ein bild

Trittsteine


"Heutzutage bietet sich dem Auge nichts als eine lange, unansehnliche, von Brombeersträuchern und Efeu gesäuberte Grube, in der Teile des Pflasters, Säulensockel und mächtige Fundamente gleich Knochenresten sichtbar sind.
(...) Jetzt aber ist die Ehrfurcht wiedererwacht, allerdings die Ehrfurcht von Grabschändern; die Wissenschaft ist von fieberhafter Neugier erfaßt und erregt sich über Hypothesen, man durchforscht den historischen Boden, in dem die Kulturen in Schichten übereinanderliegen, und schwankt zwischen den fünfzehn bis zwanzig Rekonstruktionen, die man vom Forum entworfen hat und von denen die eine so annehmbar ist wie die andere."

Emile Zola: Rom (1896)


"Im Hintergrund einer breiten mehrspurigen Asphaltstraße stand der Schutthaufen des Kolosseums, lehmig-gelb angeleuchtet und mit den schwarzen Rundbögen, die an Stolleneingänge denken ließen. - Neben mir, zur einen Seite der Via Dei Fori Imperiali, eine tiefergelegene Schrotthalde und eingezäunt.
(...) Über schwarze große Basaltbrocken ging ich dann an dem Trümmerfeld hoch, vielleicht habe ich innerlich gegrinst - aufgerissene Rollbahnen eines Flugplatzes in Vechta - Bombentrichter voll Wasser - eingefallene Hallen - Zementmatten, die aus den Eisengerüsten hängen - grünes Sprühen einer Brandbombe - lautlos abbrennendes Stangenpulver nachmittags - Metallwracks von Flugzeugen - geborstene Plexiglasscheibe der Flugkanzel - kleine schwarze Figuren, die unter geblähten Pilzkappen herunterschweben - Unkraut wuchert das Gelände zu."

Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke (1979)

11.01.2005 13:46:31 

esse


welschen. tilgen
rogen vom strauch. rotten
der finger, fänger im gebeet

versenkte erden und behender
lehm, was aus den bilgen
schaut: fahlbauten, der motten

gefädel frucht an frucht, wasser
sucht, beert, mündet am tropf
ton: senga

sengana. enger wird nicht
woraus es dich wächst, lauter haut
schalheiten, zu welken. welschen

will ich. wälzen das
sprechfleisch ums gepflückte
blut, das auf der kuppe steht.


(koinzidenz für markus)

28.01.2005 22:54:40 

Jerichokaleidoskop


Nicht die Spur Verdunkelung, Kreuzschnäbel, zwitschernd
von Spannung, diesseits Giraffen in langsamen Bauen
hungrig auf Sand und die Fundamente für morgen
gerüstet zu sehen, das war der Dreh: alles durchschaubar

und unverständlich. Die Nächte sprachen Pidgin
mit dem Rudel, zu sagen, das Gelichter jagte
einem unter die Lider weiße kreisende Stunden
klänge nach etwas, das uns nicht erreichte.

Schon Personal der Träume unserer Hälfte
des steinern dämmernden Hirns, spielten wir
Insulaner, die das Festland wunderte, das Fließen
von Verkehr, Verschollene. Wiederholungen

Holungen. Was von drüben aus: eine Gefahr
die uns vor einer anderen retten sollte, und durch welche
Gläser, übertrieb man wie wir mit unseren Scherben?
Die schwärzten wir der halben Sache zum Trotz, die Sonne

verschwand nicht ganz, sie hinterließ uns auch
die Fliederfarbe nicht. Woran ich mich erinnere
ist unser Warten: zusammengedrängt im Gang
vor dem Ereignis.

04.02.2005 16:37:26 

Übersetzung


Brackwasser, Äcker, Messerrest vom Herbst, ja
das Tierchen in der Kuhle kannst du finden

fällt an seinem Faden Kraft der Fressfeind ein
ist was du brauchst vergraben.

Scharrstarre. Jemand muss es wissen.
Ein Motor stottert die ersten Brocken fürs Jahr.

09.02.2005 01:44:32 

Übersetzung Dritte Fassung


Gras, hart und kühl jetzt
im Februar, lesen (mein garten

braucht keine luft
) verwundert
über die sich legende Schrift

die das im Sommer war, schnell
unter der Hand. Schöner nicht.


für Christine


13.02.2005 01:17:32 

Valentinstag


(nach einer Idee von Hendrik Rost)


Heute raus, die Sonne ist. Ich lasse
mir alles sagen, Freundchen, was
glaubst du. Dass die Frau da schneller
geht, kommt ein Fenster vorbei, dass die
nichts mitnimmt? "Du darfst"-
Glücke, Gehabtes von Wühltischen
"Für die Tasche hätt ich töten können"
und daraus den Bärenknochen, aufgebunden
beweg dich: Erinnerungen, so werden
Besorgungsgänge organisiert, das Übersehen
eines bestimmten Utensils, Formeln, Formen
der Danksagung: vom Kies nebenan
(Aspektaspekt) der Rosenkopf
so geht es los, das stumme
Hinlegen, noch ein Zögern
mehr, dann: die Fassade, im Schlaf
schon einmal erstiegen zu einer Tageszeit
als die Schwerkraft stimmte, nehmen
im Dunkeln hinter den Scheiben.

15.02.2005 16:41:35 

Poem


I demand that the human race
ceases multiplying its kind
and bow out
I advise it

And as punishment & reward
for making this plea I know
I´ll reborn
the last human
Everybody else dead and I´m
an old woman roaming the earth
groaning in caves
sleeping on mats

And sometimes I´ll cackle, sometimes
pray, sometimes cry, eat & cook
at my little stove
in the corner
"Always knew it anyway",
I´ll say

(...)

(Jack Kerouac)

23.02.2005 14:24:14 

La bibliothèque est un feu


"Nous sommes, ce jour, plus près du sinistre que le tocsin lui-même, c´est pourquoi il est grand temps de nous composer une santé du malheur. Dût-elle avoir l´apparence de l´arrogance du miracle."

(René Char: A une sérénité crispée)

26.02.2005 00:44:09 

Auf A


Andere Alphabete, Aktiva, alles
aufhebende Antimone, Ablaufantipoden
also: linksspeiender Ausguss, lotrecht an
haltende Wasser, Walsprüche, nicht wo
hinab, Ahab, aufwärts gehört.

28.02.2005 18:16:16 

Bläuling*


Die Langeweile des Lehrers
im Rascheln gewendeter Seiten Lolita
noch unter keiner Ladentheke
in Paris die andere Sprache
verpuppt im Ohr eine prachtvolle
Störung und ein infantiler Gott
lässt einen Schwärmer los auf

dass ihn einer beschriebe: ohne Vergleich
ist die Terminologie der Bestimmung
ein Code der Einmaligkeiten

vererbt wie ein Tag dem nächsten.
Das wievielte Heim brennt
Löcher in die Landschaft
um Cornell und übers Meer
kommen mit dem Asselklang
von Zimmerasche die frühen
Wiesen wieder.


*Der von Vladimir Nabokov entdeckte und klassifizierte Schmetterling gehört zur Familie der Bläulinge (Lycaenidae).

01.03.2005 12:29:14 

S wie Sure


Statt Sisyphos´ Spur, sauber am Steilhang
Sermonias besonders sonnige Spielart der
Suche: nach Schwitters, bis du weißt schon
Wer uns abholt, Serpentinen nachschlingernd
Zu sorglos. Und Süchte, sicher, im Zweifel
Selbst, die Sorte, die den Kiesel der Weisen
In den Plapperginster schnipste, soviel dazu.


(mit freundlicher Genehmigung)

04.03.2005 15:08:27 

Traumata


"Ich weiß von einer wilden Region, in der die Bibliothekare die abergläubische und eitle Jagd nach dem Sinn in Büchern verschmähen und die Lektüre mit Traumdeuterei und Handlesekunst vergleichen."

(Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel)

11.03.2005 10:58:52 

Schwimmen


So weit doch halbiert
in Schwere und Hitze gewatet.

Fische kommen mit
schwachen Mündern, nichts

was zu glauben wäre. Es ist
nicht still, das blanke Liegen

Rückenhalt nur das Gewicht
das zieht. Auf die Art

Nacken kühlen, Scheitel. Fische
kommen wie leichte Wunden

die sich heilen. Was hörten wir
nicht alles, was hörten wir nicht

von Wellen. Was sie schlagen
herauf. Jetzt die Stirn.

15.03.2005 19:48:20 

Nichteuklidische Reise


Die Karte in den Handflächen.
Wir erinnern uns
der Parallelen und ihrer Ereignisse.
Nicht anders sind sie zu deuten

als dass wir den Tänzern zujubeln
mit nassen Gesichtern und Stimmen
geteilt unterm Messer des Jubels.
Dass wir taub sind über den Gassen

ins Echo der Hufe gebeugt und zurück
gezogen in milchwarme Schatten
während unten der Minotauros
vor Frühling verrückt wird.

Meilen vom Zentrum des Mittags
wo du den Arm vor die Stirn hebst
bis zur Mole, auf der ich schwanke.
Bei uns ein fremder Hund.

Wir jagen ihn nicht fort.
Sein gelbes Auge sah die Gegenwart
aus Speichern flammen. Er frisst
die Asche aus unseren Händen.




22.03.2005 01:19:00 

Robert Creeley (1926-2005)


In London

*

(Homesick, etc.)

There is a land
far, far away
and I will go there
every day.

*


"Kann mir das alles gefallen, als was ich mich erweisen mag, oder spielt das keine Rolle? Lebe ich bloß meiner eigenen Billigung? Beim Schreiben schien es mir, daß solche kleinen Existenzbegriffe vollständig abwesend wären (...)."

26.04.2005 12:22:09 

Vorspiel


(...)
Reißen und Knüllen. Stücke tauchen auf, Phrasen, Schläge, von Schichten anderer Klänge verkrustet wie Fossilien ausgestorbener Wesen, von Ablagerungen zerfressen. Die Gedächtnispartituren sind unvollständig, die Schwärme der Läufe gelichtet von Verlusten. Die sammeln sich in den Augenhöhlen, etwas knirscht mit zahnlosen, doch scharfen Kiefern, und sie hört sofort auf damit, drückt mit der Bogenhand die Blätter zu federleichten Hälsen zusammen.
Die kleinen Dinge verschwinden zuletzt. Der synkopische Punkt, der das Leben eines Tons um die Hälfte verlängert. Mutters Hut, ein wenig zu schräg auf der Frisur. Das Gesicht darunter ist verschwommen wie das Zifferblatt hinter einem altersstumpfen Uhrglas, aber sie sieht noch die hochgezogenen Brauen, die Lider, gestrafft von Mutters Ausgehblick in den Flurspiegel. Vaters Anzug, den er im Theater trug. Ihre Schultracht aus blauem Stoff - oder war´s grauer? - in der sie sich hölzern und unhübsch vorkam. Die Silberkette an ihrem Hals, die Arthur ihr zum zwölften Geburtstag schenkte, ihr Kleid aus knittriger Baumwolle, das die Mutter dem Mädchen aus Wien schenkte. Ein Halbtakt, den Arthurs nervöse Stimme unter die Zimmerdecke flattern lässt, ein Sperling, der gegen die unbegreifliche Barriere der Fensterscheibe fliegt, der Stuck an den Decken, die ganze abgeschabte Pracht des Hotels.
Reißen und Knüllen.
So oft sie mit Arthur ins Hotel kam, waren das Mädchen und dessen ältere Schwester Martha auf ihrem Zimmer, während ihr Vater, den sie, Grete, Onkel Ernst nannte, in seinem über Papieren brütete. Arpa, pianissimo, Silben. O-sei-nicht-bang. Niemand musiziert. Onkel Ernst, der sich umwendet, heillos überrascht den Kopf senkt, sagt, und diese Leute sprechen unsere Sprache.
Ihr schien es, als würde gar nicht gesprochen. Hände, hastig zwischen Papieren, Kleidungsstücken, in Koffern und Schüben. Die Instrumente in ihren sargähnlichen Kästen. Die bauchigen, gelackten Körper schlagen, schlagen an Knie und Schienbeine. Der hohle Laut aus dem Innern eines Cellos. Der Wind auf dem Weg vom Hotel, der regenborstige Fluss. Ein wiederkehrender, in die Dunkelheit der Holzbläser tropfender Doppelschlag, ein Zirkelschluss, eine in die Wolkenkuppel jenes Tages steigende Spirale. Wer-den-sie-wie-der-nach-Hau-se-ge-lan-gen. Arthurs Finger, die Marthas streifen, ihnen den Zusammenschall der Streicher andeuten.
Zu Hause Vaters Stimme. Er spuckt Wörter aus, wie ein Hund nach einem Knochen schnappt. Der Knochen ist, was Vater eine un-mög-li-che-La-ge nennt. Es ist unklar, wessen Lage er meint. Die der Mädchen, die nun auf ihrem, Gretes, Bett sitzen, den Cellokasten zwischen sich? Ihre eigene in Mutters Bett? Neben ihr der Atem ist so sacht, dass sie weiß, die Mutter ist wach.
Also Mutters Lage? Die Haltung, in der sie die Kellertreppe heraufkommt? Das warme Rascheln ihres Kleides, als sie in die Küche geht, ein Bündel in den Wäschesack stopft, das klare Plätschern, als sie sich die Hände wäscht, das weichere, fettige Gluckern der Milch, die in eine Kanne gefüllt wird, das Raspeln, mit dem das Messer in die Kruste des Brotes fährt, das holzige Stakkato, mit dem die Mutter alles auf ein Tablett stellt.
Oder die Lage des Onkels, zwischen Kohlehaufen, Kartoffelsäcken und Stellagen in dem Faden Licht, der durch die Gitter des Kellerfensters passt, über Papiere gebeugt wie zuvor in seinem Hotelzimmer? Er sagt nichts, er kaut und sieht sie mit dem freundlich zerstreuten Ausdruck an wie sonst, indem er in eine Tüte unter dem anderen Papier greift und ihr etwas in die Hand drückt, und sie kneift die Augen zusammen, während die Karamellen in ihrer Faust zu steinschweren Trauben geballt schmelzen, starrt sie auf die Linien, die Linien auf den Papieren, zwischen denen es anläuft, anrennt, abrinnt, auf die Gitter der Linien.
Und dann, einen Tag vor dem Feuer, ist der Keller wieder ein unübersichtlicher, verlassener Raum, an dessen Ziegelwand sich jetzt Arthurs Schatten krümmt, in Fötuslage. Oder war das nach dem Brand?
Schutt, der ein paar übriggebliebene Pfeiler stützt. Dem Gedächtnis ist zu misstrauen. Es kann sein, dass ein verlorenes Bruchstück durch ein anderes ersetzt wird. Sobald das geschieht, ist nichts mehr sicher.

(Stückwerk)

30.04.2005 13:33:01 

Vorspiel (2)


(...)
Geknister, Wispern, nah genug, um es mit einem Aufstampfen zu unterbrechen. Wieder wach, rafft sie die Blätter vom Tisch, geht über den Flur, wirft das Papier ins Becken und spült, bis es mit einem letzten, im Abwasserschlund verschluckten Gurgeln verschwindet.
Es wird Zeit für die Umrisse, für das Taggesicht der Dinge. Die tun, als seien sie nie etwas anderes als ein Sofa, ein Kasten, ein Vorhang. Durchsichtig, das sind sie. Falsch. Kulissen. Larven.
Rohrrauschen, irgendwo Rufe, im Schutz der Nacht kommen Männer in ein Haus. Draußen der erste Bus, Türen zischen, etwas heult auf, Pflasterpizzicato, jemand kommt zu spät, Klackern, mal hell, metallisch, mal stumpf, städtische Instrumente, und dahinter, hinter Kastentüren, unter Leintüchern, Zeitungen und Zwiebelsäcken verstecktes Holz, das sich allmählich verzieht, beschlagenes Blech, Saiten, die beim ersten Versuch, sie klangrein zu machen, reißen, Geräusche, Geräusche. Sobald sie wieder in den Halbschlaf absänke, rückten die näher. Es gibt keine Stille. Still ist es nur hinter der Tür, vor der man wartet, und solange man wartet. Alles geschieht genau in dem Augenblick, wenn man in seiner Aufmerksamkeit nachlässt.
Wie beim Verstecken in Mutters Schrank, in der nach Käse und Mehl riechenden Speisekammer oder im Keller. Arthur fand sie immer, wenn sie gerade an etwas anderes dachte. Sie hatten Dutzende Verstecke. Nein: er musste Dutzende gehabt haben. Stundenlang, so kam es ihr vor, durchstreifte sie das Haus, schaute hinter Gardinen, unter Tische und in Nischen, sogar zwischen Bücherkasten und Wand, als könnte Arthur, verzwergt wie ein Märchentroll oder aufgelöst zu einem geisterhaften Gas, sich in dem Spalt verbergen. Suchte, fröhliche Herausforderungen rufend zunächst, dann zweifelnd, verbissen und schließlich verängstigt. Das Spiel hörte auf, lustig zu sein. Es hörte auf, ein Spiel zu sein. Wenn sie zu weinen anfing, kam er zum Vorschein, lachte sie aus, während sie in seinen mageren Jungenarmen vor Erleichterung schluchzte.
Manchmal blieb er verschwunden. Vielleicht vergaß er sie, vielleicht schlief er einfach ein, und sie gab auf, entmutigt, zornig, einsam.
An anderen Tagen suchte sie weiter. Nicht, dass sie an solchen Tagen entschlossener gewesen wäre, ihn zu finden, im Gegenteil. Es war, als hätte sie den Punkt, an dem man mit etwas aufhören kann, überschritten. In Wirklichkeit erwartete sie dann nämlich nicht mehr, Arthur zu finden, sondern etwas Unvorstellbares, das mit einem unmenschlichen Laut auf sie einstürzen musste. Mit einem Rest Vernunft sagte sie sich, dass das Unvorstellbare nichts als eine Täuschung wäre und sich in der Sekunde, da sie es fände, wieder zurückverwandeln würde. Mit derselben Vernunft wusste sie, dass dieser Moment genügen würde. Dass sie Arthur jetzt nicht finden durfte, wenn sie unversehrt bleiben wollte, dass er darum, aus Liebe zu ihr, in seinem Versteck blieb, und dass sie gerade darum nicht aufhören konnte zu suchen.

(Stückwerk)

10.05.2005 14:17:39 

Morendo


Wie wird es sein? Ein Rauschen im Innenohr, eine dumpfe Detonation in der Herzgegend, ein Knistern im Hirn? Wird man es kommen spüren? Hören? Wird es überhaupt sein, als käme, oder eher, als entweiche etwas in ein Vakuum, ähnlich dem im Gefolge eines vorüber donnernden Zuges? Wird es Schmerzen geben, ein Schneiden oder Brennen, Druck, wird man zu zerbersten glauben wie ein Opfer in einem Splattermovie oder wie eine Supernova? Wird es irgend etwas geben, woran einen das Ereignis im Augenblick seines Eintretens erinnert, wird es sonst eine Erinnerung geben, den Kreis, der sich schließt, Bilder von Feinden, Fremden, Begehrten, von einmal befahrenen Landschaften, vertrauten Stadtvierteln, Häusern, von Umzugskartons, Möbeln, Mahlzeiten, Körpern? Wird es gleichmütige Schwestern geben, die einem die Stirn trocknen, wird man Wert darauf legen, Kinder, Freunde, die rufen, die Lichttunnelbohrung ins gebannte Auge, von der man gehört hat? Wird es sein, als würde man gezogen, in einen Schlund, einen Mahlstrom, oder taucht man einfach ab, in einen See vielleicht, unbewegt und glasklar wie auf Fotos im Katalog eines Reisebüros? Wird es einmalig sein oder wenigstens so scheinen, oder wird es sowieso auf das Gleiche hinauslaufen wie am Anfang, wo man auch nichts mitbekommen hat? Wird man es erwartet haben wie den Geburtstag, als man fünf war, oder wie ein Prüfungsergebnis, wird es einem peinlich sein, wird man sich beschmutzen? Wird man sich getäuscht fühlen, als folge auf die ewigen Wiederholungen eine weitere? Wird es gerafft oder in Zeitlupe vollzogen werden und die Chemie der Schläfenlappen einen aus dem Geschehen entfernen, es neutralisieren, den Schluss in eine Zukunft verlegen, für deren Erleben die verbleibende Echtzeit nicht reicht, wird es also Frieden geben, Reue, Ruhe, Gott, wird es einen interessieren? Wird man letzte Worte haben? Fragen?

(Stückwerk, 1. Zwischenkapitel)

18.05.2005 13:25:32 


(...)

Kein Straßengeräusch drang durch die Fenster, als schottete der kondensierte Dunst an den Scheiben den Übungsraum nach außen ab. Dafür waren die Innenmauern umso durchlässiger, wenn Mila gewollt hätte, hätte sie lauschen können, wie jemand nebenan ein Stück Papier zusammenknüllte.
"Nun, wie war Ihr Eindruck?" fragte Brandt.
Seine Zunge rollte im Gaumen hin und her, nach einem Fetzchen Wurst etwa, oder einem Schokoladenkrümel. Er seufzte.
"So wird es nicht gehen", fuhr er, wiederum seufzend, fort. "Auf diese Weise werden Sie gar nichts erreichen. Verstehen Sie?"
Mit fragendem Blick wartete er ab, dass sie verstand, also nickte sie, was er, sichtlich erfreut, erwiderte.
"Meinen Sie die Phrasierungen? Ich habe mir das Lied noch mal angehört, in einer Aufnahme mit Kathleen Ferrier -"
Seine Lippen wurden schmal vor Lächeln, während er eine fleischige Hand hob, um sie langsam vor ihrem Gesicht hin und her zu schwenken.
"Ich spreche nicht von technischen Schwächen oder von Ihren Schwierigkeiten mit dem Metrum, besonders hier", er bedeckte die Stelle mit den Fingerspitzen wie einen blauen Fleck, "im letzten Drittel, aber das ist Ihnen selbst aufgefallen, ja? Das ist nur eine Frage ausreichender Übung. Nein, ich spreche davon, dass Sie dieses Lied missverstehen, in bedauerlicher Weise aber auch ganz und gar missverstehen. Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen... Kindertotenlieder, ja, aber keine Klagelieder. Besonders dieses vierte ist geradezu das Gegenteil davon. Bald werden sie wieder nach Hause gelangen. Hören Sie das? Und das hier: O sei nicht bang - Sie müssen es hören, da drinnen", Brandt deutete auf eine Ader an seiner Schläfe, als empfehle er ihr einen Ausweg aus der Misere, der zumindest ladylike war, "versuchen Sie doch wenigstens, sich vorzustellen, wie das klingen müsste."
Es war seine ständige Forderung. Stellen Sie sich vor: Das Gesicht als Instrument aus Knochen und Fleisch, den Körper als Resonanzraum, die Distanzen zwischen Bauchraum, Thorax und Kehle als Zeit, die ein Ton braucht, stellen Sie sich vor, Gesang beruht auf Vorstellung. Möglich, aber hier schienen ihre Vorstellungen eher hinderlich zu sein.
Wenn sie an die Kindertotenlieder dachte, sah sie Mahler im Juli 1907. Er dirigiert Figaros Hochzeit beim Mozart-Fest in Salzburg, danach fährt er mit der Familie in die Ferien. Es ist ein guter Sommer. Hitze im Garten des Hauses am Wörthersee, Mohn in den Feldern, übersattes Flirren, fiebriges Wachstum, Wuchern rundum, und über dem Garten schon die Wolkenfront der nahenden Katastrophe. Sie sah Mahler in Tirol, wohin er für den Rest des Sommers geflohen war, überfallen von "der schrecklichen Stimmung der Einsamkeit", wie Alma später berichtete, und "maßlos traurigen Gedichten". Doch das waren andere Lieder gewesen, jene, die erst im Herbst 1911, nach Mahlers Tod, als Lied von der Erde uraufgeführt werden sollten. Die Kindertotenlieder aber veröffentlichte er, zwei Jahre bevor seine Tochter Maria Anna starb. Von welchem Nutzen konnten Vorstellungen sein, wenn sie auf dermaßen plumpe Fälschungen hinausliefen? So oft sie sich das Oft denk ich dachte, hörte sie die Geräusche eines falschen Sommers, und kein besseres Wissen konnte diese Vorstellung berichtigen. Vielleicht enthielt sie sogar einen Kern, nicht wahrer als die Zeittafeln, bloß anders gelagert und auf anderes weisend: In seiner letzten vollendeten Symphonie, der Neunten, nur wenige Takte vor dem Ende des ganzen Werks, kehrte Mahler zu den Kindertotenliedern zurück, nicht tongetreu, aber unverkennbar wird die Passage der Gesangsstimme noch einmal erfunden, in der es heißt: Wir holen sie ein auf jenen Höh´n im Sonnenschein.
"Kein Jammern. Mut, Überwindung", dozierte Brandt weiter. "Vergessen Sie nicht, diese Lieder wurden ursprünglich für eine männliche Stimme geschrieben."
Mila warf einen Seitenblick auf die Uhr über der Tür. Die Stunde war fast um.
"Man darf sich da nicht vom Thema täuschen lassen, überhaupt, lassen Sie sich nicht von irgendwelchen Themen irritieren! Mahler pflegte zu sagen, wer eine Musik nach Themen und Motiven beurteile, könne genauso gut versuchen, einen Menschen über dessen Zellen zu verstehen, aber - so kommen wir nicht weiter."
Brandts Miene war die eines enttäuschten Nachhilfelehrers, er hatte zu schwitzen angefangen. Um an ihre Noten zu kommen, hätte sie sich an seiner Schulter vorbeidrängen müssen. Sie nahm den Weg um den Flügel herum.
Brandt lehnte sich zurück, die Fingerspitzen der rechten gegen die der linken Hand legend, das so errichtete Spitzdach rhythmisch öffnend und schließend wie eine hungrige Venusfalle. Als wollte er ihr seine Anwesenheit in diesem Moment ersparen, sondierte er die Zimmerdecke: im oberen Stockwerk musste es eine Überschwemmung gegeben haben, der Putz zeigte interessant marmorierte Flecken. Dann senkte er bekümmert den runden Schädel: "Dabei könnten Sie doch ganz passabel singen."

(Stückwerk, aus dem 1. Kapitel)

31.05.2005 14:59:11 


In ihrem Zimmer mit Tisch standen die Lautsprecher wie in die Ecken gewachsene Wächter. Sie verdrängte die Panik beim Gedanken an die Stelle der Dritten von Schostakowitsch, bei der sie vorhin gestoppt hatte. Es handelte sich um eine neue Aufnahme sämtlicher Symphonien Schostakowitschs, sie hatte also noch zwölf und eine halbe vor sich, und wenn sie an den Abgabetermin nächste Woche dachte, wünschte sie einmal mehr, die Tatsache, dass es letzten Endes keinerlei Bedeutung hatte, zu welchem Urteil sie in dem Artikel kam, hätte ihr zu mehr Gelassenheit verhelfen können. Den üblichen Kürzungen fiel immer das Wichtigste zum Opfer: der Anfang oder der Schluss, manchmal beides.
Im Zimmer mit Bett setzte sie sich neben den Plattenspieler auf den Boden, ließ die Vinylscheibe, eine ihrer heiseren Veteraninnen, aus der Papphülle gleiten, fing sie auf: Das Adagio aus Mahlers Zehnter, nicht in der von Deryck Cooke ergänzten Fassung, von der sie nicht mehr erfahren würde, wie sie Margarete gefallen hatte, sondern in einer Aufnahme von 1952 mit dem London Philharmonic Orchestra, dirigiert von Hermann Scherchen. Den Mittelfinger in der Nabe, den Rand auf der Innenseite des Daumens, die Spanne dazwischen wie geeicht, zelebrierte sie die alte Vorsicht mit dem Tonarm. Die Musik setzte ein, noch verhalten, gezügelt, beinahe zögerlich. Wie jedes Mal hörte sie die ersten Minuten mit der Ungeduld, die sie im Voranschreiten des Adagio an das Gefühl erinnerte, mit dem sie als Kind manchmal aus schweren Träumen aufgewacht war, verschwitzt und nach Luft schnappend mit einer Gier, dass sie gar nicht tief genug Atem holen konnte.
Einen Halbtakt vor dem Neuntonklang blieb die Nadel hängen. Dieser Apparat, hatte Thomas gesagt, während er ihr beim Packen zusah, wann gewöhnst du dich endlich daran, dass du dieses Gekratze nicht mehr haben musst, oder nimm wenigstens den automatischen, aber sie liebte das feine Knistern, es war wie ein Mitschnitt der Spannung, die im Saal geherrscht haben musste, das, hätte sie Thomas antworten können, das ist der Ton der wirklichen Entfernung.

(Stückwerk, aus dem 1. Kapitel)

16.06.2005 15:16:54 

   1 2 3 4 5   
counterreferrer