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Alle meine Flüsse

The flow of language … Und jetzt auch gleich mal ein Gruppenfoto, bitte!

Von Vasile V. Poenaru
(06. 08. 2020)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com


geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 


 


(c) Wikipedia

Donau
(Wachau bei Aggstein)


 


(c) Wikipedia

Traun
(Traunfall bei Steyrermühl)


 


(c) Wikipedia

Mühlbach
(Nebengerinne der Traun)


 


(c) Wikipedia

Sankt-Lorenz-Strom
(Queen Mary 2 im Hafen
von Québec City, dem
ältesten Hafen Kanadas)


 


(c) Wikipedia

Rhein
("Der Rheinfall bei Schaff-
hausen", Gemälde von
William Turner, 1806)


 


(c) Wikipedia

Themse
(City of London)


 


(c) Wikipedia

Isel
(hier aufgenommen in der
Nähe von Virgen, im Hinter-
grund der Klaunzer Berg
in Matrei)


VATER RHEIN:
EU-Obmann, Freidenker, ein Urenkel von Charlemagne

TANTE ELBE:
dessen Gemahlin, die jetzt aber in ihrem eigenen Bett fließt
DER MAIN:
ein finanziell begabter Cousin des Rheins
DIE DONAU:
der gescheiteste Fluss Europas, besonnen, gemächlich, blau und schlau
DER NECKAR:
noch schlauer als die Donau, kann alles (außer Hochdeutsch)
DIE LEINE:
eine kleine, aber feine Gesellin: aus dem Geschlecht der Welfen
DE
R TIGRIS:
deutscher Neubürger mit alter Tradition, großer Almani-Fan
D
ER EUPHRAT: dessen Arbeitskollege, meistert alles
  außer Hocharabisch
DER NIL:
ein langer Lulatsch mit Sinn für Geschichte
ONKEL MISSISSIPPI:
ein amerikanischer Storyteller
DER SANKT-LORENZ:
kanadischer Joint Dealer, jung und stattlich, kann gut Französisch
DIE THEMSE:
eine ältere Dame; stiff upper lip
DIE SEINE:
Alpha-Geschäftsführerin im Pro-Macron-Rudel


   Kanada, my home and native land, wurde zunächst auf dem Wasserweg erschlossen. Freilich sind aber die Hausflüsse der Großstadt Toronto (the Don River and the Humber River) im Verhältnis zur beindruckenden Größe des Landes eher geringfügig, weswegen der Standort Toronto am Ontariosee wohl kaum je in Zusammenhang mit diesen zwei zutiefst geschätzten wässrigen Herrschaften der Hydrologischen Wissenschaft gebracht wird, sondern eben vielmehr immer und ewig nur mit ihm, the Great Lake, dem Großen See, dem Großartigen See, an dessen anmutig gewaltig auf uns einwirkenden Ufern meine Tochter Lavinia ja sozusagen schon als Kleinkind in die Unendlichkeit hinein projiziert wurde, der wir uns allesamt jedenfalls in der einen oder der anderen Lebenssituation verbunden fühlen.

Den Niagara River (von Lake Erie via Niagara Falls bis Lake Ontario) sind wir oft entlang gefahren, und die Beine vertreten haben wir uns an seinem linken Ufer (natürlich am kanadischen; das ist schöner; lieblicher; netter: true patriot love) ebenfalls. For this is Canada.

Die Vermessung der Welt

   Aus dem guten alten Lake Ontario zischt dann irgendwann (Ten Thousand Islands, Kingston) der Sankt-Lorenz-Strom gen Nordosten. Denn er will zum Atlantischen Ozean. Da wartet das ozeanische Gefühl auf ihn, jenes Gefühl, von dem schon Freud meinte, dass es … tja, ozeanisch sei.

Wir hinterher. Ist ja klar. O mei, o mei! Der Sankt-Lorenz ist ein prächtiger Strom. Ile d’Orleans und Montreal, Sainte-Anne-de-Beaupré, Baie-Saint-Paul und Tadoussac: Damit ist ja schon alles gesagt. Er ist einer der (personifizierten) Ur-Flüsse dieses Theatertextes von hydrologischer Art und Kunst. Denn er hat was zu sagen. Und er kann das, was er zu sagen hat, auch ganz besonders anschaulich ausdrücken.

Die Ur-Flüsse meiner Kindheit sind in der Ordnungsreihe ihrer Bedeutung die Donau, die Traun und der Mühlbach. Von der Unmittelbarkeit des Alltags her sind es freilich der Mühlbach, die Traun und die Donau. Doch jene kommen hierin nicht zu Wort, diese hingegen durchaus. Denn die Donau sei, so Karl-Markus Gauß, der intelligenteste Fluss Europas. Und vergessen wir nicht, dass es gegenwärtig ja wieder einmal der Kaiser und Kanzler in Wien (unser guter Kanzler Kurz) ist, der europaweit den Ton angibt, indes an der Spree weiterhin mit leeren Phrasen und an der Seine mit Träumen und Poesie hantiert zu werden scheint.

   Viele Flüsse haben was zu sagen. Besonders Vater Rhein, der "Ur-Haberer" unserer gemeinsamen Vision von einer europäischen Antwort auf die stets in vielen verschiedenen Sprachen gestellte Frage: "Quo vadis?" Dass ihm etwa zu Biberich wegen der verschluckten Steine unwohl wurde, hat schon Heine in "Deutschland. Ein Wintermärchen" mit viel Witz poetisch wie polemisch stimmig  erfasst. Und meiner Meinung nach war Heine ein Flüsse-Beschwörer.

Der Neckar ist so schlau (und an seinen Ufern wurden im Laufe der Jahrhunderte so viele Genies geboren), dass ein "Klassentreffen der superschnellen Flüsse" ohne ihn nicht denkbar wäre. Und Tante Elbe hätte sich wohl selbst dann kaum aufhalten lassen, wenn wir es versucht hätten. Von Ost nach West schreibt sie trotz aller Fehlgriffe nach wie vor Geschichte. That’s life. Und wenn sie schon wieder mal ein bisschen daneben trifft, ja dann trifft sie eben schon wieder mal ein bisschen daneben bzw. um es mit dem Kaiser zu sagen: "Kann man nichts machen."

Kann man nichts machen. Außer abwarten und sehen.

Der Inn streitet mit der Donau. Das ist sein gutes Recht. Und der Main hat ja eine Menge Kohle. Außerdem hat er dank seiner nicht nur geografisch zentralen Lage recht viel zu sagen. Klartext: Seine Meinung ist relevant.

   Die Leine bringt es auf keine dreihundert Kilometer, doch da es sich in ihrem Fall um eine feine Gesellin aus dem Geschlecht der Welfen handelt (das fast zweihundert Jahre lang Great Britain bzw. dann das United Kingdom regierte) und ich vor zwanzig Jahren von der Niedersächsischen Staatskanzlei zur EXPO 2000 Hannover eingeladen wurde, steht es ihr ebenfalls zu, sich hier zu melden.

Den Tigris habe ich zum deutschen Neubürger mit alter Tradition (und großen Almani-Fan) stilisiert, was natürlich unhistorisch ist (doch was soll’s), und sein Arbeitskollege, der Euphrat, kann in Anlehnung an die Schwaben am guten alten Neckar alles. Na ja, außer Hocharabisch. Der Nil, dieser lange Lulatsch, wollte nicht fern bleiben, und Onkel Mississippi, den ich Mark Twain zuliebe einen amerikanischen Storyteller nenne, schneit einfach so dann und wann rein, wobei ich ihm natürlich vor allem eben auch angesichts seiner hier in good old Europe gefühlten Ex-Territorialität nicht die ihm ja ansonsten schon rein an sich eigentlich gebührende Bedeutung zukommen lasse.

Nun gut, der Sankt-Lorenz ist bei mir ja auch ein junger, stattlicher Joint Dealer, was natürlich seinem tieferen Wesen  keineswegs gerecht wird. Allerdings greife ich durch diese  bewusst gewährleistete Eindimensionalität ein in good old  Europe gerade mal hochaktuelles Moment auf. Canalis.

   Das Bild der Themse (ältere Dame, stiff upper lip) könnte man ebenfalls als weit hergeholt bezeichnen. Und das der Seine? Alpha-Geschäftsführerin im Pro-Macron-Rudel! Es geht uns um Geschichte, Kultur und Politik und immer zuallererst darum, wer hier das Sagen hat. "Alle zusammen! Mir nach!" Diese alte Parole hat jedes Alpha-Tier im Sinn.

Flüsse schaffen Verbindung. Doch sie machen auch seit eh und je natürliche Grenzen aus. Treffen zwei, ja manchmal sogar drei Flüsse aufeinander, so stellt sich immer auch die Frage des Vorrangs. Die Frage der Namengebung. Die des Namensagens. We’re all friends here. But who runs the show?

Alpha Male. Alpha Female. Auf gut Deutsch. Wer ist der Alpha-Fluss? Und wer darf in Team B spielen? Der Inn und die Donau gehen dieser einen Frage ausführlich nach.

Beitreten. Austreten. Antreten, Abtreten.

Doch können Flüsse das denn überhaupt? Und wir sagen: "Aber natürlich!" Unsere redlichen Flüsse haben nämlich den Kontinent, ja die ganze Welt strukturiert, organisiert, nach allen Regeln der Ästhetik und der Politikwissenschaft hin und her modelliert, und zwar schon lange bevor der Begriff Alpha Male erfunden wurde. Und wir sagen: Ach!

"Lasst das Wasser fließen!", verlangte Heraklit energisch. Und der gute alte Neptun war damit einverstanden. "Bitte sehr! Hier geht’s lang. Richtung Ozean. Avanti!"

Welch ein Gefühl! Aber ach! ein Gefühl nur. Zugegeben, ein ozeanisches. Freilich: Angefangen hat das Ganze oben in der Bergen. Ohne Berge kein Bergfluss. Pronto! Ti amo!

   Im schönen April 2019, zu Ostern war’s, der Gottesdienst in Sagritz, Großkirchheim, Kärnten, lag wenige Stunden zurück, traf ich ein paarmal auf die Isel. In Lienz, aber eben auch flussaufwärts. Mit jedem Atemzug, den ich tat, mit jedem Mal, da sich der Vorhang der Pupille lautlos aufschob, mit jedem Herzschlag in meiner Brust, mit jeder Überlegung, die ich mir einfallen ließ, rückte die Klarheit der Richtbilder einen Schritt näher, die, so schien mir, ein Möglichkeitsmensch einst für uns auf den Fels malte. R.M. Reinhold Messner. Oder halt! … Robert! Robert Krauss. Nein, Robert Musil. Standort Isel. Bundesland Tirol.

Und ich glaube, wir zwei waren damals die besten Freunde.

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