ein bild

Drei Tage in Greifswald


Am Ende der Kopfsteinpflasterallee
steht eine Linde. Männer auf Leitern
klettern durch ihre Krone und sägen,
und Krähen kommen und setzen sich
auf den Kran. Diese Linde stand hier,
als Friedrich und sein Bruder als Jungs
zum überfrorenen Fluss hinuntergingen,
Schlittschuh laufen, und stand hier noch,
als meine Großmutter in die Stadt kam,
schwanger mit meiner Mutter, schwach
von der Typhus und der Baracke in Lodz.
Nichts friedlich, nichts sonnig, jeder Tag
wie ein Zahnarzttermin im Freien in den
Lücken der in Klump gegangenen Häuser.
Hier kam meine junge Großmutter durch
auf der Flucht vor den Russen im letzten
Panzer aus Litzmannstadt, wie sie sagte,
mit Merri, der Tochter des Metzgers,
deren Haar in einer Nacht weiß wurde.
Mach dich vertraut mit einem grünen
Fleck, sieh ihm zu, und er verschwindet
unter Stein und Beton oder, schneller,
in deinen eigenen Augen, sagte sie,
und liebe jemanden, lieb ihn innig,
und er wird zum Bild, wo er verblasst
und sich bald nichts mehr befindet.
Am Ende der Kopfsteinpflasterallee
rauschend im Wind und in dem Nebel
der Baum, noch grün, mit seinen drei
Vornamen Friedrich David Caspar.
Man meint, einen Esel zu hören,
doch es sind bloß eine Schaukel,
ein Kind allein auf einer Schaukel,
die schreit, und Ohren eines Esels.
Ein Boot kommt herein auf der Ryck.
Am Ende der Kopfsteinpflasterallee
der Baum, der Bodden, die hellgrauen,
die dunkelgrauen und die nebelgrauen
Streifen, wie Friedrich sie gemalt hat,
die Linden, wie sie aus der See ragen.
Unsichtbar ist das Meer in Greifswald,
und überall die Nebelkrähen, sagte sie.
Der Junge lief Schlittschuh im Nebel
über dem Meer und sah zu im Nebel,
wie sein Bruder ertrank in dem Nebel.

30.10.2007 20:53:32 

Finnischer Prospekt


Herrlichkeit, der alte Niederhafen,
wo mein Cousin in der Zeit Runge
lebte und heute auf dem Architrav
am Vorsetzen lang die eiserne Lunge
der U-Bahn in die Einkauf-City keucht.
Schuten voller Astwerk. Vier Tauben
flattern auf überm Fleet, und vielleicht
weiß ich, wohin es mich zieht, nur glaube
dem breiigen Prospekt nicht: Ferne, Magie,
"Reisen und Rätsel" – es gibt kein "Helsinki".

23.10.2007 11:37:51 


Der Text wurde autorisiert gelöscht am 23.10.2007 11:37:13.

22.10.2007 10:51:59 

Geheimnisse und Lacke


Um dich dafür zu rächen, was willst du tun?
Du musst versuchen, sein Herz zu rühren.
Ihm zu Ehren kreiere eine spezielle Suppe.
Lache und weine und hab Angst und so fort.
Der Morgen verstreicht, der Abend verstreicht.
Nicht einmal ein Schauer
in diesem Klima, wo Kirschen niemals reifen.
Gib bitte alle Hoffnung auf, meine liebe Freundin,
und allem voran: die linde Luft der Verblüffung.

Emma Lew


16.10.2007 15:19:58 

Kondopoga


Anfang Oktober, Winterbeginn,
Birkenmoore, Birkenmoore
im Dunst der Zellulosefabrik,

die Girlies auf Glitzerpumps
stöckeln über Schlaglöcher
zu einer Rostlaube im Vorgarten.

Da sitzen sie, dem Suff ergeben,
den Wolgas, mit Schäferhund
mittags vor der Baracke am See,

zehntausende Seen grau und leer,
groß wie ein Meer ist der Onega
und Murmansk einen Tag entfernt.

Oben bei der Holzkirche am Wasserfall
tosten zu Parteizeiten Baumstämme
donnernd wie Panzer die Suna flussab,

wo jetzt der Ministerialbau steht,
wuchsen Hagebutten und Heckenrosen,
so war es, aber jetzt ist es anders.

Eine Elchkuh ertrinkt, dazu fiept
eine elektronische Autotürverriegelung,
und der blaue Trolleybus wankt vorbei.

13.10.2007 22:28:20 

Herbst in St. Petersburg


Regen am Winterpalast.
Ich sehe die Newa:
Ich stehe am Fenster
und denke an Charms,
der verhungert ist hier.
Er stand am Fenster
und er sah die Newa:
Regen im Sommergarten.
Lauter alte Frauen
fielen von den Dächern,
eine nach der anderen
so schön und golden
wie die Blätter im Regen
am Nevskij Prospekt,
wo es keine Bäume gibt.
Alle fallen. Alles ist gut,
so lange es fällt und
Herbst wird in Piter.

Arne Rautenberg zum 40.

10.10.2007 11:02:42 

Freigeist vergreist




25.09.2007 10:51:05 

Belvedère


Ich weiß dass das Wälder sind,
Bäche, Wiesen, Dörfer, und dass
ich sie liebe, ich weiß das,

sogar beständig mehr als jetzt, so
wie ein Vogel sein Nest liebt,

nicht für immer. Ich seh deine welken
Finger auf dem Geländer, den grauen
Federflaum flattern an deiner Schläfe,
die Krähenfüße in deinem Augwinkel,

Liebling, siehst du wie still und fern
die Welt jetzt ist, wie sich nur noch
die Schatten der Wolken bewegen,

spürst du wie du nur noch den Wind
spürst. Es kommt eine Zeit und wir
sind wieder Vögel, wie früher,

zur Zeit als wir noch nicht da waren.

Rutger Kopland

21.09.2007 14:23:04 

Junger Salat


Alles kann ich vertragen,
das Verdorren von Bohnen,
sterbende Blumen, dem Umgraben
von Kartoffeln kann ich trockenen Auges
zuschauen, da bin ich wirklich
hart im Nehmen.

Aber junger Salat im September,
gerade gepflanzt, zart noch,
in feuchten kleinen Beeten, nein.

Rutger Kopland

19.09.2007 14:02:46 

Zwei Männer lächeln


James Gatz: Er lächelte verständnisvoll – ja geradezu verständnisinnig. Es war ein Lächeln, das einen endgültig beruhigte und begütigte; ein Lächeln von jener seltenen Art, wie man es nur vier- oder fünfmal im Leben antrifft. Es umfasste – zumindest schien es so – für einen Augenblick die Welt als ein Ganzes und Ewiges, um sich dann mit grenzenloser Zuversicht dem Menschen zuzuwenden. Dieses Lächeln brachte einem gerade so viel Verständnis entgegen, wie man sich wünschte; es glaubte an einen, wie man selbst gern an sich glauben mochte, und es bestätigte einem genau den Eindruck, den man bestenfalls zu machen hoffen konnte. Genau an diesem Punkt verschwand das Lächeln.
Monroe Stahr: Stahr lächelte. Es war ein wohlwollendes väterliches Lächeln, das er sich paradoxerweise zugelegt hatte, als er, noch jung, in hohe Stellungen gelangt war. Ursprünglich war es ein achtungsvolles Lächeln gegenüber seinen Vorgesetzten gewesen, aber als dann seine eigenen Entscheidungen rasch an die Stelle der ihren traten, diente das Lächeln dazu, es sie nicht fühlen zu lassen – und schließlich entpuppte es sich als das, was es war: ein Lächeln aus Freundlichkeit – manchmal etwas gehetzt und erschöpft, aber immer parat für jeden, über den er sich zur Stunde nicht gerade geärgert hatte, oder für jeden, den er nicht gerade vorsätzlich zu attackieren und zu beleidigen gedachte.
Das Lächeln, weiß Stendhal, erscheint außen auf der Haut.
Monroe Stahr, die Hauptfigur aus F. Scott Fitzgeralds letztem, unvollendetem Roman "Der letzte Tycoon", lächelt, will mir scheinen, jenem James Gatz zu, der sich später Jay Gatsby nennt und den Fitzgerald in "Der große Gatsby" beschreibt. Ist das möglich? 16 Jahre liegen zwischen dem Gatsby von 1925 und dem Tycoon von 1941. Zwei Männer lächeln – es gibt keine vergleichbaren Passagen in den beiden Büchern. Lächelt Gatsby, um nicht zu werden wie Stahr? Und lächelt Stahr, indem er sich erinnert an jenen James Gatz? Sind es wirklich zwei, die da lächeln?

14.09.2007 23:23:45 

Schnarche Noah (Bug)


ssssssssssssssssssssssssssssssssss
sssssssssssssssssssssssssssssss
sssssssssssssssssssssssssssss
ssssssssssssssssssssssssss
sssssssssssssssssssssss
sssssssssssssssssss
ssssssssssssssss
sssssssssssss
sssssssssss
ssssssss
ssssss
sssss
ssss
..............................................................

07.09.2007 17:35:54 

I cavalli di Leonardo


Alle die Skizzen, die er hinterließ –

endlose Reihen von Wiederholungen: Muskelstränge, Sehnen,
Knochen, Gelenke, die gesamte Maschinerie
aus Treibriemen und Hebeln womit
ein Pferd sich bewegt,

und aus tausenden haarfeinen Linien fast unsichtbar
sacht in das Papier entschwindende Haut
aus Ohrmuscheln, Augenlidern, Nasenflügeln,
Haut der Seele –

er muss herauszufinden versucht haben wie ein Pferd
gemacht wird, und gesehen haben
man schafft es nicht,

das Geheimnis eines Pferds Gestalt annehmen zu lassen
unter seinem Zeichenstift.

Machte die prachtvollsten Abbildungen, besah sie,
verwarf sie.

Rutger Kopland

01.09.2007 22:30:17 

Sie flogen mich mit der Concorde aus Paris ein


Sie flogen mich mit der Concorde aus Paris ein.
Wir hatten Glück, dass wir nicht verbrannt sind.
Über Shanghai sagte ich zu meinem Flötistengatten:
”So eine Riesenstadt braucht ein anständiges Opernhaus.”
Ende Mai ließ er mich sitzen.
Ich beschloss, Gefühle künftig durch meinen Garten auszudrücken,
Mit einem Laubengang aus Zucchinis und Gurken,
Einem Beet für Apothekerrosen und ertragreichen Grassamen.

Auf dem Parkplatz des Instituts für Raumforschung
Probten Arbeiterinnen ihre Rolle, den halben Himmel hochzuhalten,
Während Reedereien über Getreidereserven klagten,
Die den Ankerplatz verschlammten, und der Sputnik immer bloß piepte.

Ich logierte mit einem älteren Regierungsbeamten in vier eleganten Pavillons,
Benannt nach vier Jahreszeiten und geschmückt mit Schafskadavernachbildungen.
Es war nahezu undenkbar, nichts zu geben,
Aber ich hatte keine harte Währung und konnte mir Verhütungsmittel nicht leisten.
Daher nahm ich im Winter ein Tonikum, um im Frühjahr Tiger jagen zu können.

Ich hielt meine Antrittsrede in der Großen Halle des Volkes.
Indem ich aus der Schrift von den Bergen und Meeren zitierte,
Berief ich mich auf die Stahlarbeiter und kam auf den Lamaismus zu sprechen.
”Fangen wir an ruhiger zu werden!”, rief ich.
”Weg von der Malerei und hin zum Banking.
Unterschiede sind für Gemeininteressen zweitrangig,
Sie sollten bilaterale Bindungen nicht grundlegend berühren.”

Ich erntete Beifall von Reformern wie Konservativen.
Sag das der Dame im Leichenkeller.
Und sage ihr auch:
”Wenn Sie es in den Himmel schaffen,
Bekommen Sie vielleicht ein paar Antworten.”

Emma Lew

21.08.2007 13:29:52 

Open the Door!


Als ich vor ein paar Wochen quer durch Holland, Belgien und Nordfrankreich fuhr, von Duisburg nach Maastricht und weiter nach Namur, Charleroi und Mons, dann an Reims vorbei, an Compiègne, über die Somme und hinein ins Oise-Tal, um nach Auvers zu kommen, an van Goghs Grab, da hörte ich, um es kurz zu machen, im Auto immer wieder eine CD und davon immer wieder einen Song, der mir nicht mehr aus dem Sinn ging. Ich hörte "Neon Bible" von Arcade Fire, als ich in der Nachmittagshitze von Auvers-sur-Oise weiterfuhr, südwärts, im Westen vorbei an Paris, nach Versailles, wo mein neuer Roman spielen soll und wo ich auf die Jagd nach Straßennamen und Häuserfassaden und vor allem Gesichtern gehen wollte, und ein paar Tage später, als ich das Schloss gesehen hatte und in den Schlossgärten gelustwandelt war und nach Paris hineinfuhr, vorbei an La Défense, dann über die Seine und auf der Périphérique bis Montmartre, hörte ich es wieder: It's in the Neon Bible … the Neon Bible … not much chance for survival … if the Neon Bible is right ... bis ich in der Nähe der Place Pigalle den Wagen abstellte und zu Fuß weitermarschierte zu dem Aufzug, der mich hinaufbringen sollte zur Basilika von Sacre-Coeur. Der Lift war gesperrt, Polizei riegelte ihn ab, und so stieg ich zu Fuß hinauf durch das Plätze- und Gassenlabyrinth, und erfuhr oben, auf einer der Treppen unterhalb Sacre-Coeur, wo eine Band Reggae spielte, dass andere Musiker – kanadische – den Aufzug okkupiert hätten und dass sie alle verhaftet worden seien.



20.08.2007 12:59:52 

Ews Bressli


Meine Großmutter wurde 1920 in Chemnitz geboren. Ich habe sie selten, sehr selten weinen gesehen. Sie weinte vor anderen Leuten nur, wenn sie wütend auf diese Leute war. Zum Beispiel, als wir sie aufzogen beim Trivial Pursuit, nachdem sie die Frage gestellt hatte: "Welcher Vulkan legte Bombay in Schutt und Asche?"
Wie hieß der große indische Vulkan doch gleich?
Wie hieß er, wie hieß er?
"Indisch?", fragte meine Großmutter. "Seit wann lag Bombay in Indien?"
Bombay, stellte sich schließlich heraus, stand, sächsisch ausgesprochen, in Wahrheit für Pompeij.
Meine Großmutter weinte fast immer, wenn wir sie noch 20 Jahre später damit aufzogen: "Welcher Vulkan, Oem, legte Bombay in Schutt und Asche?"
Es muss 1977 gewesen sein, als Oem weinend das einzige Mal, an das ich mich erinnere, in mein Kinderzimmer kam. Ich hatte ihr nichts getan, ich war 12, aber sie weinte.
"Ews Bressli ist gestorben", sagte sie und sah nach, ob mein Fenster auf Kipp stand.

16.08.2007 15:17:41 

The Whitest Boy Alive




Am Freitag, den 17. August, spielen The Whitest Boy Alive auf dem Dockville-Festival in Hamburg-Wilhelmsburg ( www.dockville.de ).

14.08.2007 09:45:52 

1975


An einem Tag wie diesem
im Sommer, als du zur Welt kamst,
stürzte ich in ein leeres Schwimmbecken
und fuhr mit einer Gehirnerschütterung heim.

Nach fünf Jahren seiner Unsichtbarkeit
saß dort auf der Couch mein Vater,
und als ich ihm die Hand gab,
war meine Kindheit vorbei.

Anderthalbtausend Kilometer entfernt
kamst du zur Welt und wusstest von mir
so wenig wie ich von dir. Gleichgültig
war mir schon da, wieso in aller Welt du.

Lächelnd verscheuchst du mir alle Spinnen.
Zwischen zwei Ampeln sagst du Dinge
zum Weinen, und mir ist dann, als tauche ich
in das Schwimmbecken von damals und schwimme.

13.08.2007 10:56:15 

Plorn


Dickens’ zehntes Kind mit der Flinte
Der Einfachheit halber genannt Plorn
Wie das Knarren eines in die Gasse biegenden Karrens
Rappen, die ausrutschten und in der Luft standen
Zwei beieinander im Dunkeln, zwei Opfer
So niedergeschlagen, wie sie waren
Ihr Unglück eine Brandung, sie sprangen hinein
Aber war das er, wirklich sie
Ihr Unglück eine Brandung, sie sprangen hinein
So niedergeschlagen, wie sie waren
Zwei beieinander im Dunkeln, zwei Opfer
Rappen, die ausrutschten und in der Luft standen
Wie das Knarren eines in die Gasse biegenden Karrens
Der Einfachheit halber genannt Plorn
Dickens’ zehntes Kind mit der Flinte

10.08.2007 11:00:03 

Wilde Erdbeeren


Bergman

Tack ska du ha, Ingmar Bergman.

30.07.2007 11:33:49 

Einmal, nie


Einmal, nie,
zweimal, nie,
so pocht es
und rauscht.
Ein Schlag, Pause,
zwei, und wieder.

Seltsame Ferien
des Herzens. Ein-
mal, nie, der Wind,
zwei, die Blicke.
Ich sehe, bin blind,
sehe dich wieder.

29.07.2007 02:21:00 

   3 4 5 6 7   
counterreferrer