- weniger vorstellbar
gerade noch dieser fußboden: nicht mal
vergessen werden
geschweige denn entfallen können so gut
wie himmlisch
der übergang in fleisch und blut.
13.05.2008 18:22:02
manara
und der vogel, der die citadelle durch ein turmfenster enterte, war sicher nicht der vogel, eben noch in einer hand, aus der man ihn nicht wird auffliegen sehen
20.05.2008 19:42:54
Manara
Drei Tage im Voraus seien die Schiffe zu sehen
gewesen - „at an ancient speed“ - und alles lacht,
mit der Nachsicht der Langsamen von morgen.
Durch die Scharten strömt Mittagsluft, weißes
Pech, wer wünscht sich da nicht eine Stunde zurück,
in die Katakomben, zum gemalten Schattenreich
unter Alexandria, wo die Seelen Vögel
kurz vorm Abflug bleiben, solange die Farbe hält.
Stufen, Stufen, das Fresko der Kletternden
aufatmend, die reine Wand des Himmels,
dem plötzlich ein Sperling entkommt.
Abgefeuert von der Feder eines Zufalls,
der ihm die Flügel an den Körper heftet,
als er eine der handschmalen Luken passiert,
so stürzt er in den Turm, und unsicher,
was tröstlicher wäre, irgendein Mut oder
die Einsicht, dass er nicht weiß, wo er ist und was
er hier tut, bewege ich mich, beweg ich mich nicht.
27.05.2008 10:40:31
nachmittag, safran
wie ihre sandhaut den kleidern sind die wörter dafür in diesem arabisch auf latein, nicht mitnehmbar und eingenäht in jeden saum
03.06.2008 17:02:12
Delta
Nach der letzten Brücke, stadtauswärts
gesehen, übersetzt die Fahrt die Landschaft
in ein Schonbild. Alle halbe Stunde
erscheint der Bauer, der mit holperndem Gerät
den Uferstreifen vorm Haus beschreibt,
gefolgt von einem Baum. Schließlich Schilf,
denkbares Rasseln. Wüst fällt der Staub
das Abteilfenster an, Finger wollen Menetekel
spielen auf der Innenseite der Scheibe. Minuskeln,
wenn der Blick nachtanzt, Haus, Bauer, Schilf,
eine Schlinge den ganzen Nachmittag. Dann
kein Baum, gesponnen aus einem Safranfaden.
Herzlich willkommen, lieber Carsten.
08.06.2008 23:01:11
Schwefel
...dass ich dabei an meine kindheit denke, an die nachbarin, die mir von der hölle erzählte, und an herbstgerüche, holzrauch, die rechenaufgaben, die ich irgendwann zwar löste, aber nicht verstand
13.06.2008 16:33:25
Barcode
für Arne
25.06.2008 21:43:34
Nicht immer...
Seit einiger Zeit schon hatte Leo das Gefühl, nicht in der Gegenwart, sondern in deren Nachbildern zu leben.
...stehen erste Sätze am Anfang. Mitunter bleiben sie gar nicht. (Und manchmal hat man auch einfach das Bedürfnis, frech zu werden!)
04.07.2008 19:50:36
Das dritte Auge
Im Zuge von Überarbeitungen älterer Gedichte aus dem Periodischen Gesang begegnete ich jetzt einem Text wieder, in dem das dritte Auge vorkommt. Nun erinnere ich mich daran, hier vor einigen Monaten ein Gedicht von Hendrik gelesen zu haben, das ebenfalls dieses Phänomen aufgreift. Ich spreche absichtlich nicht von einer Metapher oder einem lyrischen Bild, eher von einem archaischen terminus technicus, der, wie ungenügend, roh und hilflos auch immer, etwas wiederzugeben versucht, das die Organisation menschlicher Wahrnehmung aufs Engste mit den Fragen nach dem Sinn, und zwar in der Konnotation von "Zeigersinn", nach der Richtung oder An-Ordnung der Dinge verknüpft.
Was ist das dritte Auge? In dem Blei-Gedicht von vor etwa zehn Jahren taucht es - ähnlich wie bei Hendrik - als Wunde auf, wenn auch nicht als Schussverletzung, sondern als eine Art Fehlbildung, und dies wahrscheinlich (genau weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich meinte) weniger wegen des Entsetzens, das der Anblick einer Person mit einem dritten Auge außerhalb eines Science-Fiction-Films wohl auslösen würde. In dem Blei-Gedicht wird der lyrischen Person das dritte Auge "aus der stirn gesungen", ein Vorgang, der mit Korosion, mit Auflösung in Verbindung gebracht wird und mir insofern wiederum etwas mit Hendriks Gedicht zu tun zu haben scheint, wo der Selbstauslöschungsversuch der dort beobachteten lyrischen Person zwar zur Blindheit führt, aber auch lethal hätte enden können. Besonders interessant an Hendriks Gedicht finde ich das versöhnlich klingende Ende. Und auch mein Blei-Gedicht endet merkwürdig sanft: keine wünschenswerte Sache, so ein drittes Auge, die lyrische Person ergreift entsprechende Maßnahmen, um es möglichst wieder zuzukleistern (es zu heilen), jedoch mit einem tiefen Bedauern, denn nachher ist nicht gleich vorher: was sich nun, nach dem Schließen oder Heilen des dritten Auges, sehen lässt, "(sucht) seine meineide abzulegen", scheint also irgendwie unglaubwürdig geworden zu sein. Der Schlussvers versucht, einen positiven Zweifel zu formulieren: "was wenn du (es) aufmachtest unter der mennige - "
Aber: was ist das dritte Auge? In allen Weltreligionen wird es unter Zuhilfenahme verwandter Deutungen aufgefasst - die sich leider entweder überaus kärglich oder aber esoterisch ausnehmen: "inneres Sehen", "Erleuchtungssymbol" u.s.w., lauter Begrifflichkeiten, die dem Gegenstand denkbar unangemessen ins Gehege seines eigenen, nämlich durch sein bloßes Vorhandensein ausgedrückten Erkenntnishungers kommen. Erleichterung kommt auf, wenn ich bei Wikipedia lese, dass das dritte Auge in der Biologie einen als Scheitelauge bezeichneten Hirnteil meint, dessen Überrest die das Schlafhormon Melatonin produzierende Epiphyse ist, die Zirbeldrüse. Allerdings kommt mit der Erleichterung auch leise Enttäuschung auf, erst einmal.
Vielleicht ist aber die Frage falsch gestellt, vielleicht muss es besser heißen: was sieht das dritte Auge? Das Inkommensurable? Sicher, aber das klingt ja schon fast so abgeschmackt wie die oben erwähnten Wörter, oder als hätte ich beschlossen, mich künftig auf Chakramassagen zu konzentrieren. Da lese ich lieber Hendriks Gedichte. Oder Octavio Paz´ Essay Nackte Erscheinung über das Werk von Marcel Duchamp. Dort heißt es in der Vorbemerkung: "Bei erneuter Betrachtung des Gesamtwerkes von Marcel Duchamp überrascht vor allem dessen strenge Einheit. Tatsächlich kreist all das, was er schuf, um einen einzigen Gegenstand, der sich uns entzieht wie das Leben selbst."
Wie es laut Paz bei Duchamp um nur einen Gegenstand geht, entfaltet der gesamte Essay auf jeder zufällig aufgeschlagenen Seite erhellende Wirkung. Etwa in dieser Passage:
"Dies ist eines der Themen oder Achsen des Großen Glases: sie ändern ihre Form, nicht ihre Essenz. Eine universale Anamorphose: Jede Form, die wir sehen, ist die Projektion, das deformierte Bild, einer anderen Form. Die Weiße Schachtel, die zwischen Erscheinungsbild und Erscheinung unterscheidet, sagt es deutlich: Das, was wir sehen, ist fast immer das Erscheinungsbild der Gegenstände (...) Die Grüne Schachtel fügt hinzu: Bei einem Maximum an Geschick würde sich diese Projektion auf einen Punkt konzentrieren. Bei einer gewöhnlichen Geschicklicheit wird diese Projektion eine Demultiplikation des Zieles sein. (...) Die Grüne Schachtel sagt, daß "die Distanzquote", das heißt die mehr oder weniger große Entfernung des Ziels bei jedem Schuß, "nur eine Erinnerung" ist. Eine seltsame, hermetische Affirmation, die jedoch verdeutlicht werden kann: Das, was wir sehen, ist nur die (vage ungenaue, ungetreue) Erinnerung an das, was wirklich ist. Wissen ist Erinnerung. Und es ist liebende, sehnende Erinnerung. Die wahre Wirklichkeit entzieht sich, nicht weil sie sich ständig verändert, sondern weil sie einer anderen Sphäre, einer anderen Dimension angehört." (Kursive Stellen und Anführungen lt. Paz)
In diesen Ausführungen über Duchamps Großes Glas treten Elemente auf, die auch in den erwähnten Gedichten mit dem dritten Auge vorkommen: der "Schuss", die rückführende Konzentration der Projektion "auf einen Punkt", also die Einschuss- oder Korosions- bzw. Auflösungswunde.
Das dritte Auge stellt womöglich ein Instrument dar, das die "gewöhnliche Geschicklichkeit", von der Paz spricht, steigert. Ein Okular, gerichtet auf die "allgemeinen Geheimnisse" (H.R.). Oder eines, das die "Sphäre" wechselt, in ein eigenes Element, das man mangels maximaler Geschicklichkeit zwar nicht ein- aber immerhin zweidimensional fassen könnte: die des Bildes. Oder der Schrift. Das dritte Auge, das ist - manchmal - ein Gedicht. Oder noch anders: ein Gedicht kann das dritte Auge ersetzen, dieses schmerzliche (erblindete oder geschlossene), doch so notwendige Organ, dessen Narbe jeder in Form der träumenden Zirbeldrüse hat. Es ist, was es sieht, nach Duchamp, Paz, hier nicht aufzählbaren anderen immer dasselbe, und es mag auf eine Weise sehen, von der sich in der Genesis ein schönes Bild findet: da wird Moses, der partout sehen will, wer da mit ihm spicht, in eine Höhle geschickt, während ein Engel, also nicht einmal der Verlangte selbst, vorbeigeht und Lobpreisungen ausruft.
Es ist dies ein Beiseite-Sehen und Beiseite-Sprechen, das mir immer noch als eines der anrührendsten Gleichnisse fürs Menschenmögliche erscheint.
09.07.2008 19:28:04
Montags ist Kavafis´ Wohnung geschlossen,
also was tun, auf der Treppe hocken, Trauben essen,
kleine blasse Dinger, deren Kerne man mitschluckt.
Von Kavafis lernte ich nur einen Satz, rätselhaft
wie ein veralteter Scherz, doch denke ich daran,
als stünde ich in der Wohnung, hinterm Vorhang,
wo die Ode lebt, die Herzmotte, und hörte
das Treppenhaus, eben noch allein am Ruhetag,
jetzt aus der Montagsstille. Im Hof ist ein Gesträuch,
um das sich scheinbar keiner kümmert, es lehnt an
den Seiten ringsum unter seinen blassen Sternen.
14.07.2008 11:28:59
Calcium
...dass, was knochen, zähne, nägel härtet, in weichem enthalten ist und damit aufgenommen wird, mit milch und getreide; dass es als metall selbst weicher als blei ist, mineralisch aber ingredienz der alpen
24.07.2008 13:38:16
Wiederfund (8): Worte / Werte
"Wenn Sie dann aber schreiben, die Bemühung, mit einem Gedicht in Beziehung zu treten, schließe in Ihren Augen aus, dass man es beurteilt, so fühle ich mich zunächst veranlasst, genau das Gegenteil zu behaupten, nämlich, dass die Bemühung, mit einem Gedicht in Beziehung zu treten, ausschließt, dasss man es nicht beurteilt. (...)
Wenn ich zum Beispiel das Wort Baum in einem Gedicht gebrauche, dann ist damit nicht nur ein Begriff bezeichnet beziehungsweise das Bild eines Gegenstands oder ein Gegenstand selbst evoziert (auf diese Unterscheidung kommt es hier nicht an), sondern es wird damit auch ein Wert gesetzt. Nicht nur insofern, als an dieser Stelle gerade dieses Wort gebraucht wird und kein anderes, sondern auch insofern, als mit diesem Wort auch alle Zusammenhänge anklingen, in denen das, was es bezeichnet, Teil eines - ich weiß nicht, wie ich sagen soll - Wertgefühls oder auch eines Werturteils ist (auch wenn dieses Werturteil nicht als Wertaussage explizit werden muss). So bestünde ein Gedicht, betrachtet man es zum Beispiel als eine Reihe von Wörtern, nicht nur aus einer Reihe gegenständlicher Beziehungen, sondern auch aus einer Reihe von Wertbeziehungen. (Und was für Wörter gälte, würde auch für andere Aspekte eines Gedichts gelten: für Laute oder Buchstaben genauso wie für grammatikalische Formen oder auch für Gedichtformen wie zum Beispiel das Sonett.) (...)
In einem Gedicht etwa vom Baum des Lebens zu sprechen, evoziert eine Reihe von Verwendungswerten, die wahrscheinlich vergleichsweise oberflächlich, man könnte auch sagen, belastet sind: Es handelt sich um eine verbrauchte Phrase, dann auch um ein anspruchsvolles Mythologem usw. Will man Baum des Lebens dennoch verwenden, also so, dass es dem ganzen Gedicht nicht an jener Kohärenz mangelt, von der Sie schreiben, muss anderes in dem Gedicht geschehen, das den Wert dieser Phrase bezeichnet, ihn zum Beispiel in etwas einfügt, das ihn deutlich oder erschließbar macht und zugleich tiefer reicht, also (in dieser, meiner heiklen Ausdrucksweise) mit etwas in Beziehung setzt, das ihn als weniger tiefen umfasst. - Eine der leichteren oder bequemeren Lösungen wäre da die Figur der Ironie.
Von hier aus jedenfalls erscheint als Ziel der ganzen ästhetischen Anstrengung die Erfahrbarkeit eines Gefüges von Werten. Jedes Moment des Gedichts wäre in dem skizzierten Sinn wert-setzend, und diese Setzung würde gerade durch den Zusammenhang deutlich... Es soll eine Erkenntnis möglich werden, welche die übliche Dichotomie Wert/Ding beziehungsweise Beschreibung/Bewertung aufhebt. Ich stelle mir damit ein Kunstwerk als eine Wirklichkeit vor, in der Wert und Gegenstand untrennbar sind. Will man die Dichotomie Wert/Ding beziehungsweise Beschreibung/Bewertung analog sehen zu jener zwischen Äußerem und Innerem, dann ist die Dichtung ein Lavatersches, nämlich ein physiognomisches Paradies, in dem das Äußere, also der Sprachgebrauch, unmittelbar sein Inneres, seinen Charakter als einen Zusammenhang an Werten offenbart.
Zeigt sich etwas von dem, was ich da meine, nicht bei jeder einzelnen Selbst-Korrektur? Was da steht und jeweils als unzulänglich empfunden wird, wird verbessert; und dieses Verbessern ist, unterstelle ich, seinem Anspruch nach nicht einfach das Ersetzen von etwas durch etwas anderes Gleichwertiges, sondern soll den Text als Verhältnis zwischen Werten gleichsam tiefer greifen lassen, wert-voller machen.
Gehört es also nicht zu der spezifischen Form von Erkenntnis, die die Literatur ermöglicht, dass sie den Bereich der Werte erfahrbar macht, einen Bereich, der zugleich offenbart, dass die übliche Trennung zwischen Werten und Dingen und zwischen Beschreibung und Bewertung nicht letztgültig ist?"
Franz Josef Czernin an Hans-Jost Frey am 10.04.1997 in: Briefe zu Gedichten. Urs Engeler Editor 2003
02.08.2008 14:24:56
Blue, Green and Brown
heißt ein anderes Gemälde von Rothko, und der Titel scheint etwas vorzugeben oder zu variieren, das mir bei Mirkos Beschreibung von Erdbraun und Grün auffiel: eine Schichtung von Primär-, Sekundär- und Tertiärfarbe, wobei diesem "Stapel" das Blau unterliegt, während es bei Blue, Green and Brown über Balken von Grün und Braun die größte Fläche ausmacht und den Blick - wie über einen Stapel Holzscheite hinweg - auf sich lenkt.
Die exponierte Rolle, die Tertiärfarben bei Rothko nicht selten spielen, hat mich immer besonders berührt, sei es, weil sich, wie ich nun las, aus den 3 Primär- immerhin 160 Sekundärfarben ableiten lassen, aus diesen aber rund 100.000 Tertiärfarben, die in der Natur entsprechend häufig vorkommen, sei es, dass damit eine Umordnung von sowohl physikalisch definierten als auch symbolisch befrachteten Farbwerten vorgenommen wird.
Der Zusammenhang zwischen Grün und Braun inclusive der damit sich verbindenden Eindrücke ist aber ein so prägender, dass die darauf beruhenden Motive zu Gemeinplätzen geworden sind, die mich ärgern, so oft ich mich auf einem von ihnen erwische, besonders dann, wenn ich den Trott meines Blicks kaum umkehren kann. So in dem seit langem immer wieder in die Schublade verbannten Gedicht Fluor – an das ich jetzt auch deshalb denke, weil es eine Art Baracke zu enthalten scheint -, dessen mittlerweile erster Teil in seiner Positiv-Negativ-Verteilung auf die grünen und braunen Attribute Schilf und Schlamm steckenbleibt. Nachdem verschiedene Anläufe, es umzuschreiben, fehlschlugen, habe ich es behelfsmäßig durch einen zweiten Teil ergänzt, der eine Positionsverschiebung versucht, damit diesmal auch „das leuchten“ von Fluor, die Fluoreszenz, erinnert werden kann, sozusagen als mitgedachtes Blau über Braun und Grün.
Fluor
I.
als ob
die vier wände stillstünden – dem da trauen?
keiner kann
darin wohnen selbst seine elritzen: schlamm. weg
vom rand
die kriechprobe verweigern nicht sich spiegeln scheuen
vor zügeln
aus schilf. das grün ist mitgerissener sand.
II.
noch besser
es nie gesehen haben auf den schnellen
das leuchten.
dabei ist es früh geworden die stunden
lassen sich
weder blicken noch versäumen. wünschen vielleicht als
rückwärts aufgezogene
libellen. sirrend stehen sie auf den wasserweiden.
09.08.2008 17:34:30
Kolk, revisited
21.09.2008 15:11:50
Babylon-Express
I.
In Fahrt hat die Zeit so etwas Unhölzernes,
man möchte das Tempo vergessen, in dem der Mai
sich zum Sommer durchschlägt, wir in unserem
Kokon, der klappert vor Langsamkeit, könnten
ihn überholen auf der Strecke nach Südosten.
Durch die Gesichter im Fenster rauscht der Abend,
es gibt Rätsel genug, irgendwas fehlt beinahe immer,
und wer, bitte, hat jetzt gegeben? Eben, um Tage
verspätet, kommt mir die Idee von einer Sprache,
in zwanzig, in dreißig Jahren vielleicht gefunden,
was schnell für eine Sprache wäre, aber jemand
muss sie haben, wenn er doch Ja sagt und Hallo
in die Hand, in der die Verbindung steht, die Linke
in der Jackentasche kreisen lässt um ein paralleles
Gespräch, Spaziergangsreste, Gegilbtes, klackernd,
sonst überall tot, doch wie leicht herauszuhören, traut.
II.
Getiger durch die Gänge, Gerüche, Zimt voller Motten
in einem, höllisches Gummi im nächsten Wagen,
Leuchtkäfersirren, Notlampen läuten den Käfigschlaf ein,
und die Zwischenräume - welches andere Wort: entfallen,
entgleiten? - die morsen zum Glück, zum Glück -
Zurück, es gibt kein Wasser, keine Seife, keine Chance
sich zu verirren im Einweglabyrinth, nur Gegnerschaft
der Türen und den Judas von Wind, der sie aufreißt,
mir aus den Händen, die Müdigkeit. Eisenduft, die Luft
stockt, steht, draußen mit allem gewaschen, was Schienen
hergeben, mitgenommen ich, bei mir, was ich liebe.
Schatten, die aus der Böschung stürzen, ihre Fahnen
Frische, mein wildes Vertrauen innen im Ohr beim Schwanken,
Schwanken, Drähte, summende Konsonanten, Schwingen
der Gänge, Gerüche, eilige, grüne, die Koordinaten
von morgen, Morgen und sein Meridian aus Unbekannten.
II/IV
28.09.2008 00:44:31
III.
Und dann liegen die Decken, grob geknüllte Dunkelheiten,
plötzlich am Boden bloß wie die lästigen Eigenschaften
des Schaffners, der in seiner Koje bleibt und schnarcht.
Gerüchte, im ersten Abteil würde Kaffee gekocht,
wir ziehen los und finden, es stimmt: Aussicht beflügelt,
Abstände dehnen sich in Zielnähe aus, wenn die Ankunft
sich verschiebt, nicht uns mit dem Entgegenfieber und dem
heißen Satz, den noch ein Halt uns an die Lippen schwappt.
Pannonisches Klima. Im Mandelbaum blitzt Janus
in voller Montur - Ich muss kämpfen, obwohl ich nicht will -
und besingt die Zeitung, die gegen unser Fenster anfliegt,
Kyrill tanzt durch den Mohn, jetzt allein sein... Im Spiegel
überm Waschtisch geht die Landschaft weiter, ozeanisches
Korn. Es gilt, den Hunger zu betäuben, auf offener Plattform
mit Rauch, wo bis Budapest der Speisewagen war: Kieselfließen,
aber noch, glaube ich, könnte man springen fast ohne Gefahr.
IV.
Wo wir erwartet werden, machen sie jetzt Licht,
setzen sich zum Essen, seht ihr? Überwach versuchen wir
uns in Telepathie, manches scheint inzwischen möglich,
auch, mit den Koffern am Bahndamm zu stehen oder
weiter zu pilgern über den Gebirgszug Soundso. Besser
die Gedächtnisglagoliza üben, an Entfernungen gelehnt.
Das Klare, erstanden im Frankfurter Pleistozän
vor zwei Tagen, leeren, und wie Bauleute in der Stadt,
die endlich näherkommt, auf vergessene Stufen stießen,
graben wir aus, was übrig ist vom letzten Mal: das Theater,
die Stolpersteine im Viertel um den Turm, das Rosenwasser
in den Laken, leider, Straßenlärm. Ich werde die Gesichter
wieder kaum erkennen, aber Stimmen, man wird erzählen Was bisher geschah, und als trügen die freien Stühle
Babels Namen, sind wir, lese ich in dem Moment
der Leuchtschrift der Gebäude ab, sind wir schon da.
(Plovdiv, Mai 2007/Edenkoben, September 2008
für die Reisegefährten Mirela Ivanova, Galina Nikolova,
Bojko Lambovski, Plamen Dojnov, Ingo Wilhelm, Uwe Kolbe
und Hans Thill)
30.09.2008 13:22:40
Die Dankbarkeit der Spinnen
Vorsicht, die Pirsch auf Leitern und Knien,
das alte Honigglas übergestülpt, untergeschoben
die weißen Böden fürs Karma? Schon jetzt ein Fehler
in ihrer Spätsommermatrix und sicher verwünscht von
den Fliegen, die, beschlossene Sache, nichts zu tun haben
mit Egoismus und Recycling, laß sehen: Windrosenstempel
auch die hier, immer gerade die Mitte, die ihr Körper ersinnt.
Kleiner erschrockener Unvogel, Sternchen im Orbit der Lampe,
hat sie vielleicht mehr als fürs liebe Leben für die Berührung
zu danken, nie leicht genug, die sie davonträgt vom Gespinst
des Zimmers. Nach getaner Arbeit sitzen wir am Tisch, noch
oder wieder unter einem Staubgarten wie dem, den sie
uns ans Licht zog, sichtbar durch die Zäune, inzwischen
so gewissenhaft wie vergeblich weggefegt, noch oder
wieder Verschonte ohne zweiten Auftrag.
09.10.2008 12:36:44
Zur Verteidigung von nichts
Ich denke, diese Linie von Wohnwagen längs der Straße müsste reichen.
Ich denke, dieser krumme Eukalyptusbaum auch.
Ich denke, diese Straße wird reichen müssen und die Autos
mitsamt den Leuten darin, unterwegs.
Die Gegenwart kommt uns immer entgegen, erreicht, umzingelt uns.
Es ist schwer, sich Atome zu denken, schwer
sich die Bindung von Wasserstoff und Sauerstoff zu denken,
es wird reichen müssen.
Dieser Himmel mit seinen Wolkenflecken ebenso
und die Überlandleitung zur Linken, eine durchbrochene Linie.
Peter Gizzi
16.10.2008 12:58:47
Geschrieben in keinem anderen Land
Jetzt ist es an der Zeit für das Rubbellos,
die stillen Wünsche alleinstehender Mütter zu enttäuschen,
Zeit für die Nacht, lange genug gedauert zu haben
für den Rentner und seinen „Kumpel“ im Fernsehschein.
Müssten wir den Gänsen da oben antworten,
fänden wir dann je ein Zuhause,
verloren wie wir sind in der Kinderabteilung von Wal-Mart?
Als wunderte es einen Jungen, dass Grant
beides werden konnte, Säufer und Präsident,
und enden wie Melville, vergessen,
begraben unter Ehrgeiz und Schuld.
Es ist ein trauriger Tag für die Meinungsforscher
und die elektrisierte Körperschaft der Wähler,
für die brandigen Seiten eines zerfetzten „Wound Dresser“.
Und wenn und wann immer vergangene Samstage
Heranwachsender auf verblasstem Kodakfilm
eine Rolle spielen in den Reden von Politikern,
wisse, du bist nicht allein, dein Erinnerungsalbum
wird zur Beschlussfassung genügen,
und was du an diesem Wochenende zu tun gedenkst
der Garage und der Veranda.
Peter Gizzi
Anm. d. Ü.: “The Wound Dresser“ heißt ein Gedicht Walt Whitmans über die Schrecken des Amerikanischen Bürgerkriegs.
27.10.2008 13:20:49
Der nächste Frühling
Worüber ich gern schreiben würde, nicht, um zu berichten, sondern um - vielleicht - genauer zu verstehen, was ich sehe: wie sie auf dem Sofa in ihrem Zimmer sitzt, sonderbar anmutig, begabt mit der Schönheit sehr alter Menschen, klein geworden wie ein neun- oder zehnjähriges Kind, schmaler, als sie als junges Mädchen war, und auf die Frage einer Besucherin, ob das denn eine lange Zeit sei, fünfundneunzig Jahre, verwundert den Kopf schüttelt: "Es ist kurz... so kurz." Sie lacht auf, als käme ihr der Gedanke, fünfundneunzig Jahre könnten von irgendjemandem für eine lange Zeit gehalten werden, völlig abwegig vor.
Vor drei Jahren noch hätte sie bloß abgewinkt, mit der freundlichen Souveränität der alten Dame, die den gut halbstündigen Spaziergang zum Haus meiner Eltern fast täglich mit erstaunlicher Leichtigkeit bewältigte. Jetzt erst staunt sie. Am meisten über das, was wir, wenn sie danach fragt, von ihr erzählen. Aber wir wissen nicht genug, nur ihre Fragen lassen uns ahnen, wie groß die Lücken, oder die Freiflächen, sind, die sie früher in ihren Erzählungen gelassen hat.
Sie lauscht, den Kopf zur Seite geneigt, und lässt ihre Finger mit einem Taschentuch spielen: "Also, früher habe ich an Gott geglaubt?" Wenn sie das einmal getan hat, so hat sie jetzt sogar ihn vergessen, doch das scheint sie nicht als Verlust zu empfinden, sie wirkt eher ein wenig erheitert. Was sie wirklich wissen möchte, ist, ob sie den nächsten Frühling erleben wird. Sie hat immer an die Zukunft gedacht, und auch jetzt fragt sie nach ihr, so eindringlich und ernst, dass es unmöglich ist, mit der Munterkeit der Pflegerinnen zu reagieren, die sie wie ein Kind behandeln: "Aber... glaubt ihr wirklich?" In diesem Moment flattern Sperlinge, ein Dutzend, vielleicht mehr, vor ihrem Fenster auf den sonnigen Terassenboden, und wir beschließen, noch eine Stunde draußen zu verbringen.