ein bild

Alan Riach


Manifest


Die Sonne nagelt ihre Beglaubigung an
die hölzerne Tür des Tags
ein Morgenmanifest: Aufgewacht!
es ist der erste Mai

Aufstand - schön
das war das erste
was dann scheiterte
das aber beständig

10.02.2006 12:05:58 

Alan Riach


Lamento

Er war aufgewachsen im Exil, erzogen
zu sorgfältigem Ausdruck (plump
ist man zuhause leichter).
Er nahm die Risiken wie ein guter
Diplomat, lebte und arbeitete
hart, ohne Pass.

Wenn er von seinem Land sprach,
erinnerte er sich daran, wie es wirklich war:
ein Talent für Abwesenheit –
eine Klammer, die sich schloss,
bevor sie geöffnet worden war,
Rücken an Rücken gestützt – so war es
für vergangene Generationen.

Also genauer: er war erzogen
für das Exil, gewachsen
daran, draußen ein Meister
verlorener Fertigkeiten und gescheiter
als er zuhause gewesen wäre. (Zuhause

das ist ein Handel um Mitternacht,
eine uneinlösbare Verbindlichkeit,
ungelesene Bücher, frei von Kreuzen,
ein Jagen, nach allem
eine Liebe, die von anderen verraten wird
oder von einem anderen, so gut wie von dir.)

Jetzt begrüßt er
Fremde, beherrscht den Trick
zu sprechen wie sie, rasch, doch
mit Zurückhaltung,
sieht ihre gefährlichen Hände applaudieren,
verhandelt, verkleidet sich, verdächtigt.
Seine Entfernung vom einzigen Zuhause,
das er kennt, erkennt er an,
fragt sich in aller Stille
mit ihrer ganzen Bestimmtheit:
Was lehrt ihn das, was bringt es, und wohin
soll das führen? In welche Richtung
wird es gehen, und was
wird noch Zuhause heißen?

16.02.2006 14:39:17 

Wiederfund


"Baskin beschreibt seine Idealvision als etwas, das anscheinend seit Generationen in der Erde geruht hat und das nun wieder auftaucht: all seine zeitweiligen kulturellen Überformungen sind wegkorrodiert, zurückgeblieben ist lediglich ein harter Kern von elementarer künstlerischer Substanz.

Wir können lediglich Vermutungen darüber anstellen, welche Bedeutung Coatlicue für jene Menschen einst hatte, von denen sie in Stein geschlagen wurde. Sie ist ein riesiges zusammengesetztes Wort in aztekischer Hieroglyphenschrift, ein monströses quipu religiöser und mythologischer Rätsel für die Anthropologen. Aber ihre Macht spricht für sich selbst. Ein dämonischer Klumpen mana ist sie, eine versteinerte Masse grotesker Musik, gleichsam das Hereinbrechen in die Welt unserer Sinne (...)
Baskin selbst würde wohl sagen: Das ist der Schrecken. (Und würde seine Lieblingszeile aus Conrad zitieren: "Der Schrecken! Der Schrecken!") Aber was genau verbirgt sich hinter dem, was hieran so entsetzt?

Das Mysterium der Musik schließt diesen Schrecken immer dann auf, wenn wir genau zuhören. Vielleicht liegt der Schlüssel zu ihm in der Musik. Ist das mathematische Gesetz - wie man sagt - der Baum im Abgrund des Ursprungs, verwurzelt außerhalb der psychologischen Sphäre und außerhalb des Horizonts menschlicher Ereignisse, und stellt die Musik ein Nest dar, das tröstlich verdichtete Seelennest, das wir gefiederten und haarigen Wesen uns aus den Zweigen dieses Baumes flechten (Gehörnerven, versunken in die einander durchdringenden Choräle der Körperchemie), dann ist jener Schrecken, der sich aus Musik ergießt, zugleich der Lebenssaft mathematischer Gesetzlichkeit. In aller Kunst beruht das, was nicht selbst Musik ist, doch auf dieser. Ohne diese innere Musikalität hört Kunst auf zu funktionieren (...) Und genau dieses Eine, das Kunst befähigt, uns zu packen und aus dem Gefängnis unserer Selbstsucht herauszureißen (...) - genau dieses Eine wirkt auf uns unangenehm.
(...) Die Niedervolttransformatoren, die wir in unseren vordersten Gehirnlappen mit solchen Kosten installiert haben, registrieren immer noch Eingangsenergie. Die Nerven haben in einen Spiegel geblickt, und die Erfahrung schwirrt einem am Schädel vorbei, hinterläßt ein paar Schweißtropfen über der Braue und vermutlich meßbare elektrostatische Veränderungen, selbst in dem Augenblick, wenn der Beobachter sagt: Gefällt mir nicht."

(Ted Hughes: Der Gehenkte und die Libelle)

21.02.2006 16:06:50 

aus: "nun immer schnee"


(...)


o Gott schon wieder schnee

es sei dass er nicht sei
der schnee mein freund viel schnee
und seele licht und schnee

o Gott schon wieder schnee

und ist was schnee der ist


Gennadij Ajgi (deutsch von Felix Philipp Ingold)

23.02.2006 22:37:21 

Ankunft


Als ich letzte Woche nach Heidelberg fuhr, hatte ich Zweifel, ob die geplante Stadtbesichtigung ein Erfolg werden würde. Es hatte Minusgrade, und für jeden Schritt meines Gastgebers dort würde ich drei brauchen, dazu mein Mangel an historischem Wissen, der im Schatten des Schlossbergs nur zu deutlich zutage treten musste - mir war fast bang. Doch schon wenige Minuten nach meiner Ankunft wurde mir klar, dass der Tag keineswegs zu einer Zitterpartie mit anschließendem Muskelkater geraten würde: mein Gastgeber halbierte seine Schrittweite auf eine Art, dass es mir wundersamerweise erst im nachhinein auffiel, gab vor, so gut wie nichts über Heidelberg zu wissen, und als Willkommensgeschenk erzählte er mir eine kleine Geschichte über Humboldts Schreibtisch in Paris, ein hölzernes Palimpsest der Formeln und Gedanken, eine immer aufs Neue abgeschliffene Fläche des Weiteren, eine einzige wieder und wieder beschriebene, nein, geritzte, geprägte Seite.
Die Fähigkeit, sich und andere mit etwas Neuem vertraut zu machen und zugleich den Blick auf das Neue zu lenken, das allem Vertrauten in seiner Tiefenschicht innewohnt, prägt auch seine Arbeit als Lyriker, Übersetzer und Mittler zwischen Literaturen und deren Urhebern, selbst immer unterwegs zwischen Sprachen, Zeiten und Landschaften, mit offenen Sinnen und der ihm eigenen Klarheit, die federleicht daherkommt und flugs Wurzeln ins Konkrete einer Beobachtung, einer Begebenheit schlägt:

"Liebste A, der Paprikaschoten-Duft von gegenüber hüllt mich süß & apollinisch ein. Obwohl ich gerade einen Hamburger gegessen habe! Ami gespielt in der großen Mc Donalds Filiale am Boulevard des 1. Alexander. Außerdem hatte ich einen 50er zu wechseln, aber ich wollte auch den Touristen spielen, der ich bin, und gleichzeitig einen Übersetzungsversuch starten: wie kann man den Standardsatz "1 Bicmac mit Ketchup und Cola, bitte" so sagen, daß er erklärungsbedürftig wird? Ich sagte "one bic mac with tomato-ketchup and one coke please", das war zu amerikanisch, denn wie bei uns hat man hier eine eher europäische Interpretation der Sache: "ketchup" sagt man statt "tomato-ketchup", und man sagt niemals "coke", sondern "cola". Und eben ist mir ähnliches passiert, als ich alle Schlüssel ausprobierte, keiner wollte greifen & nach dem 6. Versuch stellte ich fest, daß ich an der falschen Gartentür war"

so heißt es in einem seiner Briefe aus dem bulgarischen Plovdiv nach Hause, die in einem Reisebuch der besonderen Art unter dem Titel Kopfsteinperspektive versammelt sind.
Wenn das hier ein Garten wäre, brauchte jetzt niemand zur Tür, um zu öffnen, sondern nur, um ihm "Guten Tag" zu sagen:
Guten Tag, lieber Hans Thill, schön, dass du hier bist!

02.03.2006 14:25:41 

Erinnerungen an Bilder


(1)

Als ich zum ersten Mal den Film Alien sah, erleichterte mich Aliens Anblick.

15.03.2006 15:20:26 

(2)


Einmal warf ich ein Buch weg, eine Sammlung mit Horrorstories von Stephen King. Eine der Geschichten erinnerte mich an eine surrealistische Zeichnung, auf die ich im Alter von 13 oder 14 Jahren einen Blick geworfen hatte und die mich wiederum an etwas "erinnerte", das ich zwar nie angesehen haben konnte, aber offenbar "gesehen" hatte, in einem Alptraum möglicherweise, obwohl ich mich nicht einmal an einen solchen Traum erinnern kann, als wäre der hermetisch vor mir verschlossen. Trotzdem erkannte ich das Bild gleich, also blitzartig, "unvermittelt", als seine Übertragung: nicht in eine Abbildung, sondern in eine bildliche Analogie.
Das Bild ließe sich in einem Satz beschreiben, der in Kings Geschichte erzählerisch ausgebreitet wird. Als ich das Buch aus dem Haus schaffte, tat ich es vielleicht in einem ähnlichen Gefühl wie die Leute in Mexiko Stadt, als sie Coatlicues Statue eingruben.

23.03.2006 12:43:22 

(3)


Im Museo de Bellas Artes in Valencia hängt ein Gemälde mit einer Taufszene: bewaldete Hügel, ein See, die winzigen Figuren der Täuflinge. Vom Himmel schwebt der Heilige Geist in Vogelgestalt, die Flügel abwärts geschwungen. Auf der stillen Oberfläche des Wassers erscheint das Spiegelbild als Tierschädel mit aufwärts gebogenen Hörnern.


12.04.2006 23:57:27 

Anstand


Keiner nahm mir den Hasen ab.
Vertieft in die blendenden Selbstgespräche

des Schnees, war seine Abwesenheit
so zu sehen? Auf der Ebene ließe sich

mit Helligkeit schlafen, aber in den
Geometrien der Prügel stört ein Betrachter

Stock unter Stöcken, kaum. Unwahrscheinlicher
noch das drahtige Fell, sein Aufblitzen

an den Händen allmählich, und erst
was es wog. Keiner nahm ihn mir ab

als wär ich schon mal da gewesen, winters
zwischen den Reben, am wenigsten ich.

17.04.2006 17:53:16 

Ein Element


"So wird die elektrische Leitfähigkeit durch Gitterfehler und durch Abweichungen von der stöchiometrischen Zusammensetzung (...) gewährleistet."


Tellur


für untergänge
den kopf in den nacken zu legen berückt
den alten attraktionen zuliebe aus dampf und staub darüber
    glaubten wir uns hinweg wörter wie prismen parat mechanisch
gepfiffene reime auf ein windiges feld noch als wir
    uns verliefen: aus dem gleichen holz ebenso faul so
paradox zappten wir uns durchs pensum.

im eis
härten verwackelt (geschehenes unterliegt keinem zeitzwang wird jederzeit
wiederholbar nur wir haben - noch natürlich - das zeug nicht
    figuren zu sein einmal abgesetzt erleben wir unsere nächste
ausstrahlung nicht ohne glaubwürdigen stern im freien zu fall
    gekommen aber auch das ist schließlich bloß eine frage
hypothetischer geduld
und so fort) während

wahrscheinlichkeiten stiegen
für niederschläge sedimente in die furchen spülten schlamm
verjährter horizonte um spuren leiser tiere wie um anoden
    sammelnd. wir wärmten uns an parallelen auf zeichneten mit
kippenglut die linienflüge kosmischer objekte nach störstellen des planeten
    auf dem defekte kleinster teile ausgang sind und nicht
wie in manchen streifen das ende.

(2001/2006)

25.04.2006 18:01:36 

Harfe, zum Beispiel


in Athen. Sämtliche dorthin verbrachten Eulen sollten eingefangen werden, um sie an ihre ursprünglichen Nistplätze zu versenden. Die meisten hockten wie versteinert auf Säulen, zwischen denen Harfe im lichten Zelluloserock und, um für Ablenkung zu sorgen, Kapriolen schlagend auf der verlässlichen Sommerluft balancierte. Die anwesenden Götter und Halbgötter glotzten nur. Ansonsten war alles wie immer, in den Straßen stauten sich die Wolkenpumpen, Touristen kamen und gingen, die Kinder zu holen, es folgten Eismänner, Zeitungsschreiber und die Polizei, und Harfe war nicht zu halten.

ohne Widmung

12.05.2006 13:18:56 

ShellSchall


shell

Jak. 5:13

ohne widmung

06.06.2006 16:41:18 

Kodex


Für jeden Menschen, schrieb Max Frisch, gebe es ein Wort, das ihn töte; dieser Satz begleitet mich seit Jahren, und sein ethisches und sprachphilosophisches Streufeld kann gar nicht überschätzt werden.
Die persönlichen Angriffe und daraus mitunter folgenden Rufschädigungen durch literarische Äußerungen zeitigen immer wieder Auswirkungen auch auf Textanalyse und Rezeptionsgeschichte. Bis heute haftet etwa dem Werk Sylvia Plath´ ein gewisser Ruch der "Unredlichkeit" an, der mit der "Entschlüsselung" einiger ihrer Gedichte im Hinblick auf ihren biographischen Hintergrund zu tun hat. Romane von Zeitgenossen werden mit einstweiligen Verfügungen belegt, weil Ähnlichkeiten zu tätsächlichen Personen und Ereignissen sich als nicht rein zufällig erweisen oder dies zumindest glaubhaft gemacht werden kann. Von inneren Verletzungen aller Art und Schwere, die Betroffene erleiden, zumal ohne die Möglichkeit sich zu wehren, nicht zu reden. Wovon dagegen aus meiner Sicht schon zu reden wäre, ist die Abgrenzung zwischen Fiktion und Wahrheit, hier: der Bezugnahme auf tatsächliche Personen und Ereignisse, respektive gar ihrer literarischen Nachbildung hin zu einer Wiedererkennbarkeit Einzelner. Denn was sonst könnte die Veröffentlichung biographischer Notizen oder manchen "Schlüsselromans" rechtfertigen, wenn nicht der Umstand, dass das darin Geschilderte den Tatsachen entspricht, und zwar solchen, die relevant genug sind, um zu literarischer Äußerung zu führen. (Ich sage absichtlich nicht: "zu provozieren".) Literarische Fiktion ohne Wahrheit oder, weniger vollmundig ausgedrückt, ohne Erdung im Tatsächlichen ist unhaltbar. Man kann über Brittas Text geteilter Meinung sein, und man kann die Veröffentlichung im Fisch strittig finden. Unstrittig aber bleibt für mich das Recht des Autors, aus seinem persönlichen Erleben heraus zu schreiben, über das, was ihm begegnet, zu sprechen.
Wie Hendrik liegt mir daran, mich zwar aus Anlass dieses Vorfalls, aber nicht auf ihn fokussiert zum Thema zu äußern, zumal ich Herrn K. nicht kenne und ihn daher auch nicht aufgrund persönlicher Erfahrungen oder Eindrücke gegen möglicherweise ungerechte Angriffe verteidigen noch mich in anderer Weise zu den Hintergründen äußern könnte. Ich habe, wie vermutlich viele Leser, immer wieder Anlass gehabt, den oben angeführten Satz von Frisch für wahr zu nehmen. In diesem Sinne braucht jeder Autor natürlich einen Wertekodex. Ich zweifle nicht daran, dass jeder der hier Versammelten einen, seinen, hat, der einschließt, sich Rechenschaft darüber abzulegen, nicht nur wie, sondern auch warum das Wahre ins Ausgedachte kommt, bzw. kommen muss. Auf diesen Konsens muss man vertrauen können, um überhaupt intertextuelle Kommunikation zu wagen. Weitere Übereinkünfte halte ich nach den vergangenen anderthalb Jahren für überflüssig.

13.06.2006 15:57:00 


Lieber Mirko,

(und natürlich Hendrik, Britta, Christine, alle, die sich an diesem Gespräch hier oder per Rundmail beteiligen, ebenso alle, die es verfolgen, denn ich finde, wenn eine Diskussion uns durch einen Beitrag angetragen wird, geht und spricht sie doch auch alle an),

ich bin heilfroh über das Camus-Zitat. Es setzt den Grad an Vorstellungskraft voraus, der auch dem Wort von Frisch innewohnt. Ich denke nicht, dass man sich nur der eigenen Verletzbarkeit bewusst wird; die Grenze, an der die Freiheit des jeweils anderen beginnt, kann mir ja nur sichtbar werden, wenn ich ihn als Person wahrnehme. Wenn ein Mensch durch eine öffentliche Äußerung geschädigt wird, ist ein Gut verletzt, darüber besteht doch hier kein Dissens. Außerdem geht es um weitere Werte, u.a. das hart zurückeroberte Gut, dass Presse wie Literatur auch hierzulande die Freiheit haben, anzuprangern, was nicht hingenommen werden kann. Umso wichtiger wird in dem Moment, wo Einzelne ins Spiel kommen, die Frage nach der Grundlage des eigenen Vorgehens. Nicht von ungefähr sind Motive in der Rechtsprechung eine Kategorie für die Beurteilung eines Vorgangs.
Und wenn ich schon offen und vorn spreche, dann auch das: Britta, mich störte damals an Deinem Eintrag (den ich allerdings wie andere, die die Hintergründe nicht kannten, als reine Fiktion las) der Blick, der auf die kleinen Eigenheiten eines Menschen, auf sein Ridikül geworfen wird, nicht die Schilderung von Dialogen, die ich natürlich auch schon erlebt habe und die mich ähnlich verstört zurücklassen. Diese Verstörung hätte der Text für mich besser transportiert, hätte er zeigen können, dass die Irrtümer, Ressentiments, Ängste, die emotional mehr als rational bestimmten Strömungen, die sich nach wie vor durch alle gesellschaftlichen Schichten hierzulande ziehen, und um die es in dem Text geht, nicht etwa die Spezialität wenig sympathischer Einzelner sind, sondern dass sie uns zu beschäftigen haben, gerade wenn wir damit sogar im Kontakt mit Menschen konfrontiert werden, von denen wir anderes erwarten durften. Diese Sensibilität gilt es in jedem Kontext, schon deshalb, weil man als Angehöriger einer jeweils akzeptierten Gruppe gesellschaftlich auch von Ressentiments profitiert, die man nicht teilt. Darum, so meine ich, geht es in dem Text, der ohne das Klischee des unsympathischen Deutschtümlers vielleicht aus sich selbst heraus auf die Anbindung - wie straff diese nun tatsächlich geknüpft sein mag - an eine wirkliche Person hätte verzichten können. Wer weiß, womöglich bringen Textdiskussionen ja an Stellen weiter, wo die persönlichen Überzeugungen einem leicht das Wort im Halse steckenbleiben lassen, um dann umso härter zu klingen. (Alte Frage: wie weit muss ein Text sich vom persönlichen Hintergrund lösen, um zur Sprache zu bringen, worum es ihm geht?)
Was ich mir wünsche, ist weiterhin das Vertrauen in die Tragfähigkeit der Freiheit, die wir hier genießen, die "innere Sicherheit" einer Verantwortlichkeit des einzelnen Autors, die uns erlaubt, die Grätchen, die uns im Hals stecken, nicht schlucken zu müssen, sondern uns auf verantwortbaren Wegen Luft zu machen.

14.06.2006 15:04:09 

Spin


          Plötzlich war es mir gleichgültig,
             ob ich modern war oder nicht.
             Roland Barthes



Weder noch, man sagt wohl, weiß der Himmel
heute wieder. Tinte, die die Hitze liest und löscht.

Im Grunde fehlt ihm nichts, so wie wir
an ihm hängen, an Erinnerungen, schon unähnliche

Bilder auf Reisen. War es in Patagonien
wo ein Albatros Prophet hieß, aschen

sein Gefieder in Feuerland? Die ausgebrütete
Ordnung im Winkel: das Firmament

einer Fliege, Taue und Tau, und die Taube, gefaltet
und fallend aus demselben Raum, brachten wir

nicht zusammen. Wir lasen sie auf, von der Luft
enttäuscht. Siehe oben. Eine Karte, täglich retourniert.

19.06.2006 14:28:01 


"Erreichbar, nah und unverloren blieb dies eine: die Sprache."

Paul Celan

30.06.2006 13:14:38 

Blühende Baustellen


Die Gebäude des alten Metallverarbeitungswerks am Krüpelsee bei Königswusterhausen haben noch alle Nutzungen mehr oder weniger überstanden. Zur Zeit dienen sie einem Bildhauer und einem Rentner. Der steht im Morgenmantel auf der Veranda und erteilt sich Befehle, dabei wirkt er ausgesprochen aufgeräumt. Man gewöhne sich daran, erklärt der Bildhauer, es ginge ja seit zwei Jahren schon stetig weiter.
Ich betrachte die neuen Fenster im Backsteingemäuer, Bauschaumbarock, Plexiglasstücke, die zwischen vanillegelben Wolkenrändern kleben wie Flügelreste einer riesigen Libelle, das auf dieselbe Art an der Südwand befestigte Rohr, das ich zuerst für einen Blitzableiter halte (es handelt sich um einen Schornstein), das an mehreren Stellen geöffnete Dach. Man könne die Modernisierung gescheitert oder ihre Ergebnisse katastrophal finden, meint der Bildhauer. Doch Thaddäus gehe es nicht um das Haus oder ums Wohnen. Mit seinem Bauen trotze einer wie Thaddäus vielleicht nicht jedem Wetter, aber der Niedergeschlagenheit, die ihn in seiner Zweizimmerwohnung in Reinickendorf zuletzt immer heftiger heimgesucht habe. Natürlich, im Einzelnen sei das alles auch eine Frage des Geldes, das keine Rolle spielen dürfe. Und letzten Endes: was ist ein bißchen Wasser im Keller gegen solchen Erfolg?
Dann führt mich der Bildhauer ins Atelier. Das Boot ist aus Mahagoni, sieben Meter lang, die Kajüte hat Platz für zwei Kojen. Ein in Schwierigkeiten geratener Käufer überließ es ihm als Wrack, seitdem hat er, so bekennt er lächelnd, beste Stunden damit verbracht. Bald wird es aber geschafft sein, er wird das Boot irgendwie über den weichen märkischen Sandgrund zum Ufer des Krüpelsees bringen und zu Wasser lassen, das Holz wird quellen und sich bis auf den letzten Spalt schließen.
Und dann?
Vor der Tür spielt das Gras Prärie, zwischen Reifenhaufen, Holzstapeln, Bahnen Bitumen und halb versunkenen Förderbänderpfaden summen die Beerenbüsche - flüchtig kommt mir der Gedanke, dass hier wohl seit wer weiß wann keine Menschenseele mehr was eingegraben hat - Schmetterlingsbäume flattern, und ein Schmarotzer umgarnt den weit in den Himmel ragenden, viel zu steilen Brückenbogen eines umgedrehten U mit silbrigen Blütenfäden, es muss eine Art sein, die von heißem Eisen lebt.
Vielleicht segeln lernen, sagt der Bildhauer.

10.07.2006 15:26:20 


"Jeder Einzelne ist eine Menschheit für sich. Jeder Mensch ist eine Rasse."
Mia Couto

Motto des Aufsatzes "Itsembabwoko. Ruanda in einem blinden Spiegel" von Stephan Steiner

31.07.2006 11:25:21 

Erzählung


                    für Kai

Warum, die ewige Frage nach
Verboten, den verkleideten Bitten,
Träumen, die Tatsachen glichen auch
bei Lampenlicht, dem eigenen Namen.
Erzähl. Vom Losziehen und Finden,

die Geschichten. Dass eins nicht bei
eins beginnt, braucht mehr als Zeit
für Erklärungen, Trotz, auf allen Seiten
Wasserflecken. Zu einfach für Trost,
ist der erste Schritt zurück schwer genug

für Vertröstungen. Später einmal
der Blick auf die Statue im Krankenhaus,
die ragenden Schulterblätter, als wäre was
abgebrochen vor Geschwindigkeit oder
finge gerade an, beim Aufwachen

Fortsätze, nie gesehen, warum nicht?
Parallelen sind ungleiche Wege
und immer zählt der Abstand,
was dazwischen ist, und da
ist die Erinnerung plötzlich zurück

in den Fingern, in der gewölbten Hand
über der scharfen, noch winzigen Kurve
eines Wirbels der Schrecken, derselbe, doch
die Schwestern lächeln und nicken: nein,
alles recht, anders liegend vielleicht

aus der Erschöpfung heraus, und leicht fast
wie im Moment der Erfindung der Zahl
im Umkreis der Sehnsucht,
wenn es mit einem Mal geht,
komme ich nicht auf den Grund.


(frisch aus der Nachtschicht)

01.08.2006 11:16:44 

Auf Sand die Welt


Jedenfalls unweit einer Straße namens Adlergestell, wo sich nicht eben meine Traumbaustelle befindet, sondern eine, deren Realität sich einem in jedem Raum schon durch die von der Brache - gewiss einer künftigen Baustelle - vor dem Haus her einwandernden Kleinstdünen aufdrängt. Dazu überall feiner Steinstaub, der von den Arbeiten in den benachbarten Zimmern herrührt.
Von allen meinen vier Fenstern sehe ich auf die etwa drei Meter breite Wildnis bis zur alten Ziegelmauer, und dahinter ist der Sand, der märkische Sand, auf den man seit Jahrhunderten baut. Abends und am Wochenende solle man die Fenster schließen, auch die Haustür, heißt es auf einem Zettel im Flur: Einbruchsgefahr. In mancher Hinsicht scheint es hier nicht viel anders zuzugehen als auf den idyllischeren Baustellen im Umland, und auch daran mag es liegen, dass ich mich in den beiden Zimmern mit dem farbfleckigen, im Lauf der Jahrzehnte etwas dünnhäutig gewordenen Linoleumboden merkwürdig heimisch fühle. Durch die hohen Decken dringt Getrampel, oben wird geprobt. Ich solle mich nicht stören lassen, sagt der Hausmeister, es könne auch schon mal zu Geschrei kommen, das hänge vom Stück ab, aber in den meisten würde geschrien, na, Sie werden ja hören. Nein, das urzeitlich große Telefon auf dem Flur sei tot. Und in der Küche bitte keine Pinsel auswaschen. Ich sage ihm, dass ich nur Papierarbeiten mache. Ja, dann... Viel Glück hier.
Gegen Abend erklingt Musik, jemand hört Jimi Hendrix, etwa zehnmal darf ich mithören, kein Wunder, dass ich den Stunden später auf dem Weg durch das leere Haus auf einem der beiden Sessel neben dem Flurtelefon antreffe. Als ich mich in den anderen setze, wird mir flugs klar, dass ich mich geirrt habe, es ist gar kein Sessel, sondern ein Sessellift, der sich nun in Bewegung setzt, so dass ich mich in den Armlehnen verkralle, besonders, als die Sitzschalen drehen und wir, den steinstaubigen Boden zu Köpfen, an Auffahrt gewinnen, doch es besteht wohl kein Grund zur Sorge, denn neben mir wird gelacht, ein herrliches, frisches Gelächter, das beste seit langem.

07.08.2006 14:27:52 

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