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Heine, Hesse und Goethe

Ein deutsches Trio für Toronto.

Von Vasile V. Poenaru
(19. 02. 2016)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com

geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

 

 

 

 

 

Da es sich um einen Ein-
stiegskurs handelte, durfte
ich aus dem Stegreif
unterrichten. Immer nur
losschießen. Hauptsache,
der Kurs kommt gut an.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich pirsche mich an die
Robarts Library heran, so
durch und durch bereit für
ein köstliches Spracherleb-
nis, mehr als eine Million
Bände in Reichweite ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es wird kühl. Die Sonne
ist in den Ontariosee gefal-
len. Ich weiß, ich sollte
nicht hinschauen, denn
unsereiner, das auch auf
literaturkritischen Jagd-
gründen streitfreudige
Kriegsvolk vom Geschlecht
der Schildkröte, blickt ja
der aufgehenden Sonne
nach, nicht der unter-
gegangenen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Meine zwei Spitzenkandi-
daten waren natürlich
Heine und Goethe, was
schon rein deswegen
keinen Fehler ausmachen
dürfte, weil jeder Mensch,
jeder Student, jeder kauf-
kräftige und diplombe-
dürftige Interessent wenig-
stens ein Mal im Leben
von einem der beiden
gehört hat ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Er schleicht sich durch
die Jahrhunderte. Durchs
kollektive Unbewusste.
Durch die unentwegte
geheime Theaterauffüh-
rung unserer gemeinsamen
Lebenswelt und der Welten,
die dahinter stecken.

 

 

 

 

 

 

 

 

"Lasst uns nach Schwaben
entfliehen! Hilf Himmel!
Es findet sich süße
Speise da und alles
Gute in Fülle."

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich fasste den Entschluss,
nicht nur bei den lokalen
Häuptlingen der kanadi-
schen German Studies,
sondern auch bei den
großen europäischen
Kommandanten der kano-
nisierten Germanistik
höchstpersönlich um
Rat zu fragen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Am besten ist's auch hier,
wenn Ihr nur einen hört,
und auf des Meisters Worte
schwört. Im ganzen – haltet
Euch an Worte! Dann geht
Ihr durch die sichre Pforte
zum Tempel der Gewiss-
heit ein."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mein Blick suchte einen
Halt, einen in dinglicher
wie in überdinglicher Hin-
sicht hinreichenden Anhalts-
punkt, einen erbaulichen
geistigen Standort, von
dem aus einer seinen
German Studies eine
nicht ganz falsche Richt-
ung geben könnte ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich hatte keine Ahnung,
dass die Quadriga fliegen
kann – und ich gleich
einmal mit. Um mich
herum geflügelte Worte.
Ich bin ein Berliner. Ich
bin Torontoer. Ich bin
Bukarester. Ich bin
Wiener. Goethe unten,
Heine oben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Keiner ist mir hinauf
gefolgt, keiner weiß, wie
es oben aussieht, hundert-
tausend Traktate und
was ist drin?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Manchmal kommt mir
in den Sinn, nach Amerika
zu segeln". And here I am.
Ja, lehre Sächsisches Hoch-
deutsch, lehre Toronto-
Schwäbisch, lehre Heuler-
isch ...

 

 

 

 

 

 

 

 

Meine eigenen Geister:
Jetzt
gehen sie in der
Runde herum, in voller Le-
bendigkeit, nicht weil sie
müssen, sondern weil sie
wollen, nicht als mit Aber-
tausenden Tonnen Sekun-
därholz ausgestopfte Opfer
der kanonisierten Litera-
turtheorie, sondern als
mitten in die Diskussion
stürzende Mitmenschen ...

   Als ich gegen Ende der Nullerjahre vom Deutschen Lehrstuhl der Universität Toronto beauftragt wurde, einen Sommerkurs zum Thema Deutsche Literatur zu gestalten, dachte ich mir natürlich, dass ich wohl am besten etwas total in sich Gereimtes vorschlage, zum Beispiel fünf Kilo Klassiker, eine tüchtige Portion Sturm und Drang – selbstredend reichlich mit ergreifender deutscher Empfindsamkeit und sanfter österreichischer Gesetzmäßigkeit gewürzt – und ein paar ansprechende Romantiker, die mit je einem geheimen Wort aufwarten, von dem aus dann im Nu das ganze verkehrte Wesen (Klartext: das ganz verkehrte Schulwesen) mit der Lufthansa fortfliegt. Novalis. Nein, echt, Klassik ist Trumpf. Edle Einfalt, stille Größe. Winckelmann. Mitnichten verkehrt.

Kleine Frage: Ist es angebracht, ist es geraten, ist es erwünscht, dass ich mich bei der Auswahl der zu behandelnden Texte an gewisse Richtlinien halte? Nope. Nicht nötig. Da es sich um einen Einstiegskurs handelte, durfte ich aus dem Stegreif unterrichten. Immer nur losschießen. Hauptsache, der Kurs kommt gut an. Meine Chefin, die Undergraduate Coordinator des German Department, schlug mich kurzerhand zum königlich bevollmächtigten Raubritter der deutschen Literaturgeschichte und erteilte mir zugleich großzügigerweise das unbeschränkte Gracchus-Jagdrecht für die gesamte Dauer des sonnigen Ontario-Sommers (mit der Option einer möglichen Verlängerung bis tief in den indian summer – den kanadischen Spätherbst – hinein). Vor der City Hall wartete der Oberbürgermeister von Toronto auf mein Kanu; ein Aasgeier hatte ihm ins Ohr geraunt, dass ich komme.

   Ergo: German literature in kanadischer Verpackung. I can do that. Wer nämlich aus dem vielgeliebten Österreich ins Land der Biberfelle vorstößt, kann alles, hat alles gegessen, alles gelesen – vom Nibelungenlied und den Merseburger Zaubersprüchen bis hin zu den herkömmlichen oder eben postmodernen Mozartkugelrezepten, der Nationalhymne und dem Mann ohne Eigenschaften. A little bit of this, a little bit of that … Ein bisschen Besitz, ein bisschen Bildung, ein bisschen Mythos, ein bisschen Geschichte. Ganz wenig von den ganz Großen. Ganz einfach. Ganz aufschlussreich. Ganz unauffällig-leisetreterisch. Dabei natürlich eindringlich-flächendeckend-multi – multi … ja multi-was?

Ein Kojote heulte aus der Ferne; oder ein Wolf. Dank meiner gründlichen literaturwissenschaftlichen Ausbildung und der tadellosen Beherrschung der Zweiten Lautverschiebung entschlüsselte ich mit links seine Nachricht, die in diesem Falle, wie in vielen Fällen (ein berühmter kanadischer Feldmarschall stellte das vor geraumer Zeit fest, als er mal so vor sich hin durchs Feld marschierte), mit ihrem Medium, dem Medium des Heulens, identisch ist: I-can-do-that … Can-do-that… Can-do-that…

   Denke ich jetzt zurück, liegt alles klar vor mir: Von weit her ereilt mich immer noch diese in wundersamer Art und Weise sich selbst beinhaltende Nachricht eines nordamerikanischen Wolfes nichtdeutscher Ausdrucksweise, aus den flächendeckenden Jagdgebieten der ausgedehnten kanadischen Steppe, die tief ins Landesinnere reicht – und bis ganz oben, in die Ministerien. Es gibt, so glaube ich, einen ähnlichen Laut in Thomas Manns Tod in Venedig; doch da läuft kein Wolf herum, sondern eine Raubkatze, ein Tiger, wenn ich mich nicht irre. Und der läuft auch gar nicht herum, er liegt auf der Lauer. Aber nicht in Venedig. In Asien.

Alles frisch in mir: can-do-attitude. Can … Do … Can … Doo … Uuuu! ... Das Heulen hört auf. Der Wolf verzehrt wohl gerade seine Beute. Ich pirsche mich an die Robarts Library heran, so durch und durch bereit für ein köstliches Spracherlebnis, mehr als eine Million Bände in Reichweite, will mich schon wenigstens auf der schönen imaginären Ebene der deutsch-kanadischen Gedankendämmerung mit den allerbedeutendsten Bürgern und Fürsten in der Literatur anlegen, lege mich hin, was für eine gemütliche Couch, muss ich im Stillen anerkennend sagen, wittere fette Beute, liege nun meinerseits auf der Lauer, wie der Wolf mit seinen funkelnden Augen, denke nach, bin müde; höre auf mit dem Nachdenken, öffne die Augen, rieche die Bücher, weiß: Die sind neu und sauber. So wird ein Kurs gemacht.

   Ich schaue mich um: da oben der CN-Turm, an seinem Fuße das Rogers Center (großes Stadium), früher SkyDome genannt, ein bisschen weiter weg die deutsche Literaturgeschichte – so wie man sie sich im kanadischen Exil am Ontariosee ausmalt. Mein Freund, mein Vaterland, meine Sprache. Ein Faustisches Gefühl will mich schon fast überkommen, ein ozeanisches Gefühl, ein Wasserfall-Gefühl, ein Dusche-Gefühl. Es wird kühl. Die Sonne ist in den Ontariosee gefallen. Ich weiß, ich sollte nicht hinschauen, denn unsereiner, das auch auf literaturkritischen Jagdgründen streitfreudige Kriegsvolk vom Geschlecht der Schildkröte, blickt ja der aufgehenden Sonne nach, nicht der untergegangenen. Da Falkenauge sich hierzulande vor ein paar wenigen Jahrhunderten die inwendige Kulturlandschaft der Großen Seen anschaute und sein ziemlich romantisch gefärbter Blick wenigstens teilweise immer noch an den bunten Blättern der kanadischen Wälder hängengeblieben ist, liegt der Gedanke nahe, möglicherweise ein bisschen Karl May mit reinzuschmuggeln. Schachtelsätze gefällig?

Hold it right there! brüllt mich ein Grenzsoldat mit gezückter Waffe nieder. Der Bärentöter darf nicht nach Toronto. Die Patronen muss ich auch abgeben. Ich rufe nur noch mal kurz den Bürgermeister von Radebeul an, der den Bärentöter mitsamt drei zufälligerweise gerade mal vor dem Palast des Generalgouverneurs in Ottawa herumliegenden Bärenmützen der königlichen Garde – ja, bis vor ein paar Jahren wurden die tatsächlich noch aus echtem Bärenpelz gefertigt – und dem Großen Bären der Bachmann, den ich sicherheitshalber auch angerufen habe, tunlichst abholt. Sein Platz ist im Museum, nicht in meiner Vorlesung.

   Wer soll also auf die Liste? Meine zwei Spitzenkandidaten waren natürlich Heine und Goethe, was schon rein deswegen keinen Fehler ausmachen dürfte, weil jeder Mensch, jeder Student, jeder kaufkräftige und diplombedürftige Interessent wenigstens ein Mal im Leben wenigstens von einem der beiden gehört hat – und mein sehr starker Verdacht ist, das wird in der Regel wohl schon eher Goethe sein; dieser hat schließlich eine ganze Bibliothek in seinem stimmungsvoll eingerichteten Institut in der Nähe der St. Andrew Station, jener hat … ja was hat denn der Heine? Den Begriff Harz IV gestiftet?

Nein. Heines Harz ist unzählbar, dabei aber immerhin durchaus erzählbar. Heine hat seine Sprache. Unsere Sprache. Goethe hat unsere Wertschätzung. Und eine Sprache, die uns, sagen wir’s mal im Flüsterton, weitgehend abhanden gekommen ist (große Ausnahme: Thomas Mann – aber nur so, zum Spaß).

Und Hesse hat mit seinem Steppenwolf (nicht nur) Nordamerika erobert. Und sein Held Harry Haller hat darin, im Steppenwolf, den guten alten Geheimrat sogar höchstpersönlich sozusagen in höheren Gefilden antreffen dürfen, wiewohl dieser zur Zeit schon längst in die vorübergehende Ewigkeit der Schulbücher eingegangen – d.h. strenggenommen ja eigentlich gar nicht mehr zu sprechen – war.

   Doch so einer ist unser Hermann Hesse nun einmal. Er schafft Verbindung. Er schleicht sich durch die Jahrhunderte. Durchs kollektive Unbewusste. Durch die unentwegte geheime Theateraufführung unserer gemeinsamen Lebenswelt und der Welten, die dahinter stecken. Deswegen habe ich ja auch schon Mitte der Nullerjahre im Goethe-Institut Toronto einen Herman-Hesse-Vortrag gehalten, um besser im Bilde zu sein über diese Welt und ihre sonderlichen Lebewesen, um mir ein besseres Bild zu machen, um mir ein klar definierbares Ziel zu stecken – das Stück Papier mit den Notizen brav zusammengefaltet, zerknüllt, weggeworfen: "Ein Bild der Zielsetzung zwischen Entfaltung und Geworfenheit."

Und deswegen wollte ich nun auf gut Toronto-Schwäbisch in seinem Namen ein Versöhnungswort an Harry Heine richten, der etwa im Schwabenspiegel so unerbittlich gegen die Schwaben (oder doch jedenfalls gegen die Schwabenschule) wetterte. Denn schwäbisch ist, was schwäbisch lebt und leibt, ob nun kaiserlicher Untertan, Hanseat oder Eidgenosse, right? Right!

   Also dann eben in Hesses Namen: Reich mir das Händle, moa friendle! Den mehr oder weniger offensichtlichen Einfluss des Englischen, dem (nicht nur) das Deutsche weltweit erliegt, hab ich gleich einmal proaktiv globalisierend mit eingebaut. Wie gesagt: Toronto-Schwäbisch.

Und schon saßen die beiden markanten h. und h. Schriftsteller, Hermann Hesse und Heinrich Heine, problemlos nebeneinander in meinem Vorlesungssaal, drückten dieselbe Bank, blickten mich erwartungsvoll an, schneiten ihre Werke rein und retteten meinen Kurs. Es hätte nicht einträchtiger kommen können. Ich bin der beste Schlichter.

Ja wenn sich Titanen das Händle reichen, anstatt ins Händel zu geraten, dann freuen sich die Studenten. Und da ich in meinem German literature course natürlich nachträglich im virtuellen geistigen Raum meiner Lesungen an der Universität Toronto im Namen der Königin – und auch im Namen des Kaisers, den ich als gebürtiger Österreicher ebenfalls immer gerne erwähne, obwohl er längst weg ist – einem jedweden Gerangel zwischen deutschen Schriftstellern vorbeugen musste, berief ich mich zusätzlich gleich einmal auf die kulinarische Dimension des Lebens als gemeinsamen Nenner eines (das gebe ich zu) schrecklich interkulturell und politisch korrekt geratenen Diskurses rund um Deutschland und die Dichtung: "Lasst uns nach Schwaben entfliehen! Hilf Himmel! Es findet sich süße Speise da und alles Gute in Fülle." Ein Goethe-Zitat. Was sonst? Goethe ist der beste Freund des Deutschlehrers.

   Nur, Heine durfte ja bekanntlich nie mehr aus seinem Pariser Exil zurück, wie sehr er sich auch nach einem anständigen deutschen Schmaus (und nach einem anständigen, weichen deutschen Federbett) sehnte, wobei es mir, dem im kanadischen Exil viersprachig Herumlungernden, frei steht, mal zurückzufliegen (soweit genug Kohle da ist), weswegen ich gleich mal den Entschluss fasste, nicht nur bei den lokalen Häuptlingen der kanadischen German Studies, sondern auch bei den großen europäischen Kommandanten der kanonisierten Germanistik höchstpersönlich um Rat zu fragen (schon von Goethes Homunculus heißt es ja: Er fragt um Rat und möchte gern entstehn"): Wie gestaltet man so einen Kurs, der nicht zu schwer sein darf, dabei freilich auch nicht zu leicht, und vor allem – hab ich das schon erwähnt? – also vor allem eben ja nicht zu schwer.

Immer noch ertönt mir die sanft aufklärende – dabei freilich auch unverkennbar schelmische, gleichsam in einen wundersam zauberhaften literaturwissenschaftlichen Teufelskreis einweihende – Stimme des Erdgeistes im Ohr (ja, das war ganz bestimmt der Erdgeist. Wer ruft mir? hat er mich gefragt, genau, mir, nicht mich, ganz poetisch, dieser Ergeist – oder war es eben doch bloß der Germanistikgeist oder gar irgendein subregionaler Berlinergeist?), mit einer Urtümlichkeit, die höchstens wegen der inzwischen verstrichenen paar Jahre sozusagen ein klein bisschen an Unverwechselbarkeit und majeutischer Schärfe eingebüßt hat: "Am besten ist's auch hier, wenn Ihr nur einen hört, und auf des Meisters Worte schwört. Im ganzen – haltet Euch an Worte! Dann geht Ihr durch die sichre Pforte zum Tempel der Gewissheit ein."

   Gewissheit ist mein Steckenpferd. Und durch eine sichere Pforte gehen? Das höchste der Gefühle. Ich hielt mich also brav an des Meisters Worte (machte auch, wie mir gehießen, beim Weggehen einen Bogen um drei streunende Hunde, die mit ihren ungeputzen Zähnen auf dem Gehsteig lagen), und der Lorbeerkranz ließ nicht auf sich warten. Meine Vorlesungen in Toronto wurden bekanntlich ein Hammer, Hesse fast noch beliebter, Goethe fast noch verehrter, Heine fast noch … ja Heine eben nun wenigstens halbwegs bekannt.

Hier meine total unfingierten Erinnerungen aus jener Zeit der Suche nach einem Rat, der Zeit, da ich im Angesicht des mir auf einmal total sichtbaren, eindeutig mit allen Wassern der Auslandsgermanistik gewaschenen Erdgeistes europäischer Ausdrucksweise auf etwas schwören wollte, auf ein schönes Buch, auf eine Gesamtausgabe, auf ein Originalgenie, auf ein kluges Wort, auf ein anständiges Lexikon flächendeckender Lehrtätigkeit auf dem Gebiet der deutschsprachigen Literatur oder eben einfach aufs Gefühl; denn Gefühl ist alles. Und mein Blick suchte natürlich einen Halt, einen in dinglicher wie in überdinglicher Hinsicht hinreichenden Anhaltspunkt, einen erbaulichen geistigen Standort, von dem aus einer etwa seinen mit kanadischem Ruderschlag betriebenen German Studies eine nicht ganz falsche Richtung geben könnte, einen mutmaßlichen Aufbruch, ein "Auf! Hinaus! Ins weite Feld!" wie in "Wanderer, kommst du nach Ka…?" Okay, stimmt, das war eigentlich schon wieder der alte Geheimrat. Wie dem auch sei: Vom Standpunkt Toronto aus betrachtet sind alle Katzen grau. Abgesehen von Thomas Manns Tiger natürlich. Und vom Panther im Jardin des Plantes, Paris.

   Direkt in Berlin nachfragen? What a wonderful idea! Kulturwissenschaftlicher Rundblick von der Quadriga: eine geistige Landschaft zum Mitnehmen, zum Einschiffen, zum Ausbeuten. Die Pferde wiehern. Los geht’s. Der Süden wartet auf mich, wie er schon auf den jungen Goethe gewartet hat, auf den älteren Thomas Mann, auf … Da! Hinter den Wolken! Ein Mann bajuwarischen Schlages. Ein Institut, mehr noch, eine Bibliothek; auf dem obersten Regal Goethe und Heine und … nein, Goethe ist runtergefallen, nach hinten natürlich, in den Spalt, sozusagen in die totale Finsternis; wir bedauern sein Gehen, sagt ein noch halbwegs höflich grinsender Epigone in noch halbwegs geduckter Haltung, es wird schwer sein, ihn wieder raufzukriegen, hoffentlich trifft bald ein literaturwissenschaftlich relevanter Suchtrupp von der Goethe-Gesellschaft in Weimar ein. Oder vielleicht hebt niemand mehr das Buch auf, sondern man macht nur mal ganz schnell einen weiteren Goethekopf. Harte Währung in der Kulturpolitik.

Ich hatte keine Ahnung, dass die Quadriga fliegen kann – und ich gleich einmal mit. Um mich herum geflügelte Worte. Ich bin ein Berliner. Ich bin Torontoer. Ich bin Bukarester. Ich bin Wiener. Goethe unten, Heine oben. Heine und ich. Das kommt: Heine und ich, wir beide über Goethe? Klingt ja ganz wie der Titel eines umstrittenen Buches, oder besser gesagt wie der umstrittene Titel eines Buches. Heine und ich, wir stoßen jedenfalls sicherheitshalber zuerst doch noch auf den alten Geheimrat an, aha, da, da und da, ein Haufen Professoren und Verlagskönige, die’s uns nachtun – und auf all das, was sich in seinem Licht entfalten durfte (und auf all das, was in seinem Schatten ersticken durfte), und dann blicke ich schließlich auch mal kurz direkt in Heines Augen (offener, rechtschaffener, kluger Blick, eigentlich ganz okay, und seinen Stil kann ich auch leiden). Es scheint ihn nicht zu stören, dass Goethe weg ist, denn in dessen Gesellschaft konnte sich Heine ja sowieso schwer hervortun, weswegen er – aber das ist, wie ich hier ganz offen einräumen muss, nur eine Spekulation – ihm wohl ein Bein gestellt haben mag, was den alten Meister der deutschen Dichtung zum Stolpern gebracht haben dürfte, als er in einem für die Goetheforschung und vor allem eben auch für meinen Literaturkurs folgenschweren Augenblick von seiner schönen Wolke fiel. Keine Sorge, ein echter Kraftkerl nimmt nicht so leicht Schaden. Seine Taschenuhr tickt nach wie vor. Tick-tack. Tick-tack. Goethezeit intakt.

   Ein Abenteuer in der Literatur, in der Poetologie, ein Bild, das in mir weiterlebt, eine pure Erinnerung, fast vollkommen ungetrübt: Ich versuche den gefallenen alten Goethe-Band prompt durch ein frischgedrucktes Goethe-Jahrbuch zu ersetzten, sozusagen Sekundärliteratur vs. Primärliteratur (ist ja heutzutage der Trend), versuche auf die oberste Wolke zu klettern und es neben Heine zu verorten, da, wo die Lücke am Himmel entstand, nachdem Goethe ging bzw. zu Fall kam, spüre, dass ich auf allen Gipfeln und Wipfeln der Inlands-und Auslandsgermanistik geklettert bin, suche das Kreuz, an dem sich Heine im Harz festhalten wollte, als er einen Halt suchte, kann es nicht finden, kann nichts mehr finden, krieche zurück zur Erde (sieh einer an, die Professoren sind noch alle da, keiner ist mir hinauf gefolgt, keiner weiß, wie es oben aussieht, hunderttausend Traktate und was ist drin? alles Spekulation, nichts als Spekulation, kaa hands-on-experience, nix, was einen ja nicht wundern darf, wenn man sich oben an nichts anhalten kann, und schon in der Edda heißt es: "Ohne Anhaltspunkt kein Wolkenausflug"), erhebe mich aus eigenen Kräften, besiege die Schwerkraft, gerate erneut ins Taumeln, falle aber nicht um, stoße mit allerletzten Kräften ein letztes Mal auf den alten Geheimrat an, es lebe die deutsche Literatur (wohlwollender, lang anhaltender Beifall aus akademischen Kreisen), setze mich ins Kanu, rudere hinüber, bis zum anderen Ufer; hier hat wenig Sinn von dem, was drüben Sinn hatte.

Um es mit Heine zu sagen: "Manchmal kommt mir in den Sinn, nach Amerika zu segeln". And here I am. Ja, lehre Sächsisches Hochdeutsch, lehre Toronto-Schwäbisch, lehre Heulerisch, hatte mir ein anderer Mann aus den schwarzen Wäldern (ich glaube aber, der sprach Bayerisch-Schwäbisch) eingeschärft, bevor ich nach einer anfänglich ungebändigten Begeisterung für seine ganze Art und Weise schließlich über ein paar seiner nicht ganz so saftigen Lehrstücke stolperte und auch mal mitten in der Argumentation kurz zu Fall kam, was mir aber jetzt, im Nachhinein, herzlich wenig ausmacht, denn gute Germanistik ist eine in sich zusammenhängende Aneinanderreihung von Umfallen und Aufstehen.

   Ein Stein am Ufersee, und ich mache meine eigenen Kreise, nähre mein eigenes Lagerfeuer, beschwöre meine eigenen Geister deutschsprachiger Ausdrucksweise; lasse sie aus der Flasche raus, zeige sie von allen Seiten, jetzt gehen sie in der Runde herum, in voller Lebendigkeit, nicht weil sie müssen, sondern weil sie wollen, nicht als mit Abertausenden Tonnen Sekundärholz ausgestopfte Opfer der kanonisierten Literaturtheorie, sondern als jetzt wie früher unwillkürlich mitten rein in die Diskussion stürzende Mitmenschen, die was zu sagen haben und auch ihren Tomahawk so richtig schwingen können, ja, warum nicht, als gute Freunde, als Freunde, die gut sind, gut, edel und gerecht – und mit jenem Glanz der höheren Wesen ausgestattet, die wir ahnen.

Mit den Wölfen heulen, mit den Wölfen tanzen: eine nordamerikanische Lautverschiebung. Ja, lernt Sächsisches Hochdeutsch, lernt Toronto-Schwäbisch, lernt die Sprache des Steppenwolfs, seine inneren Sprachbilder, hört euch ein neues Lied an, ein besseres Lied, erhascht den Klang einer fremden, lichten Welt, die uns allen doch so eigen ist. Freundet euch mit drei deutschen Autoren an, sie werden’s euch danken. All dies sagte ich meinen Studenten in Toronto. Und das muntere Trio der Titanen stand mir zur Seite, behutsam einweihend, vielsagend lächelnd, wohl wissend, dass Deutsch am Ontariosee keineswegs etwa Schnee von gestern ist, sondern der erfrischende Tau eines frühen Morgens im kanadischen Spätherbst. Denn so wird ein Kurs gemacht.

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