Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at]
rogers.com
geboren
1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in Toronto.

Robert Menasse.
Der europäische Landbote.
Die Wut der Bürger und
der Friede Europas.
Zsolnay, 2012, 128 S.
ISBN: 978-3552056169
Gewinnt der eindimen-
sionale, engstirnige Euro-
päer die Oberhand, so ist
das Spiel bald nicht zu
Gunsten der schönen
europäischen Prinzipien
und Ideale, sondern zu
Gunsten des absoluten
Primats skrupelloser
Machtpolitik entschieden.

Robert Menasse.
Heimat ist die schönste
Utopie: Reden (wir)
über Europa.
Suhrkamp, 2014, 176 S.
ISBN: 978-3518126899
Wider die Eindimensio-
nalität reitet Menasse
sozusagen Zeile um Zeile
– und gibt dabei seinem
Pferd die Sporen, und
zwar so intensiv, dass die
Leserschaft das irgendwie
schmerzhaft mitempfindet.
Man könnte sowas gege-
benenfalls ernüchternde
Aufklärung nennen.

Karl-Markus Gauß.
Das europäische Alphabet.
dtv, 2000, 208 S.
ISBN: 978-3423361682.
Denn Gauß ist ein Öster-
reicher, der dem Selbst-
hass wie dem Fremden-
hass kategorisch entsagt.
Er ist ein skeptischer
Europäer mit nüchternem
Blick und scharfer Zunge,
dem es darum geht, den
zahlreichen Klischees der
Stunde auf den Zahn zu
fühlen, um in Erfahrung
zu bringen, was es denn
mit dieser Union auf sich
habe, die wir gemein-
sam anstreben.

Karl-Markus Gauß.
Der Alltag der Welt: Zwei
Jahre, und viele mehr.
Zsolnay, 2015, 336 S.
ISBN: 978-3552057333.
"Es ist eine Schande für
diese Länder. Das Versa-
gen ist unentschuldbar
– aber es ist nicht unbe-
greiflich."
Es gibt
natürlich in
Sachen Machbarkeit tatsächliche Grenzen,
und es ist äußerst
wichtig,
ein taugliches Konzept
bzw. wennschon auch
nur halbwegs in
sich
gereimte Strategien vor-
weisen zu können, bevor
man die zwiespältige
Phrase "Schaffn’ma’
scho‘" aufs Geratewohl
in die Öffentlichkeit
hinschmeißt.
Wollen wir aus dem
Unort einen Ort machen?
Aus dem eindimensio-
nalen Europäer einen
universalen Europäer?
Wollen wir gut sein?
Edel und gerecht? Wollen
wir die Verhältnisse
ändern?
Aber dass Karl-Markus
Gauß mit Nachdruck sagt:
"Ich bin das Kind von
Flüchtlingen!" Das zählt.
Das gilt. Das nehmen wir
uns zu Herzen. Hier liegt
beides vor: Realität und
Wirklichkeit.
|
Gäbe
es tatsächlich ein Riesenteleskop der Marke Robert Menasse, so könnte
man damit weit in die Zukunft spähen. Und hätte es etwa am 12. Oktober 1974,
als sich Robert Menasse, Ludwig Hartinger, Herbert Ohrlinger und Karl-Markus
Gauß bekanntlich bei Bier und Hunnenspieß (oder bei Bier und
Schlachtplatte?) im Weißen Kreuz in Salzburg in aller Gemütlichkeit über
ihre "Zukunft in der Literatur" unterhielten, so ein Teleskop gegeben, dann
hätte man in dem Augenblick an Ort und Stelle sehen können,
wie die literarische Zukunft dieser schon damals in ihrem gewaltigen Schwung
und in ihrer ungebändigten Begeisterung für Sprache, für Literatur, für
Polemik und scharfzüngige Essayistik bedeutsamen Männer später – sagen wir
mal im Jahre 2016 – aussehen werde. Und um es ausnahmsweise in unserer
europaweiten lingua franca zu sagen, in der ja auch die good old Eurozine,
in der etwa ein Menasse öfters in englischem
Sprachgewand durch den Kontinent geistert, erscheint: They never lost their
swing. Das sind österreichische Schriftsteller, die
was zu sagen haben. Und wenn sie mal nichts zu sagen haben, dann verstehen
sie es, sich immer wieder gründlich auszuschweigen (so Gauß über sich selbst
2008 in einem Interview im rumänischen Germanisten-Jahrbuch
Transcarpathica). Sich ausschweigen: indeed quite österreichisch.
Vier Männer an
einem Tisch. Vier Jungliteraten. Vier große Kinder, die schrecklich viel
gelesen haben. Freunde. Österreicher. Europäer. Die Frage, die sich der
universale Zeitgeist österreichischer Ausdrucksweise
stellt, die Frage, die sich "unser" zeitgenössischer
Zeitgeist stellt (soweit man sich den Zeitgeist einfach unter Einbringung
eines großzügigen kulturwissenschaftlichen Überziehungsrahmens kapriziös-essayistisch
aneignen und nach Belieben chronologisch einordnen darf): Worüber sprechen
Sie?
Ein Blick auf
Robert Menasses geheimes Tagebuch ergibt folgende strategisch belangvolle
Information: Sie sprechen über Kinder-Typen. Eines dieser mittlerweile
erwachsenen Kinder in der Literatur geht gerne auch mal zum Tellerrand und
spielt dort mit denjenigen Kindern, die vielleicht was Eigenes haben, auch
wenn sie nichts haben. Und dann erzählt es zu Hause, was sich drüben so tut:
ein Kind vom Typus Gauß. Tagebücher und Journale sind eine gute Sache, denn
so wissen wir, wie’s früher mal war und wie es wohl in ganz ferner oder eben
in ganz naher Zukunft mal aussehen will. Ein europäischer Landbote
österreichischen Schlages hat uns seine europäische
Botschaft durch die Zeiten hindurch zukommen lassen. Deswegen sind wir über
die Reihenfolge der Geschichte bestens im Bilde.
Tatsache ist,
Robert Menasse hat vor dem Brexit durch sein Teleskop geschaut, jedenfalls
behauptete er das in Eurozine (zunächst in englischer Übersetzung; der
Originalbeitrag erschien alsdann in Akzente), um im gegenwärtigen
europäischen Zusammenhang wennschon nicht auf politischer Ebene, so doch
aus vielfach reflektierter essayistischer Perspektive die
richtigen Akzente des neuen EU-Narrativs zu setzen, an dem derzeit in den
Kanzleien, in den Medien und rund um die Think Tanks gefeilt wird. Dabei sah
er, dass die Nationalstaaten aussterben müssen. Ferner hat der universale
Europäer mit scharfem österreichischen Blick
unmissverständlich erkannt, dass die Zukunft des Kontinents vom Resultat der
Auseinandersetzung zwischen Eindimensionalität und Universalität abhängt,
die sich in den Köpfen der Europäer abspielt: in
unseren Köpfen. Gewinnt der eindimensionale,
engstirnigere Europäer die Oberhand, so ist das Spiel bald nicht zu Gunsten
der an sich ja quasi-allgemein erwünschten Wahrnehmung von unseren schönen europäischen
Prinzipien und Idealen, sondern vielmehr zu Gunsten des absoluten Primats
skrupelloser Machtpolitik entschieden. Zwei Europäer-Typen, wohnen, ach! in
diesem Konzept, in dieser Vision: Europa. Welcher wird die Wahrheit des
Begriffs für sich in Anspruch nehmen, und die Wirklichkeit, die hinter
dieser Wahrheit steckt?
"Hier scheint
etwas entzwei gegangen zu sein", sagt der Theologe in Bertolt Brechts Leben
des Galilei, als er das zerbrochene Ptolemäische Modell am Boden sieht.
Durch Galileis Fernrohr schauen will er freilich nicht. Menasse nimmt darauf
Bezug und beschwört in seinem anregenden
Eurozine/Akzente-Essay "The one-dimensional European"
/ "Der eindimensionale Europäer", anhand dessen er seine Mitmenschen dazu
bewegen will, mit wachsamem Blick in die Zukunft (und das heißt zuerst
einmal natürlich eben vor allem auch: in die Vergangenheit) zu schauen, die
produktive Phantasie des Träumers, die volle Kreativität, die der Kontinent
aufbringen kann. Er beschwört die noblen Ideale des
Humanismus, die in den tieferen Schichten der Meinungsbildung agierende
Überzeugungskraft der Vernunft, er will, dass wir in sein Teleskop schauen
und uns dem Bild hingeben, das er für uns gesehen hat, dem Europa-Bild, das
er sich für uns angeeignet hat und das er uns nun weitergibt, dem Sinnbild
einer Welt, in der alle Menschen feuertrunken (um es sinngemäß adäquat mit
Schiller zu sagen) und wohlgemerkt schon auf Erden (um es mit Heine zu
sagen) das himmlische Heiligtum transkontinentaler Gemeinsamkeit betreten,
er will uns ganz im Brechtschen Sinne des Wortes von der Gültigkeit, von der
Zweckmäßigkeit, von der Wirklichkeit und der Wahrhaftigkeit des
Kopernikanischen Weltmodells überzeugen. Er will, dass die Neuzeit bei uns
Europäern endlich mal so richtig ankommt, dass sie so richtig anbricht – und
zugleich auch die Moderne, die Postmoderne, die Spätmoderne: das universale
Zeitalter einer postnationalen europäischen Republik. Europa, ein Märchen
für alle Jahreszeiten.
Aber Europa ist
ja gar kein Märchen. Kein Sommermärchen. Kein Wintermärchen. Und doch, so
kann man es zwischen Menasses Zeilen lesen, zwischen Menasses Gedankenzügen
in das mutmaßlich zugrundeliegende Narrativ hineinschmuggeln, sollen wir
dieses Märchen, das es ja eigentlich strenggenommen gar nicht gibt, weitererzählen, damit was draus wird: damit es anfangen darf, so durch und durch
wahrhaftig zu sein, ja überhaupt zu sein, und zwar nicht nur zur Sommerzeit.
Nein, auch im Winter, wenn es schneit, sozusagen in einem gesegneten Zustand
kontinuierlicher vorweihnachtlicher Beglückung, ohne jedoch unbedingt religiös
geprägt zu sein. Wider die Eindimensionalität reitet Menasse
sozusagen Zeile um Zeile – und gibt dabei seinem Pferd die Sporen, und zwar
so intensiv, dass die Leserschaft das irgendwie schmerzhaft mitempfindet.
Man könnte sowas gegebenenfalls ernüchternde
Aufklärung nennen.
Wie es um die
Multidimensionalität des zunehmend im wahrhaftesten Sinne des Wortes
essayistisch angestrebten europäischen Selbstverständnisses bestellt
ist, die wir im Rahmen der vorliegenden Diskussion zweckmäßig dem Begriff
Universalität gleichstellen wollen, hat dabei Karl-Markus Gauß, ein weiterer
markanter Ritter der zeitgenössischen
österreichischen Essayistik, schon vor beinahe zwanzig Jahren in
seinem Europäischen Alphabet unter Aufbietung einer sprachlich meisterhaft
geformten Anschaulichkeit gezeigt, die in ihrer bemerkenswerten
begrifflichen Prägnanz auch heute noch ihresgleichen sucht.
Das Europäische
Alphabet / Europäisches Alphabet / Ein Europäisches Alphabet. Drei Titel für
ein und dasselbe Buch. Eine intuitiv ansprechende linguistische Umsetzung
der Unschärferelation oder etwa des Nichtdeterminismus – um die von Menasse
und Brecht in den Raum gestellte metaphorische Parallele zu den
Naturwissenschaften aufrechtzuerhalten. Das vermeintlich Einmalige verliert
sich im Allgemeinen, um schließlich individuell-vergänglich und gerade
dadurch wieder universal-sinnvoll und beständig zu werden. Diese dreifache
Akzentverlagerung der Europäischen Fragestellung, diese unter Ausstrahlung
ungemeiner semantischer Wirksamkeit paradigmatisch mutierende Artikulierung
einer halb real und halb virtuell umrissenen europäischen
Selbstverständlichkeit gibt den Standpunkt eines Fragen stellenden Europäers
wieder, der sein Erdteil lieb hat, wenn man so sagen darf. Denn Gauß ist ein
Österreicher, der dem Selbsthass wie dem Fremdenhass kategorisch entsagt. Er
ist ein skeptischer Europäer mit nüchternem Blick und scharfer Zunge, dem es
darum geht, den zahlreichen Klischees der Stunde auf den Zahn zu fühlen, um
in Erfahrung zu bringen, was es denn mit dieser Union auf sich habe, die wir
gemeinsam anstreben. Er ist ein universaler Europäer par
excellance – was in diesem Falle wohl heißen will: ein universaler
Salzburger.
"Ich bin das
Kind von Flüchtlingen!", sagt dieser universale Salzburger entschlossen,
wenn man ihn fragt. Und wenn man ihn mal nicht fragt, sagt er‘s auch.
Inbrünstig, ja fast auflehnend. Sehr schön
formuliert. Sehr kräftig und überzeugend. Die Standortbestimmung des
gebürtigen Österreichers (genauer gesagt, des ersten gebürtigen
Österreichers in seiner Familie) bietet eine gewinnende Widerspiegelung der
Politik der Verbundenheit, der Poetik der Verwobenheit, der Essayistik der
Verwegenheit, auf die sich der namhafte Schriftsteller Karl-Markus Gauß, ein
mit gutem Grund vielfach preisgekrönter
österreichischer Fährtenleser und Kundschafter
donauschwäbischen Schlages, so gut versteht.
Manchmal träumt
Gauß von einem "kanadischen Gegenleben".
In den Fünfzigern spielten seine Eltern nämlich mit dem Gedanken, nach
Kanada auszuwandern. "Wer bin ich – als Kanadier?",
fragt sich der Autor demzufolge im Sinne einer alternativen Existenz in
seinem jüngsten Buch, Der Alltag der Welt
(Zsolnay, Wien 2015). Und dass der neue kanadische Premierminister
Justin Trudeau im breiteren Zusammenhang der gegenwärtigen Flüchtlingskrise
nicht nur prompt versprach, mehr Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, sondern
im November 2015 höchstpersönlich
die ersten, in einem extra bestellten Flugzeug der kanadischen
Streitkräfte angekommenen Flüchtlinge auf dem Pearson International Airport
in Toronto empfing, ist nicht nur ein schöner Traum,
sondern eben auch eine schöne Wirklichkeit.
Aber seinen
osteuropäischen Freunden ist Karl-Markus Gauß wegen deren Haltung
zur Flüchtlingsfrage seit geraumer Zeit böse.
Träume sind allerdings, realistisch ausgedrückt, Schäume. Und die
Wirklichkeit macht halt keinen Traum aus, sondern ein weites Feld. "Es ist
eine düstere Erfahrung, fast schon eine persönliche
Niederlage, dass ausgerechnet die Länder Osteuropas, als deren literarischer
Herold ich mich jahrzehntelang aufzuspielen pflegte, sich nun so feindselig
in der Flüchtlingskrise zeigen", klagt Gauß im November 2015 im Rahmen
seiner Rede zur Verleihung des "Writing für
CEE"- Preises an Martin Leidenfrost. "Es ist eine Schande für diese
Länder. Das Versagen ist unentschuldbar – aber es ist nicht unbegreiflich."
Und inzwischen hat sich ja noch manches ereignet.
Fast tut es
einem da schon eher um Gauß' Enttäuschung leid als um das Leid der Menschen,
die nicht nach Osteuropa dürfen – und freilich auch nicht nach
Osteuropa wollen, sondern vielmehr nach Deutschland ("We are
going to Germany! Germany is taking us all!") oder meinetwegen nach
Österreich. Fast will man der aktuellen politischen Flüchtlingsfrage in
einem Anflug von Optimismus unverzüglich eine neue Wirklichkeit, eine
bessere Wirklichkeit andichten – und Osteuropa in einen für Flüchtlinge
begehrenswerteren Teil des Kontinents umwandeln und feuertrunken bekunden,
dass wir die ganze Sache im Griff haben. Und Bundeskanzlerin Merkel kann
dann Präsident Johannis direkt anrufen, denn sie sind ja beide des
Deutschen mächtig (und die Nummer haben wir auch noch). Das wäre dann in der
Tat eine großartige, an den Menschen vom Mittelpunkt der Ereignisse wie an
jenen vom Tellerrand orientierte Traumpolitik unserer düsteren Wirklichkeit.
Nur, auf Weihnachten folgt Silvester. Und auch dann muss man durchs Teleskop
schauen, soweit man an die Tatsachen ran will und nicht nur an Märchen,
Träume, Ideale, und Doktrinen.
"Die
Wirklichkeit ist, wie die Wahrheit, kein Märchen, und Wahrheit ist niemals
ein Märchen gewesen", meinte Thomas Bernhard vor ein paar Jahrzehnten in
Bremen. Europa ist kein Märchen, da hat Bernhard recht, aber die Bremer
Stadtmusikanten machen immer noch gute Musik. Es kömmt
drauf an, sie zu interpretieren – oder gar zu verändern.
Immerhin: Gauß
bekennt sich in vorzüglicher Sprachgewalt und in konsequenter Wahrnehmung
humanistischer Werte zu seinen Wurzeln, zu seinen Menschen (und in diesem
Begriff haben viele Leute Platz – Leute von nah, von fern, um es mit dem
Dichter zu sagen), ferner zu seinen Büchern, den gelesenen, den
geschriebenen, oder eben zu seiner Donau, ja, immer wieder bekennt er sich
dazu, sei es nun bei Preisverleihungen, im Privatgespräch oder im Interview.
Gauß weiß, woraus Träume zusammengebastelt werden. Er weiß auch um die
Realität. Und um die Wirklichkeit. Auf die Grenzen zwischen Begriffen kennt
er sich erwiesenerweise bestens aus, er, der in seinem reichhaltigen
essayistischen Werk voller Entgegenkommen, ja mit liebevoller Hingabe die
Grenzen zwischen den Menschen aufhebt, um mehr Sinn in das Traumbild der
Menschheit hereinzulassen, das er der Welt vermittelt.
Es gibt
natürlich in Sachen Machbarkeit tatsächliche Grenzen, und es ist äußerst
wichtig, ein taugliches Konzept bzw. wennschon auch nur halbwegs in
sich gereimte Strategien vorweisen zu können, bevor
man die zwiespältige Phrase "Schaffn’ma’scho‘" aufs Geratewohl in die
Öffentlichkeit hinschmeißt, ohne zu merkeln, dass wir das ja möglicherweise
eben nicht schaffen, besonders wenn das ganze Drum und Dran ungenügend
reflektiert wurde. Ja, wo die Machbarkeit ansetzt, wird nämlich mancher
Traum in engere Betten geleitet, als es sich manch einer gewünscht hätte, in
dessen Brust ein überdurchschnittliches Herz das heiße Blut einer großzügig
einschließenden Gesinnung durch die inwendige Landschaft unseres neuen,
alten europäischen Narrativs hindurch pumpt, dessen erstes Axiom festlegt:
Salzburg ist die Mitte des Kontinents, Salzburg ist das Zentrum eines
vielfach reflektierten, aus geschichtlichem Wissen und essayistischem
Schwung (und auch aus Träumen, ja, das auch) doppelt destillierten Reiches
grenzüberschreitender sozialpolitischer Zweckmäßigkeit, der Inbegriff eines
kühnen, sinnvollen Projekts, das wir bis auf Weiteres mal kurz Europa
nennen wollen. In diesem imaginären, an der guten alten Salzach
angesiedelten Zentrum einer wundersamen Union diesseits von Wirklichkeit und
Wahrscheinlichkeit wird dem Kontinent mit ausgesprochener
kulturwissenschaftlicher Regsamkeit ins Maul geschaut, und zwar von einem,
der sich auf seine Snacks versteht – und auf seine Eurosnacks erst recht.
Ein Gauß
unterscheidet dabei naturgemäß (mit hochgradiger donauschwäbischer Prägnanz)
zwischen Realität und Wirklichkeit. Und seine Leserschaft weiß
um die Irrealität des Faktischen, sie weiß um die
Gedankenwelt eines Essayisten von Gnaden, der seinen Knigge – oder eben
seinen Kraus – gelesen hat und die historischen Tatsachen bzw. den
politischen und sonstigen Alltag der Welt wie seine eigene Hosentasche
kennt, in der übrigens bei aller Zukunfstorientiertheit nicht nur die paar
gehorteten Euro, sondern eben auch noch ein paar Schillinge, ein paar
Groschen, ein paar Taler (bzw. Gulden und Kreuzer oder eben Kronen und
Heller) in einem vorbildlichen Akt intrinsischer Geschichtsschreibung
vollkommen friedfertig nebeneinander hausen – und auch mal gerne mitklirren, wenn das iPhone der Gegenwart, wenn das iPhone der Zukunft in
zeitgenössisch angemessenen Tönen
klingelt, wo dein sanfter Flügel weilt. Zitat zu Ende.
A place named
Europe: "Keiner weiß zu sagen,
was das Geheimnis dieses Ortes ist, der sich überall findet und in dem wir
uns in einer eigentümlichen Ortlosigkeit sogleich abhandenkommen. Nichts,
was wir dort tun, haftet in unserem Gedächtnis, nichts, was wir dort taten,
haftet im Gedächtnis dieses Orts. Vielleicht ist es das, was wir suchen, daß
wir sicher sind, dort nichts zu finden außer dem Imbiß, den wir rasch und
beschämt verzehren, denn vielleicht hat der Eurosnack, kein anderes
Geheimnis als dieses, daß er ein Unort ist, beliebig reproduzierbar, der
kein Verweilen zuläßt und uns keine Geschichte gewährt." (Karl-Markus Gauß,
Das Europäische Alphabet, 1997)
Wollen wir aus
dem Unort einen Ort machen? Aus dem eindimensionalen Europäer einen
universalen Europäer? Wollen wir gut sein? Edel und gerecht? Wollen wir die
Verhältnisse ändern? Manchmal beschert einem dieser Kontinent, den wir
Europa heißen, leider Enttäuschungen. Das sei hier in Kauf genommen. Das ist
harte Wirklichkeit (eine Wirklichkeit, der wir immerhin mit ein bisschen
Glück, ein bisschen Geschick, ein bisschen Sinnen und ein bisschen Sinnieren
unter Umständen eine neue Wendung, eine bessere Wendung geben können).
Aber dass Karl-Markus Gauß mit Nachdruck sagt: "Ich bin das Kind von
Flüchtlingen!" Das zählt. Das gilt. Das nehmen wir uns zu Herzen. Hier
liegt beides vor: Realität und Wirklichkeit. Und ein tieferes Bekenntnis zum
Menschen, zu seiner Not, zu seinem innerlichen Reichtum und zu seinen mal
unwirsch-vorzeitig beendeten, mal prächtig verwirklichten Träumen. Diese
Standortbestimmung gibt uns Hoffnung und Beständigkeit – und Mut und Kraft
zu jeder Zeit. Aber das ist jetzt nicht nur der Weihnachtsmann. Das sind
allgemein-gültige humanistische Werte. In Karl-Markus Gauß’ stilvollem
Schreiben kommen sie zum Ausdruck.
Und wenn Robert
Menasse sich in Eurozine, die im Rahmen dieser unserer kurzen Diskussion zum
Thema EU-Traumpolitik und österreichische
Gesellschaftskritik probeweise auch als eine Art Eurozone, als ein zum
universalen Ort gewordener Unort zeitgenössischer
transkontinentaler Ideengeschichten herhalten darf, entschlossen gegen die
Eindimensionalität des europäischen Projekts, der
europäischen Gesinnung stellt, dann wollen wir es ihm nicht länger
verwehren, durch sein Teleskop zu schauen.
Das Erste, was
wir sehen, ist ein Buchstabenkonglomerat, ein Europäisches Alphabet, ein
dreidimensionales. Der es ersinnte, hat Die Fackel sozusagen bis ins Mark
gelesen. Und Karl Kraus fragt sich einmal ebenda, in der Fackel, "ob die von
einem Redner dargelegte Weltanschauung wirklich das Alphabet eines Sinnes
ist".
Passt. Gute
Formulierung. Können wir ruhig als Schluss nehmen.
Ein bisschen metaphorisch geraten, doch immerhin gerade in ihrer irgendwie
zeitlosen Anschaulichkeit hochaktuell. Dieser alten Frage wollen wir uns im
Zusammenhang der gegenwärtigen Debatte über die Geschicke der EU verstärkt
aus neuer Perspektive annehmen. |
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