Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  


Österreichische Essayistik und EU-Traumpolitik

Wirklichkeit, Realität und alternative Existenz à la Karl-Markus Gauß –
durch ein Riesenteleskop der Marke Menasse betrachtet.

Von Vasile V. Poenaru
(01. 02. 2017)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com

geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

 

 

 



Robert Menasse.
Der europäische Landbote.
Die Wut der Bürger und
der Friede Europas.
Zsolnay, 2012, 128 S.
ISBN: 978-3552056169

 

 

 

 

 

Gewinnt der eindimen-
sionale, engstirnige Euro-
päer die Oberhand, so ist
das Spiel bald nicht zu
Gunsten der schönen
europäischen Prinzipien
und Ideale, sondern zu
Gunsten des absoluten
Primats skrupelloser
Machtpolitik entschieden.

 

 

 

 

 

 

Robert Menasse.
Heimat ist die schönste
Utopie: Reden (wir)
über Europa.

Suhrkamp, 2014, 176 S.
ISBN:
978-3518126899

 

 

 

 

 

Wider die Eindimensio-
nalität reitet Menasse
sozusagen Zeile um Zeile
– und gibt dabei seinem
Pferd die Sporen, und
zwar so intensiv, dass die
Leserschaft das irgendwie
schmerzhaft mitempfindet.
Man könnte sowas gege-
benenfalls ernüchternde
Aufklärung nennen.
 

 

 

 

 

 

Karl-Markus Gauß.
Das europäische Alphabet.
dtv, 2000, 208 S.
ISBN: 978-3423361682.

 

 

 

 

 

Denn Gauß ist ein Öster-
reicher, der dem Selbst-
hass wie dem Fremden-
hass kategorisch entsagt.
Er ist ein skeptischer
Europäer mit nüchternem
Blick und scharfer Zunge,
dem es darum geht, den
zahlreichen Klischees der
Stunde auf den Zahn zu
fühlen, um in Erfahrung
zu bringen, was es denn
mit dieser Union auf sich
habe, die wir gemein-
sam anstreben.

 

 

 

 

 



Karl-Markus Gauß.
Der Alltag der Welt: Zwei
Jahre, und viele mehr
.
Zsolnay, 2015, 336 S.
ISBN: 978-3552057333.

 

 

 

 

 

 

 

 

"Es ist eine Schande für
diese Länder. Das Versa-
gen ist unentschuldbar
– aber es ist nicht unbe-
greiflich."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es gibt natürlich in
Sachen Machbarkeit tatsächliche Grenzen,
und es ist äußerst wichtig,
ein taugliches  Konzept
bzw. wennschon auch
nur halbwegs in sich
gereimte Strategien vor-
weisen zu können, bevor
man die zwiespältige
Phrase "Schaffn’ma’
scho‘" aufs Geratewohl
in die Öffentlichkeit
hinschmeißt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wollen wir aus dem
Unort einen Ort machen?
Aus dem eindimensio-
nalen Europäer einen
universalen Europäer?
Wollen wir gut sein?
Edel und gerecht? Wollen
wir die Verhältnisse
ändern?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aber dass Karl-Markus
Gauß mit Nachdruck sagt:
"Ich bin das Kind von
Flüchtlingen!" Das zählt.
Das gilt. Das nehmen wir
uns zu Herzen. Hier liegt
beides vor: Realität und
Wirklichkeit.

 

 

 

 

 

 

   Gäbe es tatsächlich ein Riesenteleskop der Marke Robert Menasse, so könnte man damit weit in die Zukunft spähen. Und hätte es etwa am 12. Oktober 1974, als sich Robert Menasse, Ludwig Hartinger, Herbert Ohrlinger und Karl-Markus Gauß bekanntlich bei Bier und Hunnenspieß (oder bei Bier und Schlachtplatte?) im Weißen Kreuz in Salzburg in aller Gemütlichkeit über ihre "Zukunft in der Literatur" unterhielten, so ein Teleskop gegeben, dann hätte man in dem Augenblick an Ort und Stelle sehen können, wie die literarische Zukunft dieser schon damals in ihrem gewaltigen Schwung und in ihrer ungebändigten Begeisterung für Sprache, für Literatur, für Polemik und scharfzüngige Essayistik bedeutsamen Männer später – sagen wir mal im Jahre 2016 – aussehen werde. Und um es ausnahmsweise in unserer europaweiten lingua franca zu sagen, in der ja auch die good old Eurozine, in der etwa ein Menasse öfters in englischem Sprachgewand durch den Kontinent geistert, erscheint: They never lost their swing. Das sind österreichische Schriftsteller, die was zu sagen haben. Und wenn sie mal nichts zu sagen haben, dann verstehen sie es, sich immer wieder gründlich auszuschweigen (so Gauß über sich selbst 2008 in einem Interview im rumänischen Germanisten-Jahrbuch Transcarpathica). Sich ausschweigen: indeed quite österreichisch.

Vier Männer an einem Tisch. Vier Jungliteraten. Vier große Kinder, die schrecklich viel gelesen haben. Freunde. Österreicher. Europäer. Die Frage, die sich der universale Zeitgeist österreichischer Ausdrucksweise stellt, die Frage, die sich "unser" zeitgenössischer Zeitgeist stellt (soweit man sich den Zeitgeist einfach unter Einbringung eines großzügigen kulturwissenschaftlichen Überziehungsrahmens kapriziös-essayistisch aneignen und nach Belieben chronologisch einordnen darf): Worüber sprechen Sie?

   Ein Blick auf Robert Menasses geheimes Tagebuch ergibt folgende strategisch belangvolle Information: Sie sprechen über Kinder-Typen. Eines dieser mittlerweile erwachsenen Kinder in der Literatur geht gerne auch mal zum Tellerrand und spielt dort mit denjenigen Kindern, die vielleicht was Eigenes haben, auch wenn sie nichts haben. Und dann erzählt es zu Hause, was sich drüben so tut: ein Kind vom Typus Gauß. Tagebücher und Journale sind eine gute Sache, denn so wissen wir, wie’s früher mal war und wie es wohl in ganz ferner oder eben in ganz naher Zukunft mal aussehen will. Ein europäischer Landbote österreichischen Schlages hat uns seine europäische Botschaft durch die Zeiten hindurch zukommen lassen. Deswegen sind wir über die Reihenfolge der Geschichte bestens im Bilde.

Tatsache ist, Robert Menasse hat vor dem Brexit durch sein Teleskop geschaut, jedenfalls behauptete er das in Eurozine (zunächst in englischer Übersetzung; der Originalbeitrag erschien alsdann in Akzente), um im gegenwärtigen europäischen Zusammenhang wennschon nicht auf politischer Ebene, so doch aus vielfach reflektierter essayistischer Perspektive die richtigen Akzente des neuen EU-Narrativs zu setzen, an dem derzeit in den Kanzleien, in den Medien und rund um die Think Tanks gefeilt wird. Dabei sah er, dass die Nationalstaaten aussterben müssen. Ferner hat der universale Europäer mit scharfem österreichischen Blick unmissverständlich erkannt, dass die Zukunft des Kontinents vom Resultat der Auseinandersetzung zwischen Eindimensionalität und Universalität abhängt, die sich in den Köpfen der Europäer abspielt: in unseren Köpfen. Gewinnt der eindimensionale, engstirnigere Europäer die Oberhand, so ist das Spiel bald nicht zu Gunsten der an sich ja quasi-allgemein erwünschten Wahrnehmung von unseren schönen europäischen Prinzipien und Idealen, sondern vielmehr zu Gunsten des absoluten Primats skrupelloser Machtpolitik entschieden. Zwei Europäer-Typen, wohnen, ach! in diesem Konzept, in dieser Vision: Europa. Welcher wird die Wahrheit des Begriffs für sich in Anspruch nehmen, und die Wirklichkeit, die hinter dieser Wahrheit steckt?

"Hier scheint etwas entzwei gegangen zu sein", sagt der Theologe in Bertolt Brechts Leben des Galilei, als er das zerbrochene Ptolemäische Modell am Boden sieht. Durch Galileis Fernrohr schauen will er freilich nicht. Menasse nimmt darauf Bezug und beschwört in seinem anregenden Eurozine/Akzente-Essay "The one-dimensional European" / "Der eindimensionale Europäer", anhand dessen er seine Mitmenschen dazu bewegen will, mit wachsamem Blick in die Zukunft (und das heißt zuerst einmal natürlich eben vor allem auch: in die Vergangenheit) zu schauen, die produktive Phantasie des Träumers, die volle Kreativität, die der Kontinent aufbringen kann. Er beschwört die noblen Ideale des Humanismus, die in den tieferen Schichten der Meinungsbildung agierende Überzeugungskraft der Vernunft, er will, dass wir in sein Teleskop schauen und uns dem Bild hingeben, das er für uns gesehen hat, dem Europa-Bild, das er sich für uns angeeignet hat und das er uns nun weitergibt, dem Sinnbild einer Welt, in der alle Menschen feuertrunken (um es sinngemäß adäquat mit Schiller zu sagen) und wohlgemerkt schon auf Erden (um es mit Heine zu sagen) das himmlische Heiligtum transkontinentaler Gemeinsamkeit betreten, er will uns ganz im Brechtschen Sinne des Wortes von der Gültigkeit, von der Zweckmäßigkeit, von der Wirklichkeit und der Wahrhaftigkeit des Kopernikanischen Weltmodells überzeugen. Er will, dass die Neuzeit bei uns Europäern endlich mal so richtig ankommt, dass sie so richtig anbricht – und zugleich auch die Moderne, die Postmoderne, die Spätmoderne: das universale Zeitalter einer postnationalen europäischen Republik. Europa, ein Märchen für alle Jahreszeiten.

   Aber Europa ist ja gar kein Märchen. Kein Sommermärchen. Kein Wintermärchen. Und doch, so kann man es zwischen Menasses Zeilen lesen, zwischen Menasses Gedankenzügen in das mutmaßlich zugrundeliegende Narrativ hineinschmuggeln, sollen wir dieses Märchen, das es ja eigentlich strenggenommen gar nicht gibt, weitererzählen, damit was draus wird: damit es anfangen darf, so durch und durch wahrhaftig zu sein, ja überhaupt zu sein, und zwar nicht nur zur Sommerzeit. Nein, auch im Winter, wenn es schneit, sozusagen in einem gesegneten Zustand kontinuierlicher vorweihnachtlicher Beglückung, ohne jedoch unbedingt religiös geprägt zu sein. Wider die Eindimensionalität reitet Menasse sozusagen Zeile um Zeile – und gibt dabei seinem Pferd die Sporen, und zwar so intensiv, dass die Leserschaft das irgendwie schmerzhaft mitempfindet. Man könnte sowas gegebenenfalls ernüchternde Aufklärung nennen.

Wie es um die Multidimensionalität des zunehmend im wahrhaftesten Sinne des Wortes essayistisch  angestrebten europäischen Selbstverständnisses bestellt ist, die wir im Rahmen der vorliegenden Diskussion zweckmäßig dem Begriff Universalität gleichstellen wollen, hat dabei Karl-Markus Gauß, ein weiterer markanter Ritter der zeitgenössischen österreichischen Essayistik, schon vor beinahe zwanzig Jahren in seinem Europäischen Alphabet unter Aufbietung einer sprachlich meisterhaft geformten Anschaulichkeit gezeigt, die in ihrer bemerkenswerten begrifflichen Prägnanz auch heute noch ihresgleichen sucht.

   Das Europäische Alphabet / Europäisches Alphabet / Ein Europäisches Alphabet. Drei Titel für ein und dasselbe Buch. Eine intuitiv ansprechende linguistische Umsetzung der Unschärferelation oder etwa des Nichtdeterminismus – um die von Menasse und Brecht in den Raum gestellte metaphorische Parallele zu den Naturwissenschaften aufrechtzuerhalten. Das vermeintlich Einmalige verliert sich im Allgemeinen, um schließlich individuell-vergänglich und gerade dadurch wieder universal-sinnvoll und beständig zu werden. Diese dreifache Akzentverlagerung der Europäischen Fragestellung, diese unter Ausstrahlung ungemeiner semantischer Wirksamkeit paradigmatisch mutierende Artikulierung einer halb real und halb virtuell umrissenen europäischen Selbstverständlichkeit gibt den Standpunkt eines Fragen stellenden Europäers wieder, der sein Erdteil lieb hat, wenn man so sagen darf. Denn Gauß ist ein Österreicher, der dem Selbsthass wie dem Fremdenhass kategorisch entsagt. Er ist ein skeptischer Europäer mit nüchternem Blick und scharfer Zunge, dem es darum geht, den zahlreichen Klischees der Stunde auf den Zahn zu fühlen, um in Erfahrung zu bringen, was es denn mit dieser Union auf sich habe, die wir gemeinsam anstreben. Er ist ein universaler Europäer par excellance – was in diesem Falle wohl heißen will: ein universaler Salzburger.

"Ich bin das Kind von Flüchtlingen!", sagt dieser universale Salzburger entschlossen, wenn man ihn fragt. Und wenn man ihn mal nicht fragt, sagt er‘s auch. Inbrünstig, ja fast auflehnend. Sehr schön formuliert. Sehr kräftig und überzeugend. Die Standortbestimmung des gebürtigen Österreichers (genauer gesagt, des ersten gebürtigen Österreichers in seiner Familie) bietet eine gewinnende Widerspiegelung der Politik der Verbundenheit, der Poetik der Verwobenheit, der Essayistik der Verwegenheit, auf die sich der namhafte Schriftsteller Karl-Markus Gauß, ein mit gutem Grund vielfach preisgekrönter österreichischer Fährtenleser und Kundschafter donauschwäbischen Schlages, so gut versteht.

   Manchmal träumt Gauß von einem "kanadischen Gegenleben". In den Fünfzigern spielten seine Eltern nämlich mit dem Gedanken, nach Kanada auszuwandern. "Wer bin ich – als Kanadier?", fragt sich der Autor demzufolge im Sinne einer alternativen Existenz in seinem jüngsten Buch, Der Alltag der Welt (Zsolnay, Wien 2015). Und dass der neue kanadische Premierminister Justin Trudeau im breiteren Zusammenhang der gegenwärtigen Flüchtlingskrise nicht nur prompt versprach, mehr Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, sondern im November 2015 höchstpersönlich die ersten, in einem extra bestellten Flugzeug der kanadischen Streitkräfte angekommenen Flüchtlinge auf dem Pearson International Airport in Toronto empfing, ist nicht nur ein schöner Traum, sondern eben auch eine schöne Wirklichkeit.

Aber seinen osteuropäischen Freunden ist Karl-Markus Gauß wegen deren Haltung zur Flüchtlingsfrage seit geraumer Zeit böse. Träume sind allerdings, realistisch ausgedrückt, Schäume. Und die Wirklichkeit macht halt keinen Traum aus, sondern ein weites Feld. "Es ist eine düstere Erfahrung, fast schon eine persönliche Niederlage, dass ausgerechnet die Länder Osteuropas, als deren literarischer Herold ich mich jahrzehntelang aufzuspielen pflegte, sich nun so feindselig in der Flüchtlingskrise zeigen", klagt Gauß im November 2015 im Rahmen seiner Rede zur Verleihung des "Writing für CEE"- Preises an Martin Leidenfrost. "Es ist eine Schande für diese Länder. Das Versagen ist unentschuldbar – aber es ist nicht unbegreiflich." Und inzwischen hat sich ja noch manches ereignet.

   Fast tut es einem da schon eher um Gauß' Enttäuschung leid als um das Leid der Menschen, die nicht nach Osteuropa dürfen –  und freilich auch nicht nach Osteuropa wollen, sondern vielmehr nach Deutschland ("We are going to Germany! Germany is taking us all!") oder meinetwegen nach Österreich. Fast will man der aktuellen politischen Flüchtlingsfrage in einem Anflug von Optimismus unverzüglich eine neue Wirklichkeit, eine bessere Wirklichkeit andichten – und Osteuropa in einen für Flüchtlinge begehrenswerteren Teil des Kontinents umwandeln und feuertrunken bekunden, dass wir die ganze Sache im Griff haben. Und Bundeskanzlerin Merkel kann dann Präsident Johannis direkt anrufen, denn sie sind ja beide des Deutschen mächtig (und die Nummer haben wir auch noch). Das wäre dann in der Tat eine großartige, an den Menschen vom Mittelpunkt der Ereignisse wie an jenen vom Tellerrand orientierte Traumpolitik unserer düsteren Wirklichkeit. Nur, auf Weihnachten folgt Silvester. Und auch dann muss man durchs Teleskop schauen, soweit man an die Tatsachen ran will und nicht nur an Märchen, Träume, Ideale, und Doktrinen.

"Die Wirklichkeit ist, wie die Wahrheit, kein Märchen, und Wahrheit ist niemals ein Märchen gewesen", meinte Thomas Bernhard vor ein paar Jahrzehnten in Bremen. Europa ist kein Märchen, da hat Bernhard recht, aber die Bremer Stadtmusikanten machen immer noch gute Musik. Es kömmt drauf an, sie zu interpretieren – oder gar zu verändern.

Immerhin: Gauß bekennt sich in vorzüglicher Sprachgewalt und in konsequenter Wahrnehmung humanistischer Werte zu seinen Wurzeln, zu seinen Menschen (und in diesem Begriff haben viele Leute Platz – Leute von nah, von fern, um es mit dem Dichter zu sagen), ferner zu seinen Büchern, den gelesenen, den geschriebenen, oder eben zu seiner Donau, ja, immer wieder bekennt er sich dazu, sei es nun bei Preisverleihungen, im Privatgespräch oder im Interview. Gauß weiß, woraus Träume zusammengebastelt werden. Er weiß auch um die Realität. Und um die Wirklichkeit. Auf die Grenzen zwischen Begriffen kennt er sich erwiesenerweise bestens aus, er, der in seinem reichhaltigen essayistischen Werk voller Entgegenkommen, ja mit liebevoller Hingabe die Grenzen zwischen den Menschen aufhebt, um mehr Sinn in das Traumbild der Menschheit hereinzulassen, das er der Welt vermittelt.

   Es gibt natürlich in Sachen Machbarkeit tatsächliche Grenzen, und es ist äußerst wichtig, ein taugliches  Konzept bzw. wennschon auch nur halbwegs in sich gereimte Strategien vorweisen zu können, bevor man die zwiespältige Phrase "Schaffn’ma’scho‘" aufs Geratewohl in die Öffentlichkeit hinschmeißt, ohne zu merkeln, dass wir das ja möglicherweise eben nicht schaffen, besonders wenn das ganze Drum und Dran ungenügend reflektiert wurde. Ja, wo die Machbarkeit ansetzt, wird nämlich mancher Traum in engere Betten geleitet, als es sich manch einer gewünscht hätte, in dessen Brust ein überdurchschnittliches Herz das heiße Blut einer großzügig einschließenden Gesinnung durch die inwendige Landschaft unseres neuen, alten europäischen Narrativs hindurch pumpt, dessen erstes Axiom festlegt: Salzburg ist die Mitte des Kontinents, Salzburg ist das Zentrum eines vielfach reflektierten, aus geschichtlichem Wissen und essayistischem Schwung (und auch aus Träumen, ja, das auch) doppelt destillierten Reiches grenzüberschreitender sozialpolitischer Zweckmäßigkeit, der Inbegriff eines kühnen, sinnvollen Projekts, das wir bis auf Weiteres  mal kurz Europa nennen wollen. In diesem imaginären, an der guten alten Salzach angesiedelten Zentrum einer wundersamen Union diesseits von Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit wird dem Kontinent mit ausgesprochener kulturwissenschaftlicher Regsamkeit ins Maul geschaut, und zwar von einem, der sich auf seine Snacks versteht – und auf seine Eurosnacks erst recht.

Ein Gauß unterscheidet dabei naturgemäß (mit hochgradiger donauschwäbischer Prägnanz) zwischen Realität und Wirklichkeit. Und seine Leserschaft weiß um die Irrealität des Faktischen, sie weiß um die Gedankenwelt eines Essayisten von Gnaden, der seinen Knigge – oder eben seinen Kraus – gelesen hat und die historischen Tatsachen bzw. den politischen und sonstigen Alltag der Welt wie seine eigene Hosentasche kennt, in der übrigens bei aller Zukunfstorientiertheit nicht nur die paar gehorteten Euro, sondern eben auch noch ein paar Schillinge, ein paar Groschen, ein paar Taler (bzw. Gulden und Kreuzer oder eben Kronen und Heller) in einem vorbildlichen Akt intrinsischer Geschichtsschreibung vollkommen friedfertig nebeneinander hausen – und auch mal gerne mitklirren, wenn das iPhone der Gegenwart, wenn das iPhone der Zukunft in zeitgenössisch angemessenen Tönen klingelt, wo dein sanfter Flügel weilt. Zitat zu Ende.

   A place named Europe: "Keiner weiß zu sagen, was das Geheimnis dieses Ortes ist, der sich überall findet und in dem wir uns in einer eigentümlichen Ortlosigkeit sogleich abhandenkommen. Nichts, was wir dort tun, haftet in unserem Gedächtnis, nichts, was wir dort taten, haftet im Gedächtnis dieses Orts. Vielleicht ist es das, was wir suchen, daß wir sicher sind, dort nichts zu finden außer dem Imbiß, den wir rasch und beschämt verzehren, denn vielleicht hat der Eurosnack, kein anderes Geheimnis als dieses, daß er ein Unort ist, beliebig reproduzierbar, der kein Verweilen zuläßt und uns keine Geschichte gewährt." (Karl-Markus Gauß, Das Europäische Alphabet, 1997)

Wollen wir aus dem Unort einen Ort machen? Aus dem eindimensionalen Europäer einen universalen Europäer? Wollen wir gut sein? Edel und gerecht? Wollen wir die Verhältnisse ändern? Manchmal beschert einem dieser Kontinent, den wir Europa heißen, leider Enttäuschungen. Das sei hier in Kauf genommen. Das ist harte Wirklichkeit (eine Wirklichkeit, der wir immerhin mit ein bisschen Glück, ein bisschen Geschick, ein bisschen Sinnen und ein bisschen Sinnieren unter Umständen eine neue Wendung, eine bessere Wendung geben können). Aber dass Karl-Markus Gauß mit Nachdruck sagt: "Ich bin das Kind von Flüchtlingen!"  Das zählt. Das gilt. Das nehmen wir uns zu Herzen. Hier liegt beides vor: Realität und Wirklichkeit. Und ein tieferes Bekenntnis zum Menschen, zu seiner Not, zu seinem innerlichen Reichtum und zu seinen mal unwirsch-vorzeitig beendeten, mal prächtig verwirklichten Träumen. Diese Standortbestimmung gibt uns Hoffnung und Beständigkeit – und Mut und Kraft zu jeder Zeit. Aber das ist jetzt nicht nur der Weihnachtsmann. Das sind allgemein-gültige humanistische Werte. In Karl-Markus Gauß’ stilvollem Schreiben kommen sie zum Ausdruck.

   Und wenn Robert Menasse sich in Eurozine, die im Rahmen dieser unserer kurzen Diskussion zum Thema  EU-Traumpolitik und österreichische Gesellschaftskritik probeweise auch als eine Art Eurozone, als ein zum universalen Ort gewordener Unort zeitgenössischer transkontinentaler Ideengeschichten herhalten darf, entschlossen gegen die Eindimensionalität des europäischen Projekts, der europäischen Gesinnung stellt, dann wollen wir es ihm nicht länger verwehren, durch sein Teleskop zu schauen.

Das Erste, was wir sehen, ist ein Buchstabenkonglomerat, ein Europäisches Alphabet, ein dreidimensionales. Der es ersinnte, hat Die Fackel sozusagen bis ins Mark gelesen. Und Karl Kraus fragt sich einmal ebenda, in der Fackel, "ob die von einem Redner dargelegte Weltanschauung wirklich das Alphabet eines Sinnes ist".

Passt. Gute Formulierung. Können wir ruhig als Schluss nehmen. Ein bisschen metaphorisch geraten, doch immerhin gerade in ihrer irgendwie zeitlosen Anschaulichkeit hochaktuell. Dieser alten Frage wollen wir uns im Zusammenhang der gegenwärtigen Debatte über die Geschicke der EU verstärkt aus neuer Perspektive annehmen.

Ausdrucken?

....



Zurück zur Übersicht