gab mehrere Versuche, das Mädchen von damals per Annonce ausfindig zu machen; heute wäre es über neunzig Jahre alt. Allein, die 'Herrin der Puppe, die wegzog zu Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande' hat sich nie gemeldet.
Dafür jedoch eine andere heute über 90-jährige Dame; sie berichtet, dass Kafka in Berlin im Haus ihrer Mutter zur Untermiete gewohnt, dass er sich jedoch Dr. Kaesbohrer genannt und im Keller mit chemischen Präparaten experimentiert habe."

Natürlich, aus Spannungs- wie aus erzieherischen Gründen erzählte ich meinen Töchtern nicht, wer die Briefe an die Puppe schrieb, erzählte auch nichts von "Sinn und Form", "Mark Harman" oder "Kafka", den ich nur "ein Mann" nannte. Sondern ich fragte Sonia stattdessen, wer ihrer Meinung nach die Briefe an die Puppe wohl geschrieben haben könnte.
Ihre Antwort war so einfach wie verblüffend, und in gewisser Weise hat sie recht damit: "Du."

*

03.07.2008 12:50:51 

So long


Arne Rautenberg verlässt den Goldenen Fisch. Damit bricht ein ganzer Rand weg und geht dem Projekt "Dichten im Internet" ein gutes Stück mehr die Luft aus.
Am 27. September 2000 schrieb Arne im "Forum der 13":

"Madonnas aktuelle Stilisierung als Cowgirlie. Das Booklet zur neuen CD strotzt nur so von Stroh. Weitere Requisiten: Cowboyhut, Paillettennieten, Jeans, Gitarre, Metallbeschläge, Lasso, Michshake etc... Western: Der pragmatischste Mythos Amerikas. Die territoriale Erdung einer Pop-Ikone oder ihre Form der Danksagung an die Supermacht, die sie schuf. "Music makes the Bourgeoisie and the Rebel come together" - ich frag mich bloß: Wo ist hier der Rebel in der Chose? Und dann denke ich dies: Welchen popkompatiblen Mythos könnte Madonna hier adaptieren? Außer dem Nibelungenlied (Kriemhild oder Brünhild?) will mir partout nichts einfallen (vielleicht im Bundeswehrdress am Oderbruch) - der Popmythos scheint mir in diesem Land hoffnungslos verloren. Wohl besser so, oder nee, schade eigentlich."

Dies nur mal eingespielt als Abgesang. Vielleicht grölt einer dazu? "Schwarz-rot-goldne Invasion, Invasion, Invasion ..." Oder auch: "Wer nicht hüpft, der ist kein Deutscher, wer nicht hüpft, der ist kein Deutscher" ... Das Tumbe greift um sich, die U-Bahnen beben, "Triumph deutscher Effizienz" titelt spiegelonlein, das Schnarchen muss lauter gestellt werden.
Arne, Du wirst hier fehlen. So long!

*

26.06.2008 15:28:25 

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