VATER RHEIN:
EU-Obmann, Freidenker, ein Urenkel von Charlemagne
TANTE ELBE: dessen Gemahlin, die jetzt aber in ihrem eigenen Bett fließt
DER MAIN: ein finanziell begabter Cousin des Rheins
DIE DONAU: der gescheiteste Fluss Europas, besonnen, gemächlich, blau
und schlau
DER NECKAR: noch schlauer als die Donau, kann alles (außer Hochdeutsch)
DIE LEINE: eine kleine, aber feine Gesellin: aus dem Geschlecht der
Welfen
DER TIGRIS: deutscher Neubürger mit alter Tradition, großer
Almani-Fan
DER EUPHRAT: dessen Arbeitskollege, meistert alles
– außer
Hocharabisch
DER NIL: ein langer Lulatsch mit Sinn für Geschichte
ONKEL MISSISSIPPI: ein amerikanischer Storyteller
DER SANKT-LORENZ: kanadischer Joint Dealer, jung und stattlich, kann gut
Französisch
DIE THEMSE: eine ältere Dame; stiff upper lip
DIE SEINE: Alpha-Geschäftsführerin im Pro-Macron-Rudel
Kanada,
my home and native land, wurde zunächst auf dem Wasserweg erschlossen.
Freilich sind aber die Hausflüsse der Großstadt Toronto (the Don River
and the Humber River) im Verhältnis zur beindruckenden Größe des Landes
eher geringfügig, weswegen der Standort
Toronto am Ontariosee wohl kaum je in Zusammenhang mit diesen zwei
zutiefst geschätzten wässrigen Herrschaften der Hydrologischen
Wissenschaft gebracht wird, sondern eben vielmehr immer und ewig nur mit
ihm, the Great Lake, dem Großen See, dem Großartigen See, an dessen anmutig
gewaltig auf uns einwirkenden Ufern meine Tochter Lavinia ja sozusagen schon
als Kleinkind in die Unendlichkeit hinein projiziert wurde, der wir uns
allesamt
– jedenfalls in der
einen oder der anderen Lebenssituation
– verbunden fühlen.
Den Niagara River (von
Lake Erie
– via Niagara Falls
– bis Lake Ontario) sind
wir oft entlang gefahren, und die Beine vertreten haben wir uns an seinem
linken Ufer (natürlich am kanadischen; das ist
schöner; lieblicher; netter: true patriot love) ebenfalls. For this is
Canada.
Die Vermessung der Welt
Aus dem guten alten Lake
Ontario zischt dann irgendwann (Ten Thousand Islands, Kingston) der
Sankt-Lorenz-Strom gen Nordosten. Denn er will zum Atlantischen Ozean. Da
wartet das ozeanische Gefühl auf ihn, jenes Gefühl, von dem schon Freud
meinte, dass es … tja, ozeanisch sei.
Wir hinterher. Ist ja
klar.
O mei, o mei! Der Sankt-Lorenz ist ein prächtiger Strom. Ile d’Orleans und
Montreal, Sainte-Anne-de-Beaupré, Baie-Saint-Paul und Tadoussac: Damit ist
ja schon alles gesagt. Er ist einer der (personifizierten) Ur-Flüsse dieses
Theatertextes von hydrologischer Art und Kunst. Denn er hat was zu sagen.
Und er kann das, was er zu sagen hat, auch ganz besonders anschaulich
ausdrücken.
Die Ur-Flüsse meiner
Kindheit sind
in der Ordnungsreihe ihrer Bedeutung die
Donau, die Traun und der Mühlbach. Von der Unmittelbarkeit des Alltags her
sind es freilich der Mühlbach, die Traun und die Donau. Doch jene kommen
hierin nicht zu Wort, diese hingegen durchaus. Denn die Donau sei, so Karl-Markus
Gauß, der intelligenteste Fluss Europas. Und vergessen wir nicht, dass es
gegenwärtig ja wieder einmal der Kaiser und Kanzler in Wien (unser guter
Kanzler Kurz) ist, der europaweit den Ton angibt, indes an der Spree
weiterhin mit leeren Phrasen und an der Seine mit
Träumen und Poesie hantiert zu werden scheint.
Viele Flüsse haben was zu
sagen. Besonders Vater Rhein, der
"Ur-Haberer" unserer
gemeinsamen Vision von einer europäischen Antwort auf die stets in vielen
verschiedenen Sprachen gestellte Frage:
"Quo vadis?" Dass ihm etwa zu
Biberich wegen der verschluckten Steine unwohl wurde, hat schon Heine in
"Deutschland. Ein Wintermärchen" mit viel Witz
poetisch wie polemisch stimmig erfasst. Und meiner Meinung nach war
Heine ein Flüsse-Beschwörer.
Der
Neckar ist so schlau (und an seinen Ufern wurden im Laufe der Jahrhunderte
so viele Genies geboren), dass ein "Klassentreffen der superschnellen Flüsse"
ohne ihn nicht denkbar wäre. Und Tante Elbe hätte sich wohl selbst dann kaum
aufhalten lassen, wenn wir es versucht hätten. Von Ost nach West schreibt
sie trotz aller Fehlgriffe nach wie vor Geschichte. That’s life. Und wenn
sie schon wieder mal ein bisschen daneben trifft, ja dann trifft sie eben
schon wieder mal ein bisschen daneben bzw. um es mit dem Kaiser zu sagen:
"Kann man nichts machen."
Kann man nichts machen.
Außer abwarten und sehen.
Der Inn streitet mit der
Donau. Das ist sein gutes Recht. Und der Main hat ja eine Menge Kohle.
Außerdem hat er dank seiner nicht nur geografisch zentralen Lage recht viel
zu sagen. Klartext: Seine Meinung ist relevant.
Die Leine bringt es auf
keine dreihundert Kilometer, doch da es sich in ihrem Fall um eine feine
Gesellin aus dem Geschlecht der Welfen handelt (das fast zweihundert Jahre
lang Great Britain bzw. dann das United Kingdom
regierte) und ich vor zwanzig Jahren von der Niedersächsischen Staatskanzlei
zur EXPO 2000 Hannover eingeladen wurde, steht es ihr ebenfalls zu, sich
hier zu melden.
Den
Tigris habe ich zum deutschen Neubürger mit alter Tradition
(und großen Almani-Fan) stilisiert, was natürlich unhistorisch ist
(doch was soll’s), und sein Arbeitskollege, der Euphrat, kann
– in Anlehnung an die
Schwaben am guten alten Neckar
– alles. Na ja, außer
Hocharabisch. Der Nil, dieser lange Lulatsch, wollte nicht fern bleiben, und
Onkel Mississippi, den ich Mark Twain zuliebe einen amerikanischen
Storyteller nenne, schneit einfach so dann und wann rein, wobei ich ihm
natürlich vor allem eben auch angesichts seiner hier in good old Europe
gefühlten Ex-Territorialität nicht die ihm ja ansonsten schon rein an sich
eigentlich gebührende Bedeutung zukommen lasse.
Nun gut, der Sankt-Lorenz
ist bei mir ja auch ein junger, stattlicher Joint Dealer, was
natürlich seinem tieferen Wesen keineswegs gerecht wird. Allerdings
greife ich durch diese bewusst gewährleistete Eindimensionalität ein
in good old Europe gerade mal hochaktuelles Moment auf. Canalis.
Das Bild der Themse (ältere
Dame, stiff
upper lip) könnte man ebenfalls als weit
hergeholt bezeichnen. Und das der Seine? Alpha-Geschäftsführerin im
Pro-Macron-Rudel! Es geht uns um Geschichte, Kultur und Politik
– und immer zuallererst
darum, wer hier das Sagen hat.
"Alle zusammen! Mir nach!"
Diese alte Parole hat jedes Alpha-Tier im Sinn.
Flüsse schaffen
Verbindung. Doch sie machen auch seit eh und je natürliche Grenzen aus.
Treffen zwei, ja manchmal sogar drei Flüsse aufeinander, so stellt sich
immer auch die Frage des Vorrangs. Die Frage der Namengebung. Die des
Namensagens. We’re all friends here.
But who runs the show?
Alpha Male. Alpha Female.
Auf gut Deutsch. Wer ist der Alpha-Fluss? Und wer darf in Team B spielen?
Der Inn und die Donau gehen dieser einen Frage ausführlich nach.
Beitreten. Austreten. Antreten, Abtreten.
Doch können Flüsse das
denn überhaupt? Und wir sagen:
"Aber natürlich!" Unsere
redlichen Flüsse haben nämlich den Kontinent, ja die ganze Welt
strukturiert, organisiert, nach allen Regeln der Ästhetik und der
Politikwissenschaft hin und her modelliert, und zwar schon lange bevor der
Begriff Alpha Male erfunden wurde. Und wir sagen:
Ach!
"Lasst
das Wasser fließen!", verlangte Heraklit energisch.
Und der gute alte Neptun war damit einverstanden. "Bitte
sehr! Hier geht’s lang. Richtung Ozean. Avanti!"
Welch ein Gefühl! Aber
ach! ein Gefühl nur. Zugegeben, ein ozeanisches. Freilich: Angefangen hat
das Ganze oben in der Bergen. Ohne Berge kein Bergfluss. Pronto! Ti amo!
Im schönen April 2019, zu
Ostern war’s, der Gottesdienst in Sagritz, Großkirchheim, Kärnten, lag
wenige Stunden zurück, traf ich ein paarmal auf die Isel. In Lienz, aber
eben auch flussaufwärts. Mit jedem Atemzug, den ich tat, mit jedem Mal, da
sich der Vorhang der Pupille lautlos aufschob, mit jedem Herzschlag in
meiner Brust, mit jeder Überlegung, die ich mir einfallen ließ, rückte die
Klarheit der Richtbilder einen Schritt näher, die, so schien mir, ein
Möglichkeitsmensch einst für uns auf den Fels malte. R.M. Reinhold Messner.
Oder halt! … Robert! Robert Krauss. Nein, Robert Musil. Standort Isel.
Bundesland Tirol.
Und ich glaube, wir zwei waren
damals die besten Freunde. |