ein bild

Aus dem Off


Aussicht

Der offne Tag ist Menschen hell mit Bildern,
Wenn sich das Grün aus ebner Ferne zeiget,
Noch eh´ des Abends Licht zur Dämmerung sich neiget,
Und Schimmer sanft den Glanz des Tages mildern.
Oft scheint die Innerheit der Welt umwölkt verschlossen,
Des Menschen Sinn von Zweifeln voll, verdrossen,
Die prächtige Natur erheitert seine Tage,
Und ferne steht des Zweifels dunkle Frage.

Mit Unterthänigkeit
Scardanelli.
Den 24ten März 1871


(Und jetzt bitte den Volltext zum Bild!)



02.11.2005 13:12:39 

Stationen


(...)

Den Tadsch Mahal des Wheel-Kaufhauses im Rücken und die Füße am Wasser, hatte es schon Momente gegeben, die nicht aussahen wie die Ewigkeit.
Durban war bisher ihre beste Station gewesen, das Zweizimmerappartement mit Kochnische, der feine Sand, durch den man stundenlang waten konnte, wenn man erst mal die Promende hinter sich gelassen hatte, die Schlipsträger, die in der Mittagspause mit dem Surfbrett unterm Arm aus den umliegenden Bürohäusern zum Wasser strömten, die an den Leinen ziehenden, vor Hitze wütenden Hunde. Die ganze Aufregung war wenige hundert Meter weiter vergessen wie die Schilder mit den Warnungen vor Haien. Einmal hätte sie fast nachgegeben, entschied sich aber dagegen. Erik ging nie ins Wasser.
Im Wheel standen sie vor den Auslagen der Juweliergeschäfte, fachsimpelten über Design und Preise der Stücke. An ihrem letzten Tag in Durban kaufte Erik sich eine Damenuhr. Die Irritation des Verkäufers war ihr peinlich, und sie lächelte ihm aufmunternd zu, während Erik die Uhr umband und mit flotter Gebärde bezahlte. Anschließend gingen sie zum Strand, um seine Freude über den Kauf zu feiern. Sie aßen Weißbrot, Käse und getrocknete Aprikosen, und sie lächelte, bis es dunkel war.

(...)

In Hermanus hätte nicht viel gefehlt, aber dann, oberhalb der Klippen, sagte Erik: "Wenn es einen Ort gibt, den ich mir vorstellen kann, dann den."
Sie sah auf die Häuser unter ihnen - blendend weiß vor der Brandung, saubere Rechtecke, und roh wie die Skizzen, die sich unter ihrem Bett stapelten, deckungsgleich mit den Aufnahmen, die sie vor Jahren von derselben Stelle mitgebracht hatten: der Ozean, der Himmel, das Paar am Aussichtspunkt - und wartete.
"Ein, zwei Jahre, dann ist Schluss, verlass dich drauf", fuhr er fort, "keine Beschriftungen mehr, keine Anzeigen. Meine Sachen."
Sie nickte. Gleich würden sie wieder in den Wagen steigen, langsam die grellen Serpentinen abwärts fahren, und er würde das Restaurant finden, in dem es diesen göttlichen Fisch gab.

(...)

Irgendwo zwischen East London und Kapstadt hatten sie sich verfahren, das erste und bisher einzige Mal während dieses Urlaubs, aber beide taten sie, als sei Erik mit Absicht so früh abgebogen und der Besuch im Gehege eine Überraschung, die er für sie in petto gehalten habe.
Das Gehege war klein, etwa zehn Kilometer im Durchmesser. Hohe Zäune trennten Jäger und Gejagte voneinander, pro Abteilung gab es eine Wasserstelle, hässliche Brunnen aus Beton, auf deren trübe Wasserspiegel sich Myriaden von Fliegen niederließen, aufschwebten und wieder herabsenkten wie Rauchzeichen. Die Tiere, eine kleine Schar staubfarbener Springböcke und einige alte Schimpansen, wirkten abgestumpft, Mangel an Platz und an natürlichen Feinden.
Bei den Löwen stellte Erik den Motor ab, die Luft summte unter einem blassen sonnenlosen Himmel.
Schläfrig betrachtete sie die um ein paar Fleischbrocken lagernden Katzen. Ab und zu erhob sich eine, umkreiste träge die Gruppe, um sich einen Augenblick später wieder der allgemeinen Apathie zu überlassen. Manchmal lief ein Zittern über die ausgestreckten Körper, zuckten Tatzen wie in Träumen von Jagd und Rausch.
Immer noch ohne einen Verdacht, griff sie nach der Flasche Mineralwasser, die sie auf der Rückbank deponiert hatte. Ein heißer Luftzug kitzelte die Härchen auf ihrem Arm. Die hinteren Fenster waren offen, herunter gekurbelt bis zum Anschlag.
"Bleib ganz ruhig", sagte sie leise.
"Na, hast du´s endlich gemerkt?" Er drehte den Zündschlüssel und steuerte den Peugeot vor das Gittertor, sie mussten warten, der Angestellte, der sie eingelassen hatte, war nirgends zu sehen. Erik drückte auf die Hupe, vielleicht, weil in diesem Moment die Sonne den Dunst durchschlug.

(...)

Minus Magenta (2000)

04.11.2005 13:59:34 

Carol Ann Duffy


Mich erinnern


Es gibt nicht genug Gesichter. Deines gähnt dir zu
wie jemand anderem, nur blasser, dann der Moment,
in dem du schon den nächsten siehst und dich vergisst.

Es müssen Träume sein, die uns unterscheiden,
private Zellen in einem allgemeinen Schädel.
Eine sieht aus wie die andere, mit anderen Erinnerungen.

Verzweiflung starrt sich aus U-Bahn-Wagen an, du rennst
auf den Bahnsteig, die Türen schließen. Jeder, den du triffst,
sagt dir stumm schamlose Wahrheiten. Manchmal, aus der Menge,

einer, dem du einen Namen gibst, als schnipptest du
Erfundenes ins Faktum. Meistens geht dein Liebster
im Regen vorbei und erkennt dich nicht, wenn du sprichst.

09.11.2005 13:57:25 

Carol Ann Duffy


Stehlen


Das ungewöhnlichste Ding, das ich je stahl? Ein Schneemann.
Mitternachts. Er sah herrlich aus, eine hohe, weiße Sprachlosigkeit
unterm Wintermond. Ich wollte ihn, einen Kameraden
mit einem Verstand, kalt wie die Scheibe Eis
in meinem Hirn. Ich fing mit dem Kopf an.

Besser tot als sich ergeben, nicht nehmen,
was man will. Er wog eine Tonne, sein Torso,
ein gefrorener Leichnam, umarmte meine Brust, eine glühende Kälte,
die mir in die Eingeweide drang. Ein Teil der Erregung war das Wissen
um die Kinder, die am Morgen weinen würden. Das Leben ist hart.

Manchmal stehle ich Dinge, die ich nicht brauche. Mache Spritztouren
in geklauten Autos nach Nirgendwo, breche in Häuser ein, nur um sie
mir anzusehen. Ein dreckiger Geist, der Chaos hinterlässt, vielleicht
eine Kamera mitgehen lässt. Ich sehe zu, wie meine Finger
am Türknauf drehen. Das Schlafzimmer eines Fremden. Seufze - etwa so.

Es dauerte eine Weile. Wiederversammelt im Hof
schien er nicht mehr derselbe zu sein. Ich nahm Anlauf.
Und trat zu. Wieder. Wieder. Mein Atem ging stoßweise
in Fetzen. Jetzt kommt mir das blöd vor. Hinterher stand ich
allein zwischen Klumpen von Schnee und hatte die Welt satt.

Langeweile. Meistens bin ich gelangweilt, dass ich mich fressen könnte.
Einmal stahl ich eine Gitarre und dachte, ich könnte spielen lernen.
Ein andermal schnappte ich mir eine Shakespeare-Büste
und zerdrosch sie, aber der Schneemann war am merkwürdigsten.
Du verstehst kein Wort von dem, was ich sage, oder?

10.11.2005 14:56:09 

Carol Ann Duffy


Glückshaube


Nein, ich erinnere mich nicht an das Ding selbst.
Ich erinnere mich an das Wort.
Eihaut, innere Membran, Glückshaube.
Ich werde nie ertrinken.

Vergangenheit ist Zukunft, die auf Träume wartet,
und sich dort finden wird.
Ich kam in einem Schleier gelassenen Glücks
und lächelte der Welt zu,

wo ein Mann eine Frau bat, zu erzählen,
wie es sich anfühlte, wie es aussah,
und ein Matrose ihnen meinen Zauber abkaufte,
um ihn zum Meer zu tragen.

Ich stelle sie mir vor, jetzt, eine zähe Hülle,
nicht größer als eine Hand
und leer wie meine, unter den Wellen
oder als Treibgut am Strand.

Ich bin, was davon übrig ist.
Es läuft ab wie ein Film,
den ein begabter Freund nachspielen könnte,
gewöhnt an Selbstgespräche.

Das Licht einer Kerze, erblickt in der Glückshaube,
die man mir vom Scheitel löste, an dem Tag,
als alles weggenommen wurde außer diesem fort-
dauernden Wort.

16.11.2005 11:26:10 

Carol Ann Duffy


Liverpooler Echo


Einst küsste dich Pat Hodges, obwohl du da noch schüchtern warst
im Jahre `62. In der Matthew Street der dünne Strom Gedränge
und wie das Echo eines Schlags die endlos fallende Wassermenge,
als hieße es schon Nostalgie, dass du nicht starbst.

An öffentlichen Telefonen weinen, die Gesichter hart wie Karst,
die Frauen von der Merseyside, lieblos in ihrer Zellenenge.
Ain´t She Sweet - eine uralte Jukebox leiert Gesänge
in dieses Liverpool ohne Lebewohl und ohne ein Das war´s.

Hier weiß doch jeder seine eigene Anekdote,
wie er dich traf, ein jeder aus der Meute
war dir der beste Kamerad. Möwen umkreisen die Boote

auf dem Fluss, und von der späten Fähre treiben Leute
in den Regen, wie es Abfall, Reste, tote
Zweige auf die Wellen treibt, und warten, sogar heute.

21.11.2005 12:56:22 

Nach Löwenzahn jetzt


Disteln


Die Stauden durchduckt, ihr Zittern
in den Händen zerdrückt, Blitzpflanze:
eine Sohle aus Kies tritt uns in die Brache
zwischen Bahndamm und Haus auf dem
was früher der Heimweg hieß, jetzt

kommt Hagel. Wie ich liebe, wie
die Achtzehnuhrsonne mir oft kam
dass es mich anwurzelte hier
neben den Gleisen, mit Blick auf
seit Jahren entladene Waggons, blühend

vor Rost. Wo wohnen, so ohne Ziegelmauer-
rot, südlich? Wo Felder sind, Kolonien
für Purpuraussatz, Schutzgebiete, kleiner
Orden, der sich ansteckt über und
drunter gegen den Donner, dona nobis oder wie

ging das? Stehen, du kindsgroß, ein einziger
Stich, ich eine feindliche Art, voller Bewunderung
unter den Fronten von Eisen und Dunst
die endlich eilig heilen zu einer
Station, schrundig, schrottgrau, im Raum.


(Zufällig trifft man sich nur, wenn man schnell ist - lieben Gruß, Arne!)

21.11.2005 14:20:46 

Erinnerungen an Katzen


Beim Übersetzen des ersten von vier Gedichten eines Zyklus von C.A. Duffy kam es mir plötzlich so vertraut vor, als hätte ich etwas sehr Ähnliches schon einmal an anderer Stelle gelesen, fast, als kennte ich seine "Vorlage". Schließlich fand ich das Gedicht, an das mich Duffys Text vermeintlich erinnert hatte, bei Pablo Neruda - und stellte fest, dass es, vom Bildgegenstand abgesehen, zwischen seiner Ode an die Katze und dem Duffy-Gedicht tatsächlich überhaupt keine Verbindung gibt.
Trotzdem hier ein Auszug aus der Ode, eine Stelle, die mich, als ich sie nun nach Jahren wieder aus der Versenkung holte, noch genauso aufheiterte wie beim ersten Lesen (und mich meinem Gedächtnis wenigstens in dieser Hinsicht trauen lässt):

"(...) bestimmt ist / in deinem Benehmen / kein Rätsel, / wahrscheinlich bist du kein Geheimnis, / alle Welt kennt dich und du gehörst / dem weniger geheimnisvollen Bewohner, / womöglich glauben es alle, / alle glauben sich Herren, / Eigentümer, Onkel, / von Katzen, Gefährten, / Kollegen, / Schüler oder Freunde / ihrer Katze. //
Ich nicht. / Ich unterschreibe es nicht. / Ich kenne die Katze nicht (...)"

übertragen von Erich Arendt

25.11.2005 12:42:07 

Carol Ann Duffy


Sterbestempel. Werdewürfel

1

Als ich Katze war, warf sie mir Kandiertes zu
von ihrem Lager aus. Selbst die Soldaten taten ehrerbietig
- sie dachte mich heilig - ich sah mein glattes Abbild
die Brustschilde wölben und schnurrte

meinen unaufhörlichen Ton im Gräberschatten.
Damals war die Welt von feinen Drähten begrenzt,
die in meinem Katzenhirn wurzelten, zitternd
von Kenntnissen. Sie streichelte mein schwarzes Fell, sang

ihre anderen, rasenden Laute in mein Ohr, diese
Bedeutungen, nicht zu entschlüsseln von mir. Später
löschte ich meine leere, belegte Zunge mit einer Schale Milch,
dann schlief ich und fraß wieder Flussratten.

Sie pflegte Kiesel auf die Erde zu schleudern, suchte
mit langen, goldenen Nägeln nach Logik im Chaos
oder tauchte ab in die Mondlache,
löste sich auf in zerstiebende Tropfen.

Ich war da, Halsband und Augen blank, blinkend,
mein kleines Herz unparteiisch. Noch jetzt, am Ende
meines Rückgrats, regt sich träge die Erinnerung an einen Schweif
und erklärt mir die Nacht. Leichter Wind. Eukalyptus. Sternenkarte,

oben, die uns nichts verriet, blindlings verstreute Kiesel.
Der Mensch kam im Morgengrauen mit seiner Angst und kämpfte
sie nieder, bis sie in die Stille stöhnte, ihre beringte Hand,
eine Schablone des Todes, tastete über mein Gesicht.

25.11.2005 12:58:15 

Brot


"Brot öffnet jeden Mund." (Stanislaw Jerzy Lec)

"Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen." (Marie Antoinette fälschlich zugeschrieben.)

"Ein guter Witz geht immer für ein Stück Brot, und ein leichter Sinn ersetzt manchen Becher Wein." (Gottfried Keller)

"Die Kunst ist zwar nicht das Brot, wohl aber der Wein des Lebens." (Jean Paul)

"Wir haben im Brot ein Werkzeug menschlicher Gemeinschaft kennen gelernt (...) Der Geschmack des geteilten Brotes hat nicht seinesgleichen." (Antoine de Saint-Exypéry)

"Alle Dinge lassen sich sagen, und Käse und Brot lassen sich essen." (Aus den Niederlanden)

"Unter dem Wasser ist Hunger, unter dem Schnee Brot." (Aus Schlesien)

28.11.2005 15:21:29 

Carol Ann Duffy


Wieselworte

      Man erklärte Sir Robert Armstrong,
      "Wieselworte" seien "Wörter, leer
      wie von Wieseln ausgelutschte Eier".



Lassen Sie mich wiederholen: wir Wiesel wollen nichts Böses.
Sie haben vielleicht gelesen, wir seien bösartige Jäger,
aber das ist absolut nicht der Fall. Pures Vorurteil
aus einem Kapitel Ihres Naturkundebuchs. Hört, hört.

Wir sind ranke, schlanke Fleischfresser, allerdings
mit kurzen Beinen, und wir haben das nie abgestritten.
Außerdem könnte sich jeder hier und heute ein Wiesel
ins Hosenbein stecken, und nichts würde passieren.
                                                            Wieselgelächter.

Was mehr ist, als man von den Frettchen sagen kann.
Einem Wiesel können Sie trauen, lassen Sie mich fortfahren,
ein Wiesel bricht seinem Opfer das Genick nicht mit einem Biss.
Wieselbeifall. Unsere dunklen Pelze werden im Winter weiß.

Und was die Eier betrifft, hier ist ein ganzes Ei. Es gleicht einem
Ei. Es ist ein Ei. Schlürfen. Ein Ei. Schlürfen. Ein hohles
Ei. Schlürfen ...
                 Schlürfen ...




(Danke, Mirko, Gruß zurück und das angekündigte Gedicht. Ich bin auch nicht sicher, ob das Zitat von Marie Antoinette stammt. Beim Versuch, mir vorzustellen, wer das angesprochene "du" hätte sein können, kam mir nur ein Sketch in den Sinn. Schauplatz: Das Jenseits. Ziemlich spät, es wird schon geputzt. Marie Antoinette, überm Damebrett brütend, zu ihrem Gegenüber: "Du sagtest, wir könnten spielen, hast aber nie gesagt, wie lang." Darauf er, natürlich kein Geringerer als Kurt Schwitters: "Wir spielen, bis der Tod uns abholt." Eine ältliche Frau mit Wischmob und guten Ohren schüttelt den Kopf: "Ach was, das Spiel dauert 90 Minuten.")

29.11.2005 12:38:14 

Carol Ann Duffy


In Mrs. Tilschers Klasse


Du konntest den Blauen Nil hinauffahren
mit deinem Finger, die Route nachzeichnen,
während Mrs. Tilschers Singsang Schauplätze beschrieb.
Tana. Äthiopien. Khartoum. Aswân.
Das eine Stunde lang, dann die Portion Milch und auf
kreidigen Pyramiden herumgeritten, bis sie zerfielen.
Ein Fenster, aufgestoßen wie von weit her, vom Pol aus.
Das Lachen einer Glocke schwang im Rennen eines Kindes.

Es war besser als daheim. Zauberbücher.
Der Klassenraum glänzte wie ein Süßwarenladen.
Zuckriges Papier. Bunte Gestalten. Brady und Hindley
verblassten wie der matte, unsichere Fleck eines Fehlers.
Mrs. Tilscher liebte dich. An manchen Morgen fandest du
einen goldenen Stern neben deinem Namen.
Der Duft eines Stiftes, langsam, achtsam angespitzt.
Der Unsinn eines Xylophons aus einer anderen Klasse.

Über Ostern wurden aus den tintigen Kaulquappen
der Kommata Ausrufungszeichen. Drei Frösche
hüpften übern Sportplatz, losgelassen von einem Dummkopf,
gefolgt von einer Horde Kinder, die unter Gequake
aus der Schlange sprangen, die zum Mittagessen anstand.
Ein ruppiger Junge erzählte dir, wie du geboren wurdest.
Du gabst ihm einen Tritt, aber als du nach Hause kamst,
starrtest du deine Eltern an, entsetzt.

Dieser fiebrige Juli, die Luft schmeckte elektrisch.
Eine greifbare Angst machte dich pausenlos fahrig, heiß,
reizbar unter dem nahen, drückenden Himmel.
Du fragtest sie, wie du geboren wurdest,
und Mrs. Tilscher lächelte und wandte sich ab.
Zeugnisse wurden verteilt. Du ranntest
durchs Tor, ungeduldig zu wachsen,
als der Himmel unter Donner zersplitterte.

02.12.2005 12:56:30 

Jelena Schwarz


3. An die Sonne vor Weihnachten

Von einem dunklen Platz
zum nächsten dunkleren treiben
vor Weihnachten Passanten, wissen
die Sonne diesig grün verschlissen
in Richtung Hölle rollen. Halt,
Sonne: vieles blieb unerledigt liegen,
um starre Augen zu beglühen
ist immer Zeit. Bleib, wache
wie früher über rosiger Täuflingsbrust
uns auf, genauso dämmere, steige an
glänzend glatten Wanten, und wenn
nur langsam, scheinbar unter Mühen.
Die Toten haben dich nicht nötiger
als wir, in unser Brot verbissen, hier
unter dem Eis, im Trüben.


(aus dem Zyklus "Die Sonne steigt zur Hölle ab")
aus dem Russischen gemeinsam mit Olga Martynova

13.12.2005 16:42:03 

Lücken mauern


"Natürlich entstanden auf diese Weise viele große Lücken, die erst nach und nach langsam ausgefüllt wurden, manche sogar erst, nachdem der Mauerbau schon als vollendet verkündigt worden war. Ja, es soll Lücken geben, die überhaupt nicht verbaut worden sind, eine Behauptung allerdings, die möglicherweise nur zu den vielen Legenden gehört, die um den Bau entstanden sind, und die, für den einzelnen Menschen wenigstens, mit eigenen Augen und eigenem Maßstab infolge der Ausdehnung des Baues unnachprüfbar sind.
(...) Man war nicht leichtsinnig an das Werk herangegangen. Fünfzig Jahre vor Beginn des Baues hatte man im ganzen China, das ummauert werden sollte, die Baukunst, insbesondere das Maurerhandwerk, zur wichtigsten Wissenschaft erklärt und alles andere nur anerkannt, soweit es damit in Beziehung stand. Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie wir als kleine Kinder, kaum unserer Beine sicher, im Gärtchen unseres Lehrers standen, aus Kieselsteinen eine Art Mauer bauen mußten, wie der Lehrer den Rock schürzte, gegen die Mauer rannte, natürlich alles zusammenwarf, und uns wegen der Schwäche unseres Baues solche Vorwürfe machte, daß wir heulend uns nach allen Seiten zu unseren Eltern verliefen."

Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer

20.12.2005 14:07:31 

Wetterhaiku


und regnen soll es
Bindfäden die ganze Nacht
lang vom Schnürboden

26.12.2005 16:55:29 

Moabiter Nachlass


Drei Wochen nach deinem Abgang
der Exodus in blaue Plastiktüten
legt unter altem Staub Verstecktes frei, aufklärerisch
Illustriertes, Esoterisches, meine Irritation
über Märchenberge aus Rasierklingen
verschmutzte Wäsche, Abführpillen. Fußnoten
einer These, die schon erwiesen schien.

Zwischen Händewaschen und Margarinebrot
die Balken der Überschriften im Auge. Wieder eine
Vergewaltigung, sagtest du, und: Abdeckerei
über die Anstalten, die sie machten um einen
der sogar Kirschlikör für ein Suchtmittel hielt
und das Schnellfeuer der Nachrichtensprecher
für eine Verschwörung. Eine Manie dagegen

das Sammeln von Papier. Rechnungen, Wetterzettel
Kataloge der Erscheinungen, jeder Fahrschein
ein Notat der Rebellion, an der vorbei du durch
Berlin schmuggeltest, das Porträt Georges, Gott, dickleibig
hinter den Gestirnen der Buchdeckel, die Unfähigkeit
mitzusingen rudimentär wie der seitenweis geborgte Rest
Wissen über Chancen, es dir schwer zu machen.

Was hielt dich in den letzten Sommern
vier Treppen über den Markierungen des Tags
der Ausblick auf den Hof des Gebrauchtwagenhändlers
beschlagen von sechzehn Dioptrien, ein Teergarten
zwischen den Furchen der Straßenzüge mit dem Glanz
von Kunststoff oder unsinnig gedehnter Haut, jedes Ding
sagtest du, ist gebannt vom eigenen Zustand.

Ich konnte dir nichts beschreiben. Ich las dir nicht vor.
Es genügte das Echo aus deinen Zitaten
kein Glück, das nicht zu zügeln war, du ließest
dir keine neue Brille verordnen, es genügte
ein Bild ohne Abzug gerettet in die Erinnerung
an Ruhe und Feiertagsschnee.
Vergeblich brachte dein Nachbar dir Süßes.

Sowieso war jede Speise dir bekannt
vom Hörensagen. Du hieltst den Mund
du konntest sonstwas beschreiben, Sonne und Milben
in den Papieren sind mir zuvorgekommen, das bleibt
für die Fütterung der Plastiksäcke.
Was würdest du jetzt sagen, nach den Veränderungen
durch Lungenwasser, Stillstand, Zeit

wärst du erstaunt über diesen Treffpunkt
diese Bäume im August, nicht weit
vom Güterbahnhof, der Stillegung
deiner Küche, der Gardine
in der noch eine Gummispinne hängt
wie ein hinterbliebener Witz? Nicht mehr
als sonst. Orte waren dir immer Chimären

Abwesenheiten ein natürliches Programm
und mich würdest du begrüßen mit der Geste
mit der die Dinge zu quittieren sind, im Fadenschein
den hellgetragnen Jackenrücken fröstelnd rund:
Streuselkuchen, mitgebrachtes Obst, die Gedanken
der Straßenköter über Gerüche genau
wie ein Schüttelreim aufs Überleben.

(1999/2006)

12.01.2006 14:14:29 

Fluxus


"Ich zeichne oft, wenn ich spreche."

"Mein Weg ging durch die Sprache, so sonderbar es ist, er ging nicht von der sogenannten bildnerischen Begabung aus."

"Sprache ist materiell, denn sie benutzt ja die eigene Körperlichkeit. Sie transportiert sich zwischen Sender und Empfänger (...) vollkommen autonom, vollkommen unabhängig davon, ob jemand den semantischen Inhalt versteht oder nicht. (...) Auf jeden Fall ist Sprache an sich selbst für mich natürlich auch Musik. Und ein wissenschaftlicher Vortrag könnte auch Musik sein, das ist immer eine Frage des Bewusstseins."

"Gerade derjenige, der versucht, sich am allerverständlichsten zu machen, ist derjenige, der am allerwenigsten verstanden wird. (Lachen) Ja, das ist ein Gesetz."

Joseph Beuys (12. Mai 1921 - 23. Januar 1986), zitiert nach Dieter Koepplin, Stefan Fricke und Manuela Göhner


"Zu den Antitechniken des Joseph Beuys zählte die Verrätselung als Form der Annäherung an die Mitwelt. Das Missverstandenwerden diente ihm dabei als Schutz seiner Existenz."

Peter Moritz Pickhaus, aus: "Die Wahrheit als Wunderkerze"

23.01.2006 14:08:21 

Dopo una escursione


La speranza di pure rivederti
m´abbandonava,
l´anima che dispensa
furlana e rigodone. Ed ora vuoi
sostare dove un filtro
fa spogli i suoni -
e poi? Luce di lampo...

(a mia maestra, con l´aiuto di Eugenio Montale)

31.01.2006 12:06:58 

Alle neune


Gleiche Form, völlig gleich
Kleid, Körper und Gesicht der
Puppe in der Puppe der Puppe
der Puppe der Puppe der Puppe
der Puppe der Puppe, der letzten
kleinsten, der ganzen Puppe.

mai-tai?

31.01.2006 14:14:50 

"Elektronische Erziehung"


könnte ein Gedicht heißen, in dem es um die sonderbare Gerechtigkeit des Computervirus ginge, der jüngst die eingegangenen Nachrichten löschte: Briefe und bündige Grüße, Spam und mir wichtige Schreiben, die seitenlangen Informationen, die man nicht braucht, und unverhoffte Kurzbotschaften, alles.
Unversehrt blieb dagegen der Ordner "Gesendet", und sofern ich einem Absender geantwortet hatte, blieb auch die ursprüngliche Nachricht erhalten. Wie ich feststellen musste, sind das nicht so viele, wie ich hätte beantworten sollen, und nicht einmal alle, auf die ich antworten wollte, bald, oder am liebsten gleich, aber nicht jetzt, nicht so, nicht in der und der Verfassung, u.s.w. Als besonders gravierend empfinde ich den Verlust jener Nachrichten, von denen ich noch jedes Wort weiß. Der Virus war nicht blindwütig, er löschte teils-teils und leistete ganze Arbeit.

03.02.2006 15:03:27 

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