"Im Europa des Mittelalters galt die Schwanenhaltung auf offenem Gewässer als Hoheitsrecht. Als politisches Symbol der Unabhängigkeit vom Deutschen Reich stellte z.B. der Rat der Stadt Hamburg 1664 die Belästigung der Alsterschwäne (...) unter Strafe. Futterzahlungen der Stadt an die Tiere lassen sich ab 1591 belegen. Heute werden die Tiere von einem Schwanenaufseher (Volksmund: Schwanenvater) betreut."
(Quelle: Wikipedea / Punkt 3: Schwäne und der Mensch)
schoen, schoen...
und mit graublauem Gruß nach oben zu den anderen Vögeln:
15.06.2007 12:53:05
Was es auch ist
Als, schwebend zwischen Wand und Papier,
die Finken nisteten, unbemerkt hinter den Büchern,
und ich eines Tages ein Ei fand, winzig, bläulich und,
bis es auf meiner Hand lag, nicht zu fassen, so was.
Parksamisdat, die Unbeherrschbarkeit von Birkenrinde,
die über einem Fällzeichen, Namen, Stern unleserlich verheilt.
Auch die der Dinge, die während einer Feier zerscherbeln.
Sand im Schuh. Oder der zärtliche Prozess in einem
Finkenei gegen die Schale, der Gedanke an ein Zimmer,
wo vielleicht eine mit sich allein ist, an einer kleinen Wunde
reibt, in Gedanken, etwas aufschreibt, schwebend
zwischen Wand und Papier, etwas Anderes.
für Mirela Ivanova
18.06.2007 13:34:07
2 Honigbisse
der erste Biß in den Honig am Morgen
Friederike Mayröcker: für Georg Kierdorf-Traut
der erste Biß in den Honig am frühen Morgen
Friederike Mayröcker: solch Schnee und Biß und Augenmolkerei
26.06.2007 13:49:56
Wiederfund (5):
„(...)
Time that is intolerant
Of the brave and innocent,
And indifferent in a week
To a beautiful physique,
Worships language and forgives
Everyone by whom it lives;
Pardons cowardice, conceit,
Lays its honours at their feet.
Ich weiß noch, wie ich in dieser kleinen Holzhütte saß, durch das quadratische, bullaugengroße Fenster auf die nasse, lehmige Schmutzstraße blickte, auf der sich ein paar Hühner verlaufen hatten, und nur zur Hälfte glaubte, was ich gerade gelesen hatte, zur anderen Hälfte überlegte, ob mir mein mangelhaftes Englisch nicht einen Trick spielte. Ich hatte dort eine riesige Schwarte von einem englisch-russischen Wörterbuch zur Verfügung, und ich durchblätterte es Seite für Seite, überprüfte jedes Wort, jede Anspielung, in der Hoffnung, daß mir die Aussage erspart bliebe, die mich da aus dem Buch anstarrte. Ich wollte wohl einfach nicht glauben, daß schon 1939 ein englischer Dichter gesagt hatte: „Time... worships language“, und trotzdem war die Welt immer noch dieselbe geblieben.
Doch dieses Mal widersprach mir das Wörterbuch nicht. Auden hat in der Tat gesagt, das Zeit (nicht die Zeit) Sprache verehrt, und der Zug der Gedanken, den diese Aussage in mir in Bewegung setzte, rollt bis auf den heutigen Tag. „Worship“ ist nämlich die Haltung des Niederen gegenüber dem Höheren. Wenn Zeit Sprache verehrt, dann bedeutet das, daß Sprache größer oder älter als Zeit ist, die ihrerseits älter und größer als Raum ist. Das war mir beigebracht worden, und genauso fühlte ich es auch. Wenn also Zeit (...) Sprache verehrt, woher kommt dann Sprache? Denn die Gabe ist stets kleiner als der Gebende. Und ist dann nicht Sprache ein Behältnis für Zeit? Und liegt es nicht daran, daß Zeit sie verehrt? Und ist nicht ein Lied, oder ein Gedicht oder sogar die Sprache selbst mit ihren Zäsuren, Pausen, Spondei usw. ein Spiel, das Sprache veranstaltet, um Zeit neu zu strukturieren? Und sind nicht jene, von denen Sprache „lebt“, auch die, von denen Zeit lebt? Und wenn ihnen Zeit „vergibt“, tut sie das aus Großzügigkeit oder aus Notwendigkeit? Und ist Großzügigkeit nicht ohnehin eine Notwendigkeit?
So kurz und waagerecht diese Zeilen waren, sie schienen mir unglaublich in die Höhe gerichtet. Außerdem wirkten sie wie aus dem Ärmel geschüttelt, fast plauderhaft: Metaphysik in der Verkleidung des gesunden Menschenverstandes, gesunder Menschenverstand als Couplets aus dem Kindergarten. Diese Schichten der Verkleidung allein lehrten mich, was Sprache ist (...).“
Diese Abschnitte sind Joseph Brodskys Essay Einem Schatten zu Gefallen entnommen. Es handelt sich um seine – man kann es nicht anders nennen - Liebeserklärung an Auden, über dessen Werk er etwa sagt, es sei „durch eine Liebe enstanden und mit ihr gefüllt (...), die unser Fleisch nicht fassen kann und die daher Worte braucht“. Das beeindruckendste Zeugnis der Hinwendung Brodskys zu Audens Dichtung sind aber weniger solche hymnischen Sätze als vielmehr ihre Manifestationen in Brodskys Lebensgang: er habe, so schreibt er, den Sprachraum gewechselt, um „Auden näher“ zu sein.
Joseph Brodsky: Einem Schatten zu Gefallen, in: Flucht aus Byzanz. Essays (Fischer Taschenbuchverlag, 1996)
05.07.2007 12:13:59
Zur kopfschüttelnden Verwunderung meiner Großeltern zogen meine Tante und mein Onkel aus der Innenstadt nach Wittenau in eine Laube, damit, wie sie sagten, meine vier Jahre jüngere Cousine Andrea "im Freien" aufwüchse, nicht in der "düsteren" Stadtwohnung in Berlin-Charlottenburg, wo es "nichts Wildes" gab und außer im Schlosspark auch kein Grün.
Andrea wusste sicher kaum von ihrem Glück, aber mir leuchtete das ein, schon deshalb, weil wir nun näher beieinander wohnten und öfter zusammen spielen konnten. Mit Vorliebe stromerten wir nachmittags durch die Kleingartensiedlung, oft, bis es dunkel wurde, und mir fiel dabei die Rolle der Anführerin zu – einer Anführerin, die fürs Abenteuer zu sorgen, sprich: sich zu verirren hatte.
Wir kundschafteten abgelegene Wege aus, sommers wie winters unbewohnte, zum Teil halbverfallene Lauben und verwilderte Gärtchen, deren Zäune von den Hecken längst überwunden worden waren, drangen vor in schattig kühle Labyrinthe aus Goldregen, Lebensbäumen und Johannisbeergestrüpp, wir krochen in modrige Karnickelställe und stolperten in Schuppen mit Batterien vergessener Einweckgläser und rostigem Werkzeug herum, wo Andrea sich gern auf die Jagd nach Spinnen machte. Ihre Schwäche für alles mögliche Krabbelzeug beeindruckte mich mehr, als ich zugeben mochte. Insgeheim erschauderte ich, halb vor Ehrfurcht, halb vor Ekel, wenn sie sich ein Bündel besonders langer, vom feuchten Gras ganz rosiger Regenwürmer übers Handgelenk legte und sie minutenlang stolz vor sich her trug wie ein schickes Armband.
Nach Hause lotste ich uns über wohldurchdachte Umwege mit der geringfügigen, aber merklichen Verspätung, die unserem Spiel auch in den Augen meiner Tante einen Anstrich von Ernst geben sollte, so dass wir stets mit einer Mischung aus milder Strenge und Belustigung empfangen wurden: "Na, wieder zurück von großer Fahrt?“ Dann, um dem Erwachsenenritual Genüge zu tun: „Wurde auch langsam Zeit, ihr wisst doch, ihr sollt..."
Einmal, an einem Samstagnachmittag im Oktober, war es echt. Wir hatten die Laubenkolonie verlassen und ein angrenzendes Stadtwäldchen erforscht, das irgendwann in einen Park überging, mit einem Haufen Findlingen zum Klettern, mit Bänken, vorwinterlich öden Beeten und einem Vogelbad, in dem aber nicht halb soviel los war wie an den Meisenknödeln, die meine Tante vor fast jedem Fenster der Laube aufgehängt hatte.
Der Park endete an einer lebhaft befahrenen Straße, und an der standen wir nun, es war inzwischen Abend, von Scheinwerfern und aufsteigenden Tränen geblendet. Fünf- oder sechsmal schon hatten wir Park und Wald in unterschiedlichen Richtungen durchquert, ohne dass ich unser geheimes Tor, das Loch im Zaun, durch das wir gekommen waren, hatte finden können, immer wieder auch hatten wir die Findlinge, in der Dämmerung zusammengeduckte Trolle, umrundet, als wären wir noch freiwillig hier draußen und spielten, bis Andrea nach meiner Hand griff und zu weinen anfing.
So gut es ging, versuchte ich, meine zunehmende Unsicherheit hinter munterem Geplapper zu verbergen, aber sie spürte es natürlich trotzdem - diesmal war es nicht nur „als ob“, und wie sie mich so ansah, ängstlich, kummervoll und ein bißchen enttäuscht, dämmerte mir, dass sie das Spiel durchschaut hatte: Alle früheren Abenteuer waren gar keine gewesen, bloß kleine Scharaden, nichts weiter, ein Theater, dessen Regisseurin ich gewesen war, wie manchmal vor dem Einschlafen, wenn wir auf der mit Kissen und allerlei zweckentfremdeten Utensilien ausstaffierten Bettbühne Stücke aufführten, um uns dann mit wohligem Grusel unter die Decke zu verkriechen. Dass wir jetzt frierend am Straßenrand standen, war aber nicht meine Idee gewesen, ich war nicht mehr Pippi und Ronja Räubertochter in einem, „die Große“, die ihr die Filme mit Boris Karloff und Christopher Lee nacherzählte, die sie noch nicht sehen durfte (und in deren Genuss auch ich nur kam, wenn ich bei meinen Großeltern übernachtete). Zum ersten Mal waren wir Gleiche, und wir hatten uns wirklich verlaufen.
Wohl darum endete der Tag so gut, fast berauschend, auf eine leichte, warme Art berauschend. Als wir uns, meine Niederlage so eingestehend, zur Kolonie durchgefragt hatten – weiträumig außen herum, Straßen entlang, die ich vielleicht nicht mal im Hellen wiederkannt hätte, weil ich, wenn mein Vater mich im Auto herbrachte, immer vor mich hinträumte – als wir endlich in den heimischen Weg einbogen und durchs Gartentor liefen, fühlten wir uns fast wie Heldinnen, noch immer etwas beschämte, eingeschüchterte, glückliche Fastheldinnen. Etwas in der Art mussten wir an dem Abend tatsächlich sein, denn es gab keine Vorwürfe, sondern ein heißes Bad und ebenso erleichterte wie besorgte Fragen danach, wo wir denn nun gewesen waren, und beim Abendbrot erzählten wir mit vollem Mund.
Im darauffolgenden Jahr kam Andrea in die Schule. Nach und nach veränderten sich unsere Spiele, wurden alberner, eintöniger, erwachsener. Keines davon rief die Vertrautheit oder das Glücksgefühl des Oktoberabends hervor, an dem wir nach Hause finden mussten.
Ernste Spiele (Skizze 1)
12.07.2007 14:36:26
Enteignung
Zwiespältig die Legende, angefangen
mit dieser Unsicherheit den Krater im Garten betreffend,
an dessen Ufer wir nun wohnen, und durchschaubar,
wenn zum Beispiel der Teufel Anspruch auf uns erhebt, ein etwas
ungepflegter, ewig rauchender Eigentümer unserer Resignation.
Aber wie sich nicht auskennen mit seinen Abhängigkeiten
im Lauf der Jahre, oder nichts aushandeln, ganz friedvoll.
Wir könnten ihm wohl einen Kasten zimmern, doch was,
wenn der ihm schon gehörte, ja seit je, oder
- auch eine Art Schiebung - er sich auftäte, gar uns
vertriebe, ein gesichtsloses Konsortium.
aus: Gute Gründe
19.07.2007 16:40:46
Restbilder
31.07.2007 13:47:36
Als Bäume
werden wir sanfter sein
Vielleicht
als Bäume
Hilde Domin: Lichtinsel
14.08.2007 12:32:04
back
09.09.2007 17:53:40
Aus dem Fischbauch
Vor etwa zwei Jahren postete ich hier im Goldenen Fisch ein paar Notizen unter dem Motto "Baustellen". Ich kann kaum noch sagen, was mich, abgesehen von meinen eigenen Textbaustellen, damals auf dieses mir eigentlich recht fremde Terrain brachte, aber Tatsache ist, dass es mich - vielleicht gerade wegen meines Mangels an Vertrautheit damit - seither immer wieder angezogen hat bzw. die Baustellen anfingen, nach und nach in meine nähere und nächste Umgebung zu ziehen. ("Soviel zur Realität.") Als ich schließlich, derart umringt, mit der Collagenreihe "Tapetenwechsel" begann, war mir zunächst gar nicht klar, dass es sich dabei nur um eine Variation des alten Themas handelte, das kapierte ich erst vor wenigen Tagen, als ich auf der Suche nach Texten, die mit den Bildern korrespondieren könnten, auf die fast vergessenen Notizen stieß.
Natürlich ging es so nicht. Dann - Herta Müller und dem Fisch, insbesondere Christine, sei Dank - besann ich mich auf die vielfach und von den Genannten u.a. natürlich um ein Vielfaches besser erprobte Methode der Montage. Ich bin im Stadium des Spielens und schalte im Übrigen auf Automatik. Von den dabei entstandenen Bruchstücken und anders zusammengeleimten Textscherben möchte ich nun ein paar an dem Ort aussetzen, dem sie ursprünglich entstammen.
Sortieren
Sollte ich mich entschließen,
vor fünf Jahren zunächst zu passen,
fehlten dem nächsten Besitzer
gegen das übliche Entgelt bald
die ersten drei Scherben, die jüngsten
sogar aus der Mitte des Brauchbaren.
aus: "Sammler und Jäger"
13.09.2007 15:25:51
Verwendung
Grob, länger, feiner, kurz
gesetzt: viele Teile, die zur Freude
meines Hauses auch ganz anders sind.
Leichter möglich. Am schlimmsten. Möglicher -
weise bald rund und Ästen am nächsten.
Jahrelanger Abend. Ich werde
der glückliche Schutt.
aus: Sammler und Jäger
23.09.2007 19:14:35
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Rainer Maria Rilke: Der Panther
27.09.2007 18:17:24
Scham und Bananen
Wieder mal 3. Oktober, Zeit für Talkrunden zum Thema, "Die Mauer in den Köpfen". Wie lange noch? Auf RBB sieht man die Experten bedächtig dreinschauen: „Noch eine Generation."
Die Mauer in den Köpfen - was heißt das, für jemanden wie mich, jemanden, der in Westberlin aufgewachsen ist?
Der Sender Freies Berlin brachte ein Wochenmagazin mit dem Titel „Der Insulaner“. Natürlich definierte sich Westberlin als „Freies Berlin“. Politisch stimmte das genauso halbwegs wie in anderen parlamentarischen Demokratien. In dem, was meine Mutter das wirkliche Leben nannte, stimmte es nicht.
Wir wohnten zehn Gehminuten von der Mauer entfernt. Nachts konnte man bei entsprechender Windrichtung die Mauerhunde bellen, heulen, winseln hören. Zweimal einen Schuss. Wir studierten die Zeitung: keine Meldung über einen "Zwischenfall". Die Sprache war so pervers wie die Mauer rund um und mitten durch die Stadt.
Ich hatte bis zu meinem vierten Lebensjahr nicht einmal mitbekommen, dass nicht alle Städte eingemauert waren. Als wir auf einer Ferienreise einfach so aus Wien hinausfuhren, wunderte ich mich: „Warum haben die hier keine Mauer?“
Am Rand des Wäldchens, in dem mein Vater abends unseren Hund ausführte, hatte irgendein frustrierter Insulaner in Sichtweite der Mauer und der sie überragenden Wachttürme ein Schild an einen Baum genagelt: „Bis hierhin und nicht weiter, ihr Zonenheinis!“
Bis hierhin und nicht weiter? War das etwa unsere Mauer? Wünschten wir uns nicht ihren Fall – und vielleicht inständiger, als man das in Helmstedt oder Hof wünschen konnte –, wünschten wir uns nicht, die Tanten meiner Mutter in Ostberlin und meine Cousinen aus Reimersgrün könnten uns wenigstens ab und zu besuchen, wünschten wir uns nicht, alle, die es wollten, könnten herüber kommen? Wovon sprach dieser Schilderschreiber überhaupt, wer oder was durfte aus seiner Sicht „bis hierhin und nicht weiter“? Wen meinte er denn mit „Zonenheinis“, doch nicht unsere Verwandten oder die so vieler anderer?
Er meinte wohl „das System“, Stasigesocks, Bautzen, möglicherweise sogar die Grenzer persönlich. Vielleicht aber auch die Grenze selbst, das, was wir in milderer, da gewohnter Form tagtäglich und in schärferer Gangart beim Grenzübertritt zu spüren bekamen. Die Willkür. Die Häme, wenn auf Geheiß die Rückbank aus dem Auto montiert werden musste. Das säuerliche Lächeln beim Durchwühlen des Koffers, bei der Leibesvisitation. Wir machten uns nichts vor: das ganze Theater war nichts, denn irgendwann konnten wir gehen, das bißchen Unwohlsein war rein gar nichts gegen die Atmosphäre, der unsere Verwandten jahrein, jahraus ausgesetzt waren. Stasigesocks, die Drohung Bautzen, ja, aber der eigentliche, der unausweichliche Horror war das, was dem zugrunde bzw. in der Luft lag: Enge und nochmals Enge, und hinter dem ungeheuren und ungeheuerlich durchorganisierten Überwachungsapparat die Sorte Kleinkariertheit, die überall genügend Anlass zur Brutalität findet, einer muffigen, miefigen, kleinkarierten Brutalität, für die man sich schämte, stellvertretend für die Schikaneure, die einem durch die Kleider und bis in die Unterwäsche hinein fingerten. Nein, nicht alle waren so, und die nicht so waren, schämten sich mit uns.
„Ich schäme mich eigentlich für alles, und das ist noch das beste an mir“, schrieb Imre Kertész in seinem Galeerentagebuch. Er schrieb das aus ungleich anderer Erfahrung, doch das nimmt diesem Satz nichts von seiner moralischen Anwendbarkeit im jeweiligen Hier und Jetzt. Wo der Brutalität kein Anlass zu klein ist, muss für die Scham dasselbe gelten.
In den siebziger Jahren schämte sich jeder von uns: wir, wenn unsere Mitbringsel ausgepackt wurden, weil dieses Mitbringen immer auch eine ungewollte Demütigung derer bedeutete, die beschenkt wurden, weil sie glaubten, was wir mitbrachten, Bananen zum Beispiel, wäre wichtiger oder von größerem Wert als das, was sie uns schenkten. Meine Tante wiederum schämte sich, weil sie ihren Kindern keine Bananen kaufen konnte. Mein Onkel schämte sich für sie. Wir alle schämten uns für die, die uns in diese ebenso ungerechte wie absurde Situation brachten, und zugleich fühlten wir Besucher, dass wir im Grunde auch dazu kaum ein Recht hatten.
Welches Recht zur Scham wir aber hatten, zeigte sich spätestens in den Tagen nach dem Fall der Mauer. Als die ersten Züge mit Leuten aus Magdeburg und anderswo - Leuten, die sich auf ihre Verwandten und über ihre Freiheit freuten, diese nun unter selbstbestimmten Bedingungen besuchen zu können - auf dem Bahnhof Helmstedt eintrafen, standen zahllose Wessis am Gleis und warfen Bananen in die offenen Abteilfenster.
Da waren sie also wieder, die Zonenheinis, und zwar die unseren: Enge und nochmals Enge in den Köpfen, Muff und Mief, schockierende Kleinkariertheit, Brutalität im Allerkleinsten, und womöglich noch „gut gemeint“, der hässlich blanke, unsinnige Hohn, maskiert als Wohltäterei - welch eine beschämende Haltung! Für diese Herrschaften werde ich mich schämen, solange es sie gibt.
03.10.2007 16:06:50
Und heute
14.10.2007 14:27:50
Germanium
I.
geringe mengen
weit verbreitet mangelerkrankungen sind unbekannt ebenso der nutzen
für den organismus ein wenig zuviel davon geht an
die nieren vom ausgang der atemlähmung weiß man. dies
ist eine produktinformation: keine
daten gemeldet
aus studien an gesunden probanden unleugbar aber einsätze
auf anderen gebieten. soll der blick durch wände und
im dunkeln auf die pirsch trifft er das halbe
halbe wieder doppelt zwiefaches
festhängen am
ästchen am rosshaar oder schlicht in der natur
des mitreisenden gestern nach b der klagte no business
like Sie wissen schon und ich wusste nicht wo
wir waren im wald.
II.
grüner fraß
am blech am putz das dennochschöne im geleise
um das man dir kaum noch was eintauscht verlangsamt
schon den nächsten halt: in stendal mit verspätung bald
genug erneut woanders. nirgends
sah ich
dahlien wie einmal in dem garten der mir
den gesuchten ersetzte quittenduft der mich an nichts erinnerte
ließ mich in der umbenannten straße niesen. ich hatte
eine kleine münze geworfen
um mich
zu entscheiden dann übern zaun. in der nähe
schlug jemand unsichtbares holz. ich hörte ihn die scheite
spalten schichten und spalten hörte sie prasseln vom block
und hätte fast gerufen.
22.10.2007 13:46:15
So...
oder so...
herum?
27.10.2007 15:42:34
Inas Stein*
Grauer Granit, roter Granit, solche Nelken
für Luxemburg, die leere Vase für Ulbricht, aber Merker
von Stahlmann einen Steinwurf entfernt, nicht mehr
Geächtete und Geachtete – an einem trüberen Tag
wäre der Stein nicht zu finden gewesen
am Seitenweg. Hartnäckigkeit
einer Versehrten, die lebte und lebte,
bis die Hinterbliebenen das zu ihrem Namen setzten,
als Titel, Parole, Knirschen? Ich will
Das Birkenlicht, bei der anonymen Wiese
drüben die Vogelbeerenfeuer, Stellen, die scheinen,
als würden sie öfter besucht.
Ein Stein aus zweien, gerade wie eine gesunde Wirbelsäule
der erste, der andere eine schroffe Biege
Daten im Gras, trotzdem. Womöglich meinte ich dasselbe,
als ich besser schwieg, schon treppabwärts
zur U-Bahn, zu meinem Optimismus, wie wenn auch ich es sagen
lassen könnte, so und so nicht sein, nicht bleiben,
sagte ich zu mir, nicht leise, nicht bitter, als das rote
Schlusslicht im Tunnel sekundenlang verschwand.
*befindet sich auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde
02.11.2007 14:26:24
der frühe schnee der distelwolle
die luftigen sternchen der distelwolle
die geschlagene sahne der distelwolle
die fernen gipfel der distelwolle
Ian Hamilton Finlay: der frühe schnee...
Dt. von Arne Rautenberg
Apropos Blumen - Grüße und alle meine guten Wünsche, lieber Hendrik, falls wir uns morgen nicht sehen sollten.
08.11.2007 16:26:59
Nach Canetti
Abende lang gingen die Wasserbüffel auf Nashörner
zurück, Vögel auf Echsen, Pelztiere auf Haarlose und immer
so weiter - ab in die Unglaublichkeit der Knochensprache
führte eine Produktion der BBC, raffte die Verwandlung
der Welt ins Bild. Jedes schien sich da eingetauscht zu haben,
indem es sich flügelte oder eingrub, zottig wurde,
Klauen bekam, Hände, ein Karneval der Interpretationen
von etwas, das erst erfunden werden sollte, des Erforderlichen.
Mir kam das Ganze wie eine Werbesendung vor, oder
ein Trainingsprogramm, trostlos beides. So vieles geschah,
geschieht aus Not, was hilft es zu wissen, dass man einmal
anders war, ohne eine Erklärung, die Raum lässt für
unsere besseren Innovationen, abgeschaut auch sie, doch
gewandelt in geheimeren Zellen, auf der kleinen Flamme
Zunge erwärmt wie ein Stückchen Eis. Nichts spricht
dagegen, dass Wandlung die Antwort der Machtlosen ist,
angesichts solcher Verwandtschaften, die Zuflucht,
ohne die nichts mehr übrig wäre, keine Form, die Wasser noch
annehmen, keine, die es noch höhlen könnte für irgend etwas
sonst, und der Stachel der Biene, der Zahn des Hundes
ihre erzwungene, dunkle Vergebung.