Als
ich gegen Ende der Nullerjahre vom Deutschen Lehrstuhl der Universität
Toronto beauftragt wurde, einen Sommerkurs zum Thema Deutsche Literatur zu
gestalten, dachte ich mir natürlich, dass ich wohl am besten etwas total in
sich Gereimtes vorschlage, zum Beispiel fünf Kilo Klassiker, eine tüchtige
Portion Sturm und Drang – selbstredend reichlich mit ergreifender deutscher
Empfindsamkeit und sanfter österreichischer Gesetzmäßigkeit gewürzt – und
ein paar ansprechende Romantiker, die mit je einem geheimen Wort aufwarten,
von dem aus dann im Nu das ganze verkehrte Wesen (Klartext:
das ganz verkehrte Schulwesen) mit der Lufthansa fortfliegt. Novalis. Nein,
echt, Klassik ist Trumpf. Edle Einfalt, stille Größe. Winckelmann.
Mitnichten verkehrt.
Kleine Frage: Ist es
angebracht, ist es geraten, ist es erwünscht, dass ich mich bei der Auswahl
der zu behandelnden Texte an gewisse Richtlinien halte? Nope. Nicht nötig.
Da es sich um einen Einstiegskurs handelte, durfte ich aus dem Stegreif
unterrichten. Immer nur losschießen. Hauptsache, der Kurs kommt gut an.
Meine Chefin, die Undergraduate Coordinator des German Department,
schlug mich kurzerhand zum königlich bevollmächtigten Raubritter der
deutschen Literaturgeschichte und erteilte mir zugleich großzügigerweise das
unbeschränkte Gracchus-Jagdrecht für die gesamte Dauer des sonnigen
Ontario-Sommers (mit der Option einer möglichen Verlängerung bis tief in den
indian summer – den kanadischen Spätherbst – hinein). Vor der City Hall
wartete der Oberbürgermeister von Toronto auf mein Kanu; ein Aasgeier hatte
ihm ins Ohr geraunt, dass ich komme.
Ergo: German literature
in kanadischer Verpackung. I can do that. Wer nämlich aus dem vielgeliebten
Österreich ins Land der Biberfelle vorstößt, kann alles, hat alles gegessen,
alles gelesen – vom Nibelungenlied und den Merseburger Zaubersprüchen bis
hin zu den herkömmlichen oder eben postmodernen Mozartkugelrezepten, der
Nationalhymne und dem Mann ohne Eigenschaften. A little bit of this,
a little bit of that … Ein bisschen Besitz, ein bisschen Bildung, ein
bisschen Mythos, ein bisschen Geschichte. Ganz wenig von den ganz Großen.
Ganz einfach. Ganz aufschlussreich. Ganz unauffällig-leisetreterisch. Dabei
natürlich eindringlich-flächendeckend-multi – multi … ja multi-was?
Ein Kojote heulte aus der
Ferne; oder ein Wolf. Dank meiner gründlichen literaturwissenschaftlichen
Ausbildung und der tadellosen Beherrschung der Zweiten Lautverschiebung
entschlüsselte ich mit links seine Nachricht, die in diesem Falle, wie in
vielen Fällen (ein berühmter kanadischer Feldmarschall stellte das vor
geraumer Zeit fest, als er mal so vor sich hin durchs Feld marschierte), mit
ihrem Medium, dem Medium des Heulens, identisch ist: I-can-do-that …
Can-do-that… Can-do-that…
Denke ich jetzt zurück,
liegt alles klar vor mir: Von weit her ereilt mich immer noch diese in
wundersamer Art und Weise sich selbst beinhaltende Nachricht eines
nordamerikanischen Wolfes nichtdeutscher Ausdrucksweise, aus den
flächendeckenden Jagdgebieten der ausgedehnten kanadischen Steppe, die tief
ins Landesinnere reicht – und bis ganz oben, in die Ministerien. Es gibt, so
glaube ich, einen ähnlichen Laut in Thomas Manns Tod in Venedig; doch
da läuft kein Wolf herum, sondern eine Raubkatze, ein Tiger, wenn ich mich
nicht irre. Und der läuft auch gar nicht herum, er liegt auf der Lauer. Aber
nicht in Venedig. In Asien.
Alles frisch in mir:
can-do-attitude. Can … Do … Can … Doo … Uuuu! ... Das Heulen hört auf. Der
Wolf verzehrt wohl gerade seine Beute. Ich pirsche mich an die Robarts
Library heran, so durch und durch bereit für ein köstliches Spracherlebnis,
mehr als eine Million Bände in Reichweite, will mich schon wenigstens auf
der schönen imaginären Ebene der deutsch-kanadischen Gedankendämmerung mit
den allerbedeutendsten Bürgern und Fürsten in der Literatur anlegen, lege
mich hin, was für eine gemütliche Couch, muss ich im Stillen anerkennend
sagen, wittere fette Beute, liege nun meinerseits auf der Lauer, wie der
Wolf mit seinen funkelnden Augen, denke nach, bin müde; höre auf mit dem
Nachdenken, öffne die Augen, rieche die Bücher, weiß: Die sind neu und
sauber. So wird ein Kurs gemacht.
Ich schaue mich um: da
oben der CN-Turm, an seinem Fuße das Rogers Center (großes Stadium), früher
SkyDome genannt, ein bisschen weiter weg die deutsche Literaturgeschichte –
so wie man sie sich im kanadischen Exil am Ontariosee ausmalt. Mein Freund,
mein Vaterland, meine Sprache. Ein Faustisches Gefühl will mich schon fast
überkommen, ein ozeanisches Gefühl, ein Wasserfall-Gefühl, ein
Dusche-Gefühl. Es wird kühl. Die Sonne ist in den Ontariosee gefallen. Ich
weiß, ich sollte nicht hinschauen, denn unsereiner, das auch auf
literaturkritischen Jagdgründen streitfreudige Kriegsvolk vom Geschlecht der
Schildkröte, blickt ja der aufgehenden Sonne nach, nicht der
untergegangenen. Da Falkenauge sich hierzulande vor ein paar wenigen
Jahrhunderten die inwendige Kulturlandschaft der Großen Seen anschaute und
sein ziemlich romantisch gefärbter Blick wenigstens teilweise immer noch an
den bunten Blättern der kanadischen Wälder hängengeblieben ist, liegt der
Gedanke nahe, möglicherweise ein bisschen Karl May mit reinzuschmuggeln.
Schachtelsätze gefällig?
Hold it right there!
brüllt mich ein Grenzsoldat mit gezückter Waffe nieder. Der Bärentöter darf
nicht nach Toronto. Die Patronen muss ich auch abgeben. Ich rufe nur noch
mal kurz den Bürgermeister von Radebeul an, der den Bärentöter mitsamt drei
zufälligerweise gerade mal vor dem Palast des Generalgouverneurs in Ottawa
herumliegenden Bärenmützen der königlichen Garde – ja, bis vor ein paar
Jahren wurden die tatsächlich noch aus echtem Bärenpelz gefertigt – und dem
Großen Bären der Bachmann, den ich sicherheitshalber auch angerufen habe,
tunlichst abholt. Sein Platz ist im Museum, nicht in meiner Vorlesung.
Wer soll also auf die
Liste? Meine zwei Spitzenkandidaten waren natürlich Heine und Goethe, was
schon rein deswegen keinen Fehler ausmachen dürfte, weil jeder Mensch, jeder
Student, jeder kaufkräftige und diplombedürftige Interessent wenigstens ein
Mal im Leben wenigstens von einem der beiden gehört hat – und mein sehr
starker Verdacht ist, das wird in der Regel wohl schon eher Goethe sein;
dieser hat schließlich eine ganze Bibliothek in seinem stimmungsvoll
eingerichteten Institut in der Nähe der St. Andrew Station, jener hat … ja
was hat denn der Heine? Den Begriff Harz IV gestiftet?
Nein. Heines Harz ist
unzählbar, dabei aber immerhin durchaus erzählbar. Heine hat seine Sprache.
Unsere Sprache. Goethe hat unsere Wertschätzung. Und eine Sprache, die uns,
sagen wir’s mal im Flüsterton, weitgehend abhanden gekommen ist (große
Ausnahme: Thomas Mann – aber nur so, zum Spaß).
Und Hesse hat mit seinem
Steppenwolf (nicht nur) Nordamerika erobert. Und sein Held Harry
Haller hat darin, im Steppenwolf, den guten alten Geheimrat sogar
höchstpersönlich sozusagen in höheren Gefilden antreffen dürfen, wiewohl
dieser zur Zeit schon längst in die vorübergehende Ewigkeit der Schulbücher
eingegangen – d.h. strenggenommen ja eigentlich gar nicht mehr zu sprechen –
war.
Doch so einer ist unser
Hermann Hesse nun einmal. Er schafft Verbindung. Er schleicht sich durch die
Jahrhunderte. Durchs kollektive Unbewusste. Durch die unentwegte geheime
Theateraufführung unserer gemeinsamen Lebenswelt und der Welten, die
dahinter stecken. Deswegen habe ich ja auch schon Mitte der Nullerjahre im
Goethe-Institut Toronto einen Herman-Hesse-Vortrag gehalten, um besser im
Bilde zu sein über diese Welt und ihre sonderlichen Lebewesen, um mir ein
besseres Bild zu machen, um mir ein klar definierbares Ziel zu stecken – das
Stück Papier mit den Notizen brav zusammengefaltet, zerknüllt, weggeworfen:
"Ein Bild der Zielsetzung zwischen Entfaltung und Geworfenheit."
Und deswegen wollte ich
nun auf gut Toronto-Schwäbisch in seinem Namen ein Versöhnungswort an Harry
Heine richten, der etwa im Schwabenspiegel so unerbittlich gegen die
Schwaben (oder doch jedenfalls gegen die Schwabenschule) wetterte. Denn
schwäbisch ist, was schwäbisch lebt und leibt, ob nun
kaiserlicher Untertan, Hanseat oder Eidgenosse, right? Right!
Also dann eben in Hesses
Namen: Reich mir das Händle, moa friendle! Den mehr oder weniger
offensichtlichen Einfluss des Englischen, dem (nicht nur) das Deutsche
weltweit erliegt, hab ich gleich einmal proaktiv globalisierend mit
eingebaut. Wie gesagt: Toronto-Schwäbisch.
Und schon saßen die beiden
markanten h. und h. Schriftsteller, Hermann Hesse und Heinrich Heine,
problemlos nebeneinander in meinem Vorlesungssaal, drückten dieselbe Bank,
blickten mich erwartungsvoll an, schneiten ihre Werke rein und retteten
meinen Kurs. Es hätte nicht einträchtiger kommen können. Ich bin der beste
Schlichter.
Ja wenn sich Titanen das
Händle reichen, anstatt ins Händel zu geraten, dann freuen sich die
Studenten. Und da ich in meinem German literature course natürlich
nachträglich im virtuellen geistigen Raum meiner Lesungen an der Universität
Toronto im Namen der Königin – und auch im Namen des Kaisers, den ich als
gebürtiger Österreicher ebenfalls immer gerne erwähne, obwohl er längst weg
ist – einem jedweden Gerangel zwischen deutschen Schriftstellern vorbeugen
musste, berief ich mich zusätzlich gleich einmal auf die kulinarische
Dimension des Lebens als gemeinsamen Nenner eines (das gebe ich zu)
schrecklich interkulturell und politisch korrekt geratenen Diskurses rund um
Deutschland und die Dichtung: "Lasst uns nach Schwaben entfliehen! Hilf
Himmel! Es findet sich süße Speise da und alles Gute in Fülle." Ein
Goethe-Zitat. Was sonst? Goethe ist der beste Freund des Deutschlehrers.
Nur, Heine durfte ja
bekanntlich nie mehr aus seinem Pariser Exil zurück, wie sehr er sich auch
nach einem anständigen deutschen Schmaus (und nach einem anständigen,
weichen deutschen Federbett) sehnte, wobei es mir, dem im kanadischen Exil
viersprachig Herumlungernden, frei steht, mal zurückzufliegen (soweit genug
Kohle da ist), weswegen ich gleich mal den Entschluss fasste, nicht nur bei
den lokalen Häuptlingen der kanadischen German Studies, sondern auch
bei den großen europäischen Kommandanten der kanonisierten Germanistik
höchstpersönlich um Rat zu fragen (schon von Goethes Homunculus heißt es ja:
Er fragt um Rat und möchte gern entstehn"): Wie gestaltet man so einen Kurs,
der nicht zu schwer sein darf, dabei freilich auch nicht zu leicht, und vor
allem – hab ich das schon erwähnt? – also vor allem eben ja nicht zu schwer.
Immer noch ertönt mir die
sanft aufklärende – dabei freilich auch unverkennbar schelmische, gleichsam
in einen wundersam zauberhaften literaturwissenschaftlichen Teufelskreis
einweihende – Stimme des Erdgeistes im Ohr (ja, das war ganz bestimmt der
Erdgeist. Wer ruft mir? hat er mich gefragt, genau, mir, nicht mich, ganz
poetisch, dieser Ergeist – oder war es eben doch bloß der Germanistikgeist
oder gar irgendein subregionaler Berlinergeist?), mit einer Urtümlichkeit,
die höchstens wegen der inzwischen verstrichenen paar Jahre sozusagen ein
klein bisschen an Unverwechselbarkeit und majeutischer Schärfe eingebüßt
hat: "Am besten ist's auch hier, wenn Ihr nur einen hört, und auf des
Meisters Worte schwört. Im ganzen – haltet Euch an Worte! Dann geht Ihr
durch die sichre Pforte zum Tempel der Gewissheit ein."
Gewissheit ist mein
Steckenpferd. Und durch eine sichere Pforte gehen? Das höchste der Gefühle.
Ich hielt mich also brav an des Meisters Worte (machte auch, wie mir
gehießen, beim Weggehen einen Bogen um drei streunende Hunde, die mit ihren
ungeputzen Zähnen auf dem Gehsteig lagen), und der Lorbeerkranz ließ nicht
auf sich warten. Meine Vorlesungen in Toronto wurden bekanntlich ein Hammer,
Hesse fast noch beliebter, Goethe fast noch verehrter, Heine fast noch … ja
Heine eben nun wenigstens halbwegs bekannt.
Hier meine total
unfingierten Erinnerungen aus jener Zeit der Suche nach einem Rat, der Zeit,
da ich im Angesicht des mir auf einmal total sichtbaren, eindeutig mit allen
Wassern der Auslandsgermanistik gewaschenen Erdgeistes europäischer
Ausdrucksweise auf etwas schwören wollte, auf ein schönes Buch, auf eine
Gesamtausgabe, auf ein Originalgenie, auf ein kluges Wort, auf ein
anständiges Lexikon flächendeckender Lehrtätigkeit auf dem Gebiet der
deutschsprachigen Literatur oder eben einfach aufs Gefühl; denn Gefühl ist
alles. Und mein Blick suchte natürlich einen Halt, einen in dinglicher wie
in überdinglicher Hinsicht hinreichenden Anhaltspunkt, einen erbaulichen
geistigen Standort, von dem aus einer etwa seinen mit kanadischem
Ruderschlag betriebenen German Studies eine nicht ganz falsche Richtung
geben könnte, einen mutmaßlichen Aufbruch, ein "Auf! Hinaus! Ins weite
Feld!" wie in "Wanderer, kommst du nach Ka…?" Okay, stimmt, das war
eigentlich schon wieder der alte Geheimrat. Wie dem auch sei: Vom Standpunkt
Toronto aus betrachtet sind alle Katzen grau. Abgesehen von Thomas Manns
Tiger natürlich. Und vom Panther im Jardin des Plantes, Paris.
Direkt in Berlin
nachfragen? What a wonderful idea! Kulturwissenschaftlicher Rundblick von
der Quadriga: eine geistige Landschaft zum Mitnehmen, zum Einschiffen, zum
Ausbeuten. Die Pferde wiehern. Los geht’s. Der Süden wartet auf mich, wie er
schon auf den jungen Goethe gewartet hat, auf den älteren Thomas Mann, auf …
Da! Hinter den Wolken! Ein Mann bajuwarischen Schlages. Ein Institut, mehr
noch, eine Bibliothek; auf dem obersten Regal Goethe und Heine und … nein,
Goethe ist runtergefallen, nach hinten natürlich, in den Spalt, sozusagen in
die totale Finsternis; wir bedauern sein Gehen, sagt ein noch halbwegs
höflich grinsender Epigone in noch halbwegs geduckter Haltung, es wird
schwer sein, ihn wieder raufzukriegen, hoffentlich trifft bald ein
literaturwissenschaftlich relevanter Suchtrupp von der Goethe-Gesellschaft
in Weimar ein. Oder vielleicht hebt niemand mehr das Buch auf, sondern man
macht nur mal ganz schnell einen weiteren Goethekopf. Harte Währung in der
Kulturpolitik.
Ich hatte keine Ahnung,
dass die Quadriga fliegen kann – und ich gleich einmal mit. Um mich herum
geflügelte Worte. Ich bin ein Berliner. Ich bin Torontoer. Ich bin
Bukarester. Ich bin Wiener. Goethe unten, Heine oben. Heine und ich. Das
kommt: Heine und ich, wir beide über Goethe? Klingt ja ganz wie der Titel
eines umstrittenen Buches, oder besser gesagt wie der umstrittene Titel
eines Buches. Heine und ich, wir stoßen jedenfalls sicherheitshalber zuerst
doch noch auf den alten Geheimrat an, aha, da, da und da, ein Haufen
Professoren und Verlagskönige, die’s uns nachtun – und auf all das, was sich
in seinem Licht entfalten durfte (und auf all das, was in seinem Schatten
ersticken durfte), und dann blicke ich schließlich auch mal kurz direkt in
Heines Augen (offener, rechtschaffener, kluger Blick, eigentlich ganz okay,
und seinen Stil kann ich auch leiden). Es scheint ihn nicht zu stören, dass
Goethe weg ist, denn in dessen Gesellschaft konnte sich Heine ja sowieso
schwer hervortun, weswegen er – aber das ist, wie ich hier ganz offen
einräumen muss, nur eine Spekulation – ihm wohl ein Bein gestellt haben mag,
was den alten Meister der deutschen Dichtung zum Stolpern gebracht haben
dürfte, als er in einem für die Goetheforschung und vor allem eben auch für
meinen Literaturkurs folgenschweren Augenblick von seiner schönen Wolke
fiel. Keine Sorge, ein echter Kraftkerl nimmt nicht so leicht Schaden. Seine
Taschenuhr tickt nach wie vor. Tick-tack. Tick-tack. Goethezeit intakt.
Ein Abenteuer in der
Literatur, in der Poetologie, ein Bild, das in mir weiterlebt, eine pure
Erinnerung, fast vollkommen ungetrübt: Ich versuche den gefallenen alten
Goethe-Band prompt durch ein frischgedrucktes Goethe-Jahrbuch zu ersetzten,
sozusagen Sekundärliteratur vs. Primärliteratur (ist ja heutzutage der
Trend), versuche auf die oberste Wolke zu klettern und es neben Heine zu
verorten, da, wo die Lücke am Himmel entstand, nachdem Goethe ging bzw. zu
Fall kam, spüre, dass ich auf allen Gipfeln und Wipfeln der Inlands-und
Auslandsgermanistik geklettert bin, suche das Kreuz, an dem sich Heine im
Harz festhalten wollte, als er einen Halt suchte, kann es nicht finden, kann
nichts mehr finden, krieche zurück zur Erde (sieh einer an, die Professoren
sind noch alle da, keiner ist mir hinauf gefolgt, keiner weiß, wie es oben
aussieht, hunderttausend Traktate und was ist drin? alles Spekulation,
nichts als Spekulation, kaa hands-on-experience, nix, was einen ja nicht
wundern darf, wenn man sich oben an nichts anhalten kann, und schon in der
Edda heißt es: "Ohne Anhaltspunkt kein Wolkenausflug"), erhebe mich aus
eigenen Kräften, besiege die Schwerkraft, gerate erneut ins Taumeln, falle
aber nicht um, stoße mit allerletzten Kräften ein letztes Mal auf den alten
Geheimrat an, es lebe die deutsche Literatur (wohlwollender, lang
anhaltender Beifall aus akademischen Kreisen), setze mich ins Kanu, rudere
hinüber, bis zum anderen Ufer; hier hat wenig Sinn von dem, was drüben Sinn
hatte.
Um es mit Heine zu sagen:
"Manchmal kommt mir in den Sinn, nach Amerika zu
segeln". And here I am. Ja, lehre Sächsisches Hochdeutsch, lehre
Toronto-Schwäbisch, lehre Heulerisch, hatte mir ein anderer Mann aus den
schwarzen Wäldern (ich glaube aber, der sprach Bayerisch-Schwäbisch)
eingeschärft, bevor ich nach einer anfänglich ungebändigten Begeisterung für
seine ganze Art und Weise schließlich über ein paar seiner nicht ganz so
saftigen Lehrstücke stolperte und auch mal mitten in der Argumentation kurz
zu Fall kam, was mir aber jetzt, im Nachhinein, herzlich wenig ausmacht,
denn gute Germanistik ist eine in sich zusammenhängende Aneinanderreihung
von Umfallen und Aufstehen.
Ein Stein am Ufersee, und
ich mache meine eigenen Kreise, nähre mein eigenes Lagerfeuer, beschwöre
meine eigenen Geister deutschsprachiger Ausdrucksweise; lasse sie aus der
Flasche raus, zeige sie von allen Seiten, jetzt gehen sie in der Runde
herum, in voller Lebendigkeit, nicht weil sie müssen, sondern weil sie
wollen, nicht als mit Abertausenden Tonnen Sekundärholz ausgestopfte Opfer
der kanonisierten Literaturtheorie, sondern als jetzt wie früher
unwillkürlich mitten rein in die Diskussion stürzende Mitmenschen, die was
zu sagen haben und auch ihren Tomahawk so richtig schwingen können, ja,
warum nicht, als gute Freunde, als Freunde, die gut sind, gut, edel und
gerecht – und mit jenem Glanz der höheren Wesen ausgestattet, die wir ahnen.
Mit den Wölfen heulen, mit
den Wölfen tanzen: eine nordamerikanische Lautverschiebung. Ja, lernt
Sächsisches Hochdeutsch, lernt Toronto-Schwäbisch, lernt die Sprache des
Steppenwolfs, seine inneren Sprachbilder, hört euch ein neues Lied an, ein
besseres Lied, erhascht den Klang einer fremden, lichten Welt, die uns allen
doch so eigen ist. Freundet euch mit drei deutschen Autoren an, sie werden’s
euch danken. All dies sagte ich meinen Studenten in Toronto. Und das muntere
Trio der Titanen stand mir zur Seite, behutsam einweihend, vielsagend
lächelnd, wohl wissend, dass Deutsch am Ontariosee keineswegs etwa Schnee
von gestern ist, sondern der erfrischende Tau eines frühen Morgens im
kanadischen Spätherbst. Denn so wird ein Kurs gemacht.