Motto: "Row,
row, row your boat Gently down the stream. Merrily,
merrily, merrily, merrily, Life is but a dream."
(aus dem sogenannten Lied vom
Rudern und vom Träumen, Großraum Toronto, in etwa a bisserl nach
der Zweiten Lautverschiebung)
Traum
zwischen den
Städten, so könnte
man dieses Erlebnis nennen, das sich mir jetzt aus vielen Richtungen her
über die geradlinigen Schnellstraßen der Vernunft und die windigen
Gassen des Gemüts aufdrängt. Doch es ist mehr als ein Traum, besser:
es steckt mehr in einem Traum, als sich einer je
träumen lassen würde.
Fiction's got nothing to do with it, würde der Medizinmann sagen, wenn
er zufälligerweise gerade mal wieder mit seiner globalen Medizin im
globalen Indianerdorf über die höheren Wesen, die wir ahnen, dozieren
würde.
Einbildungskraft durch Dialogik: ein vorläufig gültiger, weil handfester
Begriff. In ihm widerspiegelt sich das Kontinuum, dem wir uns nun wieder
diskret nahen wollen, das Traum-Kontinuum zwischen den
Städten,
zwischen uns Menschen.
Toronto-Salzburg – was eigentlich heißen will: Toronto-Salzburg-Bukarest. Dreimal Hurra in
einem Schlag. Und a bisserl Zürich nehmen wir auch in Kauf.
Doch angefangen hat's in Bayern: Vor gut hundert Jahren träumte Hugo von
Hofmannsthal nämlich einmal im Hotel Vier Jahreszeiten (München), sein Haus
sei zu einem Gefängnis der Französischen Revolution geworden. Ob er sich
auch ein paar Szenen aus Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod
erträumte, ist ungewiss. Nun gut, Träume sind Schäume, könnte man ja meinen.
Aber am nächsten Tag traf Hofmannsthal
dann im Englischen Garten einen Mann, der ganz so aussah wie der große
Traumdeuter Sigmund Freud. Alles in Ordnung? Alles in Ordnung.
Freilich ist das nun – realistisch betrachtet – ein sehr weites Feld, nur,
manchmal hat es ja was auf sich mit diesen Träumen, die da
unwillkürlich-ungeniert in uns schäumen. Deswegen will ich der hochverehrten
Leserschaft den im Folgenden in ein paar wenigen Zügen umrissenen
bemerkenswerten Tatbestand einer totalen Traumhaftigkeit der Sinne und der
Wirklichkeit, die sich dahinter versteckt, nicht länger vorenthalten.
Im
lustigen Monat Februar war's, die Tage wurden länger, da träumte mir von
einem Freund, der weit weg in seiner Burg (all made of pepper and salt) die
Dinge des Lebens in Angriff nimmt und – besonders während der üppigeren
Mahlzeiten – oft und gerne nach den kostbaren Zutaten seiner Burg zu greifen
beliebt (now that would be salt and pepper), um nicht nur das üppige
Essen, sondern auch Rhythmus und Tempo seiner inwendigen Textproduktion bei
voller Wachsamkeit oder eben im sanften Halbschlaf der dichterischen Kunst
vortrefflich zu würzen.
Im
Haus meines Freundes gibt es viele Hemden. Ja und mir träumte eben, dass er
mir ein Hemd geschenkt hatte bzw. dass er mich fragte (so ist das halt mit
Träumen, manches erscheint doppeldeutig, wiewohl sinnverwandt), ob ich eins
will; und dann hat er mir gesagt, so träumte mir ferner (oder war das jetzt
schon die Wirklichkeit?), er sei hier in good old Toronto meinem wackeren
Freund Stelică begegnet, der ja tatsächlich (Wie wird der Karl-Markus das
bloß erraten haben?) seit fast zwanzig Jahren das kanadische Toronto sein
Zuhause nennt. Karl-Markus wohnte übrigens in meinem Traum ebenfalls in
Toronto, nur sah die Stadt seltsamerweise in jener fernen, nahen Traumwelt,
in der wir uns doch selbst bei völliger Wachsamkeit oft genug wähnen,
eigentlich schon fast so aus wie unser good old Bukarest – which is drüben
in Europe. Auf der anderen Seite des Atlantiks. Also jedenfalls keine Spur
Toronto. Und auch keine Spur Salzburg.
Na ja, wird wohl alles Teil einer alternativen Wirklichkeit sein, einer
Wirklichkeit, in der mein Salzburger Freund Kanadier ist, dachte ich mir.
Ein österreichisch-rumänischer Kanadier. Was nicht schlecht passen würde.
Als er noch ein Kleinkind war, betrieben seine Eltern nämlich, wie er vor
gar nicht so vielen Jahren beim neugierigen Herumstöbern im Dachzimmer
herausfand, die Auswanderung nach Kanada. Sie schienen dabei recht
entschlossen zu sein.
Das Ziel der geplanten Reise, der sozusagen beinahe, doch bis zuletzt eben doch
nicht voll und ganz Wirklichkeit gewordenen Traum-Auswanderung?
Toronto am Ontariosee.
Der Vater sollte bei
einer deutschsprachigen Zeitung anfangen, Die Presse oder so. Und aus
dem Kind wäre ein kanadischer Schriftsteller geworden. Oder ein
Geschäftsmann. Import-Export Europa-Kanada. Schließlich ist die Familie
dennoch in Österreich geblieben. Aber ich bin nach Kanada ausgewandert.
Sehr
interessant, dachte ich mir
– oder war das ein Echo des Gedankens meines beinahe, wiewohl bis zuletzt
wie gesagt allerdings doch nicht mehr ausgewanderten Doppelgängers,
der, so glaube ich es jetzt ziemlich genau zu wissen, meinen Traum
mitträumte oder gar vor-träumte?
Und
dann wusste ich bald gar nicht mehr so recht: War das nun ein Karl-Markus-Traum
oder ein Traum-Karl-Markus?
Im breiteren Kontext: Sind wir gerade aufgewacht oder sind wir gerade
eingeschlafen? Sowas will sorgfältig und vor allem auch tiefgründig-philosophisch
erwogen werden. Kein leichtes Stück.
Nimm dich zusammen!,
ertönte eine freundliche Stimme in mir, die Stimme eines Freundes. Ich
musste mir schnell ein paar Gedanken zu unserer Welt machen, zu unserer
Wirklichkeit, zu unserer Einbildungskraft (und zu unserer Kaufkraft ja,
warum auch nicht?), zu unseren Hemden, zu den Hemden, die wir uns anziehen,
um als tadellose gentlemen dazustehen und nicht als trostlose Sandler. Ich
musste über vieles nachdenken – und bin strenggenommen immer noch nicht
damit fertig.
But guess what? Als
ich am nächsten
Tag im Toronto Botanical Garten einen Mann traf, der ganz so aussah wie der
große Traumdeuter Sigmund Freud (Alles in Ordnung? Alles in Ordnung!) und
kurzerhand den Entschluss fasste, eine Taube nach Österreich zu schicken, um
den fernen, nahen gewürz- wie sprachkundigen Freund vom Inhalt meines Traums
zu unterrichten, denn im schönen Reich der Wirklichkeit
(wie
im schönen Reich des Traums) ist unter Umständen alles möglich, und
vielleicht hatte das Ganze ja letztendlich sozusagen etwas in und an sich
Kolossales zu bedeuten (oder vielleicht hatte auch er, der sprachlich
begabte Freund aus dem Ostreich, von mir geträumt, wie es sich denn öfters
so fügt, wenn einer ein Hemd hat und einer ein Hemd will), erhielt ich
prompt folgende Antwort:
"My dear friend, was
ist los mit Dir? Realitätsverlust? Gestern habe ich Dich in Toronto
getroffen, nachdem ich vorher beim guten alten Stelică vorbeigeschaut
hatte, und habe Dir ein Hemd von mir angeboten, das mir meine Frau gekauft
hatte, das aber ein paar Nummern zu klein für mich war (die Gute sieht in
mir immer noch den ranken, sportlichen Kerl von einst). Und jetzt behauptest
Du, wirre Träume gehabt zu haben! Also, wirklich. Herzlich, Karl-Markus."
Und am Ende kamen dann noch zwei Zeilen: "Vielleicht gehen wir mit dem
Stelică mal einen heben, und, übrigens, es wären auch ein paar Sakkos im
Kasten bei mir, aus denen ich herausgewachsen bin."
Ich lag erstaunt am
Strand. Die Wellen des Huronsees (immerhin zwei Stunden Autobahn)
plätscherten mir spielerisch ins Konzept. Ganz tief in der Tiefenpsychologie
der Ahorn Mysterien befangen, kletterten meine Freunde empor aus dem Spalt
der Zeit, pirschten sich ans kollektive Unbewusste heran
– und weiter bis
zu mir. Volle Wirklichkeit. Realistischer geht's nicht.
Also von wegen papperlapapp, um mal kurz Fontane ins Wort zu reden, dessen
Effi Briest es unvermerkt in eines meiner spärlichen Regale geschafft hat.
Ens realissimum par excellance. Wenn Freud und Jung jetzt Karl-Markus und
Stelică zufälligerweise über den Weg laufen würden, dachte ich mir
unwillkürlich, so gäbe es allerhöchstwahrscheinlich einen epochalen Krach.
Die Begegnung wäre
ein Albtraum, wenn nicht gar ein Alptraum, und die allerbesten Bergsteiger
psychoanalytischen Schlages würden es nicht zustande bringen, dass die
abtrünnigen Jung-Leute in Zürich, wo Stelică immerhin im Laufe der Jahre
öfters im schönen Monat Februar beim Schifoan gesichtet wurde (sein
Sohn hat jahrelang an der ETH geforscht, da ist die ganze Familie
verständlicherweise a bisserl verschweizert
– Gugus zusammen!), und die
nicht-abtrünnigen Freud-Leute in Wien, wo Karl-Markus immerhin mal studiert
hat, ganz gewaltig zerstreiten
– und am Ende weiß ich dann gar nicht mehr, wer mir diesen Traum deuten
darf, der in österreichisch-kanadisch gefärbter semantischer Pracht irgendwo
zwischen Bukarest, Salzburg und Toronto mehr Sein anstrebt als ihm nach
herkömmlichen psychoanalytischen Maßstäben zugutekommen würde.
Na
ja, das Maß
aller Dinge.
Und auf einmal, sozusagen mitten am Strand (denn mitten auf dem See war ich
ja nicht) wurde mir alles klar.
Dermaßen
klar, wie es einem nur dann sein kann, wenn er so durch und durch träumt
oder wenn er so durch und durch wacht – wer will das denn jetzt so genau
auseinanderhalten. Mir wurde das Eine klar: Der Mann, der uns den
Traum deuten kann, heißt Rudolf Steiner. Er hat sich seinerzeit über die
seelische Tiefenstruktur vieler Leute hergemacht, unter seinen Opfern befand
sich ein gewisser Franz.
Den
verstand er voll und ganz. Prima! Nur …What about us?, war nun die
kollektive Frage unseres internationalen Trios.
So
buchten wir denn schnellstens unsere Fahrt (hin und zurück – bitte merken:
das ist in solchen Fällen
wichtig),
um uns vom großen Meister zu ganz kleinen Semen zerlegen zu lassen. Die
Analyse verlief leidlich. Das Urteil? Absolut zufriedenstellend. Und wir
Tiefenpsychologie-Alpinisten, Karl-Markus, Stelică und Ich, erfreuen uns, so
Steiner, eindeutig allerbester tiefenpsychologischer Gesundheit – sowohl in
der Traumwelt als auch in der wirklichen Welt, anderweitig auch Welt der
Realien genannt. Und das Hemd darf ich behalten. Und die wundersame
G'schichte von unserem Abstieg und von unserem Aufstieg wurde auch in ein
paar herrlichen Vierzeilern geistig festgehalten, die ich inzwischen leider
Gottes schon wieder vergessen habe.
Doch genug der Worte. Legen wir uns hin! Cause we mean business. Zeit zum
Schlafengehen.
Und jetzt, beim Aufwachen, kommt mir eins in den Sinn: Ich hab in der Tat
ein paar Hemden von Stelică. Andere Klamotten freilich auch, nur, wir sind
jetzt ja gerade auf Hemden zu sprechen,
und dabei soll es auch bleiben. Und ich hab ein paar Worte von Karl-Markus,
in die ich mich gerne einkleide, wenn's mal weit weg geht, etwa in die
ferne, nahe Welt des Essays und der intrinsischen Gereimtheit von
Textwelten. Das wird wohl das Substrat sein, auf dem diese hundertprozentig
wahrhafte G'schichte basiert, ein Substrat, dem recht viel ontische Würde
zukommt, freilich aber nicht mehr als dem Traum, der aus diesem Substrat
entsprungen ist und sozusagen durch nachträgliche internationale
Bewahrheitung das dichte Reich des Traumhaften verließ und sich im noch
dichteren Reich der Wirklichkeit ansiedelte.
Und die Schuhe, die ich jetzt trage, hab ich von Little John. Der wohnt
etwas weiter Richtung Norden, bei Leslie & Finch. "Big shoes to fill", sagte
mir der Medizinmann, und klopfte mir mit dem Tomahawk (oder war das die
Friedenspfeife) auf die Schulter. Okay, mein John heißt ja gar nicht John
Little. Aber groß ist er schon. Und wenn man träumt, wird manche Grenze
zwischen Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit tunlichst aufgehoben.
Realitätsverlust ist das richtige Wort, die richtige Diagnose, eine
weitgehend zutreffende Diagnose unserer Zeit. Ja, wir sind irgendwie
allesamt zu Nominalisten geworden, obwohl die Einsicht nahe liegt:
Universalia sunt realia. Realitätsverlust, das ist Wirklichkeitsgewinn.
Dieses Wort muss ich mir merken.
Der gute Stelică aber ist der beste Tennisspieler aus Toronto. Der
hat nie verloren. Ich oft.
People will try,
try to define something so real!,
singt die Sängerin, und wir machen uns daran, unseren Traum zu zerlegen, zu
interpretieren, zu definieren, unsere Traumwelt, die inwendige
Projektionsfläche unseres literarisch transzendierenden
Kommunikationsprozesses zu definieren, und die Wirklichkeit dazu, die
Wirklichkeit von Welten, die Wirklichkeit von Träumen, die in die Welt
gesetzt werden, wenn es darum geht, Großartiges zu leisten. Singen wir mit.
Kein Dichter könnte es je besser sagen.
Now really. Was soll’s? Und warum meint Rudolf Steiner, dass mein Traum
jetzt so wichtig sei? Weil es ein Traum von der Wahrheit, ein Traum vom
Menschen und seiner Freiheit ist, darum, ertönt eine Stimme. Denn die
Herrenmode hat uns streng geteilt. Sie, die Herrenmode, wollte nicht, dass
ich das Hemd nehme. Ich aber wollte es partout nehmen. Und alles, was die
Mode streng geteilt hatte, wurde wieder verbunden, als ich das Hemd anzog.
In der großzügigen Geste meines Freundes, im Zauber der Traum-Geste spricht
Schönheit,
schmelzende Schönheit.
Das Hemd schwebte auf mich zu, in einem geradezu Hegelschen Zustand des
Aufgehobenseins schwebte es vom Kleiderschrank
her, in dem es bis zu dem Zeitpunkt aufbewahrt worden war, wie gesagt
auf mich zu, und ich hab's mir angeeignet.
Ich bin so frei,
kam es aus mir hervor, kommt es noch immer aus mir hervor. Hemd und Sakko
stehen mir gut. Stock und Hut stehen mir auch gut. Ein schwäbisches
Schlusswort: Quod erat demonstrandum. Schiller soll's recht sein.
Und der Bach fließt immer noch in voller Erhabenheit weiter. Und das Boot
geht nicht unter. Und wir rudern brav Richtung Selbstheit. Und spielen
Eishockey und Tennis und essen Apfelstrudel und Mozartkugeln und sausen auf
unseren schweizerisch-kanadischen Schiern österreichisch-rumänischer Art und
Weise die Abgründe der Tiefenpsychologie runter, was das Zeug hält.
Und das Zeug hält. Freud, Jung und Steiner haben
es uns
bescheinigt. Es ist ein verwendbares Zeug. Jetzt warten Karl-Markus und
Stelică aber schon mit gehobenem Glas.
Ja, ich stoße
sehr gerne an. Und das Ganze nennen wir dann am besten Komparatistik.
Stelică wollte schwitzen. Auf dem Weg zur Sweat Lodge (buchstäblich:
Schwitzkammer, eine Einrichtung zur körperlichen und vor allem eben auch zur
geistigen Läuterung) bei Crawford Lake schauten wir auch mal kurz beim
örtlichen Medizinmann vorbei ("Unsere Medizin stammt von lokalem
Ungeziefer!"), der seinerseits gerade in angemessener Badekleidung mit der
gnädigen Squaw und den Kleinen von der Sweat Lodge zurückgekommen war und,
vier Beutel Feuerwasser am Gürtel, auf uns wartete (Wir
hatten
dem guten Mann gar nicht gesagt, dass wir kommen, woher weiß er's denn
bloß?, dachte ich mir, als er uns voller altkanadisch-indianischer
Gastfreundschaft bedachtsam mit der Friedenspfeife, dem obligaten
Feuerwasser und drei Biberfellen entgegenkam). Wir umrissen in ein paar
kurzen Sätzen den Tatbestand unseres Gruppenausflugs ins schöne
Reich der Tiefenpsychologie,
unsere gemeinsame Frage, die dreifache Traum-Frage am Ontariosee. Seine
Antwort, die Medizinmann-Antwort auf die Traum-Frage, fiel so einfach aus,
dass ich sie hier leicht wiedergeben kann, ohne ins Philosophische
auszurutschen, und freilich auf der anderen Seite doch dermaßen kompliziert,
dass keiner von uns sie so richtig kapierte: "Die Welt ist alles, was der
Fall ist, und was der Fall ist, ist die Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit
ist die Realität. Euer Traum ist wahr, euer Traum ist die Wirklichkeit, eine
wahrhafte Wirklichkeit. Howgh!"
"Der spinnt wohl", raunte mir Karl-Markus diskret zu, nachdem er mal ganz
kurz zum
Beutel griff, denn er hatte Durst und es war halt keine Schartnerbombe mehr
da. "Die
Wirklichkeit ist nie und nimmer die Realität.
Das hab ich ja einmal in einem meiner Leitartikel im Neuen Zürcher Totem
ganz klar schriftlich dokumentiert. Kann der Mann denn nicht lesen?"
Und
dann tat er einen kräftigen Zug aus der Friedenspfeife. Mit sichtbarem
Genuss atmete er den Rauch ein, es dauerte eine ganze Weile, und, fast
könnte ich darauf schwören, in jenem einem Augenblick gab es nichts mehr auf
der Welt als diese Friedenspfeife und die gewiss bedeutungsvollen
Rauchwölkchen, die sich langsam zum Himmel erhoben, es gab nichts mehr auf
der Welt als
Karl-Markus und
die Pfeife, nichts mehr als den Salzach-Krieger und seinen Tabak, wie der
Dichter sagen würde, ja nicht einmal eine Trafik gab es mehr in jenem einen
überdurchschnittlich lange andauernden, grenzüberschreitenden Augenblick,
and I mean it, keine Trafik in the whole wide world,
wir anderen warteten
gespannt auf das, was er wohl noch sagen möge, doch nein, irgendwann atmete
er dann einfach wieder langsam, aber sicher aus, and that was it. Schon
hatte Stelică
die Friedenspfeife im Mundwinkel. Dann ich. In corpore sano.
Und wir stießen an. Cheers! Darauf kriegte jeder von uns einen nagelneuen
Medizinbeutel. Und dann sagte der Medizinmann noch etwas recht Sonderliches.
"Relatively speaking", sagte er. Und schon träumte der Karl-Markus den
Einstein herbei. Der Einstein wollte natürlich wissen, wer wir denn alle
seien (How are y'all doing today, folks? And who are y'all?).
Wir waren Kanadier. Wir waren Donauschwaben. Wir waren Österreicher.
Nur, wo
hatte denn Einstein eigentlich diesen südlichen Akzent her?
"Fahr' uns nach Haus', du stolzer Relativitätsmann. Wer mir san, wiss'n ma
net mehr!", antworteten wir alle vier im Sprechchor (ich glaube, der
Medizinmann tat es uns zuliebe, denn der war ja gar nicht so
angetrunken)".
Doch Einstein hatte keinen Führerschein.
"Versuchen wir's aufs Geratewohl!", schlug Stelică vor. "Vielleicht
geht's ja auch ohne. Die Chancen stehen nicht schlecht. Wenn man nämlich
die Wahrscheinlichkeitslehre in Anbetracht möglicher alternativer Realitäten
aus voller, aus voller… voller, voller …" (er musste innehalten, denn
Karl-Markus wollte unbedingt gerade in diesem Augenblick wieder anstoßen,
weswegen
Stelică eine kleine Ewigkeit lang seine gewöhnliche
Schlüssigkeit und Prägnanz einbüßte),
"voller voller, ja prost, also aus voller …"
Doch Einstein fiel ihm unwirsch ins Wort:
"Der
Herrgott würfelt nicht! Eure Wahrscheinlichkeitslehre hat hier nichts
verloren!
Wenn eine alternative Wirklichkeit nicht der Fall ist, sollte man davon
nicht sprechen", fügte er noch mit wichtiger Miene hinzu – und
verdonnerte uns zurück in die Irrealität des Faktischen, einen faden Unort
ohne Träume.
"Warum Krieg?", hatte Einstein noch – beim Anblick der Kriegsbeile, die wir
kürzlich ausgegraben hatten – gefragt, bevor wir aufwachten. "Warum
nicht Frieden?" Die Kriegsbeile hatten wir dabei aber
selbstverständlich ja gar nicht ausgegraben,
um in den Krieg zu ziehen, sondern vielmehr aus archäologischen
Gründen. Ich wollte Einstein schon erklären, was es mit diesen ausgegrabenen
Kriegsbeilen – und im weitesten Sinne: mit diesen ausgegrabenen Träumen –
auf sich hatte, nur, wir waren wegen des Einsteinschen Hokuspokus bereits
wieder mitten drin in der tristen Irrealität des Faktischen gelandet, und
good old Freud hatte Einstein eh prompt untergehakt, um ihn in aller
Gemütlichkeit in Sachen Krieg und Kriegsbeil
zu unterrichten.
Hundert Kronen kostete der
Spaß. Da Einstein das Geld im Moment leider nicht vorrätig hatte, flüchtete
er alsdann selber mal kurz zurück in die Welt der Träume. I wish I may, I
wish I might … Da ist alles kostenlos. Und die Gläubiger bleiben draußen.
"Jetzt ist der Einstein drüben. Wir nicht", brachte es der Medizinmann
vortrefflich auf den Punkt.
"Spielen wir Tennis!", gab Stelică
dem Gespräch eine neue, frische Wendung.
"Der
Mensch
spielt nur da Tennis, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und
er ist nur da ganz Mensch, wo er Tennis spielt." Und er stellte das Radio
an. Alicia Keys, New York. Empire State of Mind. "Kaiserliche Gesinnung?
Passt."
Dabei wohnen wir drei, Karl-Markus, Stelică
und ich, ja freilich, kaiserliche und
königliche
Gesinnung hin und her, gar nicht nicht in New York, sondern in North York.
Das ist ein Teil von Toronto. Früher hieß Toronto nämlich York (und downtown
kann man sogar Ford Old York besichtigen). Keine Meile von meinem Wohnblock
entfernt, den wir in Anlehnung an die alten Behausungen der Ureinwohner der
unendlichen kanadischen Wälder,
in allen Wipfeln spürest
du keinen Hauch,
longhouse nennen wollen, sausen aber freilich die sogenannten
New York Towers
total königlich
und kaiserlich in die Höhe. Vier Hochhäuser. Unmittelbar an
der Highway 401, der meistbefahrenen Autobahn in Nordamerika.
Würde ich aber nicht in Toronto wohnen,
sondern sagen wir mal in Salzburg, etwa in der in unmittelbarer Nähe des
Mönchsbergs gelegenen Reichenhaller Straße, Sie wissen schon, ja genau, man
kommt da von der Altstadt her durchs Neutor hin, so würde ich natürlich eine
Wohnung in der höchsten Etage
eines im gutbürgerlichen Riedenburg (so heißt der Stadtteil) liegenden
sanierten Altbaus beziehen (oder ich nehme halt am besten gleich mal in zwei
Stockwerken Quartier, in den obersten zwei, dann bleibt mir auch noch genug
Platz, die paar Bücher zu lagern; sonst muss ich sie ja alle wegschmeißen).
"Und dann kannst du dir jeden Sonntag den
Tatort
anschauen", redete mir Karl-Markus sozusagen ins Gewissen. "Aber bitte nicht
bloß
zuschauen.
Echt
hinschauen."
Denn er hatte natürlich meine Gedanken erhascht, schon bevor ich sie
überhaupt erst in meinem Kopf formulierte.
A bisserl unheimlich, wenn man’s recht
bedenkt. Ich tat noch einen tüchtigen Schluck aus dem Beutel, also klein war
der nicht, der Beutel, und auch der Schluck war natürlich
wie gesagt ein
tüchtiger,
was sonst, und schaute mir mit klarem Blick die verschiedenen Facetten der
Wirklichkeit an, die in ihrer unbeständigen Verschwommenheit immerhin
bisweilen ausgesprochen scharfe Umrisse aufwiesen.
In seinem österreichischen Leben schaut sich Karl-Markus den
Tatort
an, dachte ich, im kanadischen "Gegenleben" den
Flashpoint.
Aber der läuft ja jetzt auch in Österreich. Was heißen will, man kann
ungeniert zur gleichen Zeit voll und ganz beides sein: Österreicher und
Kanadier.
"Zeit zum Tennisspielen!" Stelică
hatte schnell einen Freund vom Nachbarstamm der Delaware verständigt,
und los ging's!
Ich bin mir jetzt im Moment mal nicht hundertprozentig sicher, wie das Spiel
endete, doch eins muss ich mit Nachdruck betonen: Karl-Markus und Stelică,
das sind hartgesottene Krieger. Das sind echt ritterliche Figuren. Wie aus
dem Bilderbuch rausgeschnitten. Wie es in jenen Zeiten, als es noch Helden
gab, gang und gäbe war. Wenn sie sich auf die Streitrosse schwingen,
bricht der Asphalt unter ihnen, und zwar bis Mississauga. Das nenn' ich
einen Umbruch! Oder einen Aufbruch. Aber jedenfalls keinen Bruch mit der
Tradition. Wenn sie das Kriegsbeil schwingen, laufen alle Feinde davon, und
wenn sie die Friedenspfeife rauchen, verdunkelt sich der Himmel ob ihrer
Rauchgewalt – und danach wird er natürlich bald wieder ganz heiter. Und ganz
oben kann man auf diesem heiteren Himmel gut lesen, was meine Freunde, die
österreichisch-rumänischen
Kraftkerle
kanadischer Ausdrucksweise, mit ihren Rauchwolken so alles schreiben.
Echte Recken sind das, zeitgenössische
Recken, total zuverlässige Kumpel, mit denen einer getrost in den Krieg
ziehen kann, wenn es denn soweit ist – und wenn wir genug Farbe
zusammenkriegen, um unser Gesicht entsprechend anzumalen.
Zwei kaiserliche Kraftkerle in der
kanadischen Wildnis! Kämpfe ich an ihrer Seite, so ist uns der Sieg gewiss.
Und bin ich mal gerade nicht da, so kämpfen meine Freunde eben zu zweit. Und
dann ist uns der Sieg ebenfalls gewiss. So einfach kann gute
Kulturwissenschaft sein. Mit mir, ohne mich.
"Momentchen!", schrie
Stelică ungefähr
so gegen Ende des Spiels.
"Meine Mutti ruft mich gerade aus der guten alten Walachei an." Wir hielten
inne. "Da, mămico", sprach er in den Hörer.
Und dann weiter zu uns:
"Sie hat mir einen neuen Pulli gestrickt. Echte rumänische
Transhumanz-Wolle.
Zum Schifoan. Den hol' ich in zwei Wochen an Ort und Stelle ab." Dann sprach
er wieder in den Hörer.
Wir durften also eine
Pause einlegen. "Eins muss ich dir schon sagen", machte sich
Karl-Markus gleich daran, ohne viel Aufhebens zu philosophieren, "dieses
Dorf in der Rumänischen Tiefebene, von dem Stelică
abstammt,
Gheorghe Lazăr,
hätte ja
strenggenommen Palanka sein können, Du weißt schon, jenes Palanka."
Ja, natürlich kennen wir Toronto-Donauschwaben allesamt beautiful Palanka,
das Städtele in good old Vojvodina, und wir allesamt wissen, dass auf dem
Umschlag der berüchtigten, an allen Lagerfeuern gelesenen Totems
Kriegerg'schichten und Kritik öfters ein von einem gewissen Ferdinand
Palanka aufgenommenes Foto zu sehen ist, von dem man gegebenenfalls annehmen
könnte, dass er, der Ferdinand, eine Personifizierung jenes Ortes in der
Vojvodina sei, wenn man nicht wüsste, dass Personifizierungen zwar sehr wohl
im flüchtigen Reich des Märchenhaften vorkommen, aber doch nie und nimmer in
unserem handfesten Reich der Wirklichkeit, wiewohl der
Karl-Markus freilich manchmal zwischen zwei Friedenspfeifen, das weiß ich
first-hand, wie wir Trapper in Ontario sagen, einen gewissen Onkel Palanka
anruft, wenn sein total wasserdichtes donauschwäbisches Kanu stillsteht und
die kanadische Nachtigall (oder meinetwegen der Loon) in
donauschwäbisch-nächtlich kanadischen Tönen ihr Lied von der Unendlichkeit
der weiten Wälder und der kleinen Welt, die sich hinter diesen Wäldern
versteckt, für uns Menschen singt.
Und dieser Onkel Ferdi, wie ich ihn bei mir
nenne, hatte auch eine Hütte, und einen Vierkanthof hatte er natürlich auch,
ebenso wie Onkel Tom, der Totem-Macher. Man könnte jetzt also nicht
hundertprozentig sicher sagen, dass da was falsch sei, wenn einer die
Zutaten der Welt mal ein bisschen vermischt. Gheorghe Lazăr
und Palanka: zwei Orte, in denen ein Teil der kanadischen Zukunft
geschmiedet wurde, ja immer noch geschmiedet wird. Zwei Pole einer
alteuropäischen Gesinnung, der sich
im neuen Kanada eine Ausschlag gebende Wendung andichten lässt, so wie sie
es – in dieser Form – sonst wohl nicht gegeben hätte. Am Ontariosee wird
eben die beste Kulturgeschichte geschrieben. And that’s a fact.
"Ich würde jetzt
drei Biberfelle und drei Zentner Büffelfleisch
gegen einen
guten Tschick tauschen! Und meine Flinte drauf!", hatte
Karl-Markus eben gesagt, da er den Trading Post an der Krümmung eines
kleinen Flusses sah, und schon setzte der Medizinmann eine Havanna in Brand,
die er prompt in der Reihe herumgehen ließ, nachdem er natürlich den
obligaten ersten Zug eingeatmet und alsdann in Form allerkleinster
Rauchwolken wieder in bedachtsamer Ergriffenheit ausgeatmet hatte. Wir
bliesen unsererseits den Rauch in die vier Windrichtungen und versuchten
dabei mit einer gewissen unter den gegebenen Umständen
angebracht dünkenden
Andacht wenigstens einen Bruchteil des guten Geistes zu erhaschen, der in
seiner unabdingbaren Erhabenheit, wie Häuptling Longinus einst an einem
Lagerfeuer der Komparatisten sagte, zwischen den Büschen und unter den
Baumkronen und über allen Gipfeln und in allen Wipfeln unserer Wolkenkratzer
herumgeistert. Dichtung und Wahrheit, my friends! Denn Dichtung ist
Wahrheit.
"Also wenn ich
meinen Schläger schwinge", dozierte Stelică, als er mit dem
In-Andacht-Fallen fertig war, (ja, genau, er dozierte, und zwar im echten
Dozenten-Ton, was bei Stelică, einem rechtschaffenen, unkomplizierten
Tennis-Krieger, mit dem man in der Regel gut kann, eher selten ist), "dann
saust der Ball in einer Viertelsekunde rauf in die Unendlichkeit. Schneller
als ein Adler." Ich wusste, dass Stelică im vollen Ernst sprach. Um aber
sicherzustellen, dass ich das jetzt nicht falsch aufgefasst hatte, fragte
ich blöderweise: "Schneller als unser österreichischer Adler? Schneller als
der Adler, der früher immer den Schilling in seinen Klauen festhielt?" Die
Antwort kam unverzüglich: "Schneller. Cause I never lose my swing."
"Ja vielleicht
nicht deinen Schwung, aber doch wohl das game", meldete sich Karl-Markus
eher imperativ zum Wort. "Der Ball soll ja ins Feld fliegen, nicht in den
Himmel. Handle immer so, dass der Ball … ja, du weißt schon. Häuptling
Kant's thingy." Das stimmt, sagte ich mir im Stillen, da hat der Karl-Markus
recht. Das ist der kategorische Tennis-Imperativ.
"Ist mir heißegal,
antwortete ihm aber Stelică in seiner gelassenen Art und Weise." Na dann,
sagte ich mir weiterhin im Stillen. "Man sagt nicht heißegal", meinte
Karl-Markus noch, aber dem guten Stelică war offensichtlich auch das so
ziemlich heißegal.
"Also wenn ich meinen Bleistift spitze, dann
bin ich ganz bei Sinnen", fuhr Karl-Markus fort, "dann fang ich so richtig
an mit dem Sinnieren. Und das Wort Sinnen kommt ja aus dem
Althochkanadischen. Das bedeutete früher sowas wie: in See stechen. Und
alles ist da – so wie es hätte sein können."
Sehr tiefgründig ausgedrückt, sagte eine eher unbehagliche Stimme in mir,
die ich jetzt mal vorübergehend zunächst einfach zu meinem Ich zählen will.
Es mag aber ja auch das Über-Ich gewesen sein. Ich
wollte was dazu sagen, sagte aber nichts mehr. Gar nichts sagte ich. Denn
mir fiel nichts mehr ein. Dafür machte ich mich eifrig daran, auf geistiger
Ebene festzuhalten, was sich gerade an diesem Tisch ereignet hatte. Bin
strenggenommen noch immer damit beschäftigt. Natur! Natur! … Shakespeare,
Karl-Markus, Stelică! …
"Der Bayview Village Tennis Club liegt direkt
unter meinem Balkon", erläuterte Stelică ferner (als ob wir das nicht
gewusst hätten). "Von meiner Wohnung im 10. Stock kann ich die Bahnverläufe
aller Bälle ausforschen und dann am Laptop, ein Gösser in der Hand, Hopfen
und Malz, Gott erhalt's,
die gerade noch überschaubare Unendlichkeit des Spielfelds und die
unüberschaubare Zweckmäßigkeit des Spiels an sich und für uns im Sinn, alle
Infos systematisch digital erfassen." Als der Meister der Differential- und
Integralrechnung, der er ist, und schon gar erst als der Computer-Guru, der
er ist, kann mein Freund das wahrscheinlich tatsächlich, dachte ich mir. Nur
… wozu?
"Stelică, you
rock!", brachte es Karl-Markus gerade im rechten Augenblick adäquat auf den
Punkt – und füllte gleich mal nach. Denn er hatte zufälligerweise noch ein
paar Dutzend Fässer Gewürztraminer im Kanu vorrätig. Dazu natürlich ein paar
Dutzend Fässer Rum. Für Seeleute, versteht sich. Denn Toronto liegt am See.
Und am Nachmittag darf man, ja am Nachmittag sollte man. Das ist gute
Essayistik. Medizinmann's orders.
Und dann fuhren wir alle drei mal kurz raus zur Springridge Farm (liegt ja
nicht so weit von Crawford Lake entfernt, wo sich die Sweat Lodge befindet),
um uns als Erdbeerpflücker zu verdingen, Unsinn, nein, um a bisserl was für
den Gaumen zu beschaffen. Und zum Einmachen.
Pick your own
strawberries. Ein gescheites Wort. Wir blickten weit in die Zukunft. Überall
Erdbeeren, wie Tacitus einst sagte. Strawberry fields forever. "Das ist
indeed ein weites Feld", brachte Stelică in seiner präzisen, entschlossenen
Weise zum Ausdruck, was uns in jenem Augenblick wohl allen durch den Kopf
gegangen sein mochte. "Brüder, lasst uns weiter zechen, bis wir umfallen!",
schlug Karl-Markus alsdann gleich mit donauschwäbischer
Verbindlichkeit vor. "Und wenn wir wieder bei Sinnen sind, schreiben wir uns
das Erste, was wir sehen, getreulich auf. Und machen uns ein Bild davon. Und
dann zerknäueln wir den Fetzen und stecken ihn brav in den Medizinbeutel.
Einen lustigen Käfer mit verpackt, sagen wir mal einen Maikäfer, Maikäfer
flieg, der Vater ist im Krieg, dann auf alle Fälle noch etwas Weihrauch
drauf und nichts wie zur Sweatlodge mit dem ganzen Zeug. Dann haben wir
unsere eingemachte Vision, unser langfristig haltbares Traumbild von dieser
Welt. Howgh!"
How come?
Ich hätte mir
nichts Besseres einfallen lassen können. Kein Mensch hätte sich etwas
Besseres einfallen lassen können. Schon jagte Karl-Markus seinem munteren
Käfer nach, und wir machten's ihm gleich. Und eins steht fest, eins stand
schon damals fest. In dieser unserer eingemachten dreifachen Vision steckt
mehr drin als eine eingemachte dreifache Vision. Und wir wussten schon
damals, ja, sofort wussten wir allesamt: Die drei Medizinbeutel werden wir
nie wieder ablegen. Weil wir in der Sweatlodge geschwitzt haben. Weil wir
Kanadier sind. Und weil wir – als Kanadier – genau wissen, wer wir sind.
Hier hat was
begonnen. Hier beginnt immer noch was. Hier beginnt unser Traumbild von
dieser Welt. Ein haltbares Bild. Es ist eine haltbare Welt. Und wenn wir sie
uns anschauen, dann haben wir eine Weltanschauung. Unsere
Weltanschauung – die aber nicht nur uns gehört. Wir haben geträumt.
Wir haben gesprochen.
"Allerhand!", stieß Karl-Markus ohne sichtbaren Zusammenhang aus. "Euer
Medizinmann ist wirklich ein sonderlicher Geselle. Wir hatten in Salzburg
auch mal so einen komischen Medizinmann. Der hat immer ganz profundes Zeug
von sich gegeben und Totem after Totem after Totem vollgekritzelt, und im
Rat der Weisen sagte er seine Meinung immer so unverhohlen, dass einer
schier seine Freude dran hatte. Seine Streitaxt schleuderte er mit derselben
Schlagfertigkeit auf einen zu wie seine Worte, und sein Vorname war Tom und
er wohnte in einer Hütte und er machte eben dort, in jener Hütte, die
er von einem seiner Neffen hatte, großartige Totems.
Eines seiner Totems hieß einfach Totem-Macher. Das hat er über sich
selbst geschrieben. Cool. Hab ich nicht recht? Irgendwann war er dann weg.
Ich glaube, er ist zum Dörfle an der Wien gezogen, aber ganz sicher sein
kann ich mir da freilich nicht. Große Nummer.
Lebte zuletzt als Trapper, Jäger und Cowboy auf seiner Ranch in Texas, er
selber nannte sie Vierkanthof, einen Vierkanthof mit außerordentlichen
Proportionen, das hab ich von der zweiten Squaw eines tapferen Kriegers der
Mescalero, die meine Frau vorigen Samstag im Griensteidl getroffen hat. Die
Squaw kam aus Radebeul, wo sie als Kuratorin des Indianermuseums ihre
Büffelfleisch-Häppchen verdient. Meine Frau hat ihr a little something, a
bisserl was von unseren eingemachten Gurken, mitgegeben. Die passen gut zum
Büffelfleisch.
Also
dieser Häuptling Handke (denn es handelte sich natürlich um einen Häuptling)
… nein, nicht Handke, 'tschuldigung, dieser Häuptling Bernhard hatte sich
einmal auf dem Kohlmarkt in Wien einen Anzug gekauft, um sich alsdann in
Anerkennung der unerbittlichen Tapferkeit, mit der er immer in die Schlacht
gezogen ist, wenn wieder mal zufälligerweise die
Streitaxt ausgegraben wurde, ein akademisch gegerbtes Büffelfell umhängen zu
lassen. Das Fell wog freilich sehr viel, und er musste es selber tragen.
Na ja, Ehrungen …
Also dieser Häuptling Bernhard hatte sich dann wie gesagt auf dem Kohlmarkt in
Wien bei Häuptling Anthony zwecks der bestmöglichen Einkleidung einen Anzug,
genauer gesagt den besten Reinwollenanzug in Anthrazit angeschafft, dazu die
passenden Socken, eine Krawatte und ein Hemd von Arrow, ganz fein, blau
gestreift, um das Büffelfell, das ihm dann übrigens im Festsaal der Akademie
der Wissenschaften in Wien von Buffalo Bill und Billy the Kid
höchstpersönlich überreicht wurde, in Empfang zu nehmen. Und als er dann
schließlich wieder mit dem Büffelfell draußen war, machte er sich als Erstes
auf den Weg zurück zum Kohlmarkt, um den eben gekauften Anzug, der ihn, erst
jetzt, im Nachhinein, merkte er das, die ganze Zeit eingeengt hatte und
folglich – ebenso wie das ganze Drum und Dran der Büffelfell-Verleihung im
Festsaal der Akademie der Wissenschaften in Wien – für ihn eine Nummer zu
klein war, gegen einen größeren umzutauschen."
"Mir
hätte der Anzug wohl gepasst", kam es unverzüglich aus den tieferen
Schichten meiner Persönlichkeit hervor. "Na ja, dir scheint ja alles zu
passen", erwiderte Karl-Markus mit donauschwäbischer Knappheit. Erst dann
merkten wir, dass wir alle drei recht müde
waren.
Wir setzten uns auf einen Ast und
verschnauften. "Hier! Nimmt schon! Zur Stärkung!",
ermunterte uns Stelică.
Er hatte ein Extra-Fläschchen
mitgebracht, das er an seiner Brust, unmittelbar neben dem Medizinbeutel,
aufbewahrte. Eine Minute später waren wir alle drei wieder ganz gut drauf
und hundertprozentig marschfähig.
Karl-Markus blätterte in
der Zeitung.
Salzburg Furniture
of Toronto.
"Aha! Da haben wir's ja! Das hätte
ich
sein können, wenn … oder da:
Deutsche Presse,
früher
Der
Österreicher.
Das hätte mein Vater sein können. Yann Martell, Life of Pi. Schiffbruch
mit Tiger. Klar! Das hätte ich sein können! Und da! Siehste?
ESL-Teachers wanted! Das hätte ..."
Ich musste an meinen
ersten Besuch bei den Donauschwaben denken. Ich war mit dem Bus von der
Bathurst Street, wo ich damals wohnte, nach Scarborough gefahren, genauer
gesagt down to beautiful Scarborough, zum sogenannten Donauschwaben Club. Der
damalige Präsident des Clubs, Toni Baumann, empfing mich sehr freundlich,
und überhaupt waren die Leute da allesamt sehr nett und, das ist ja auch
nicht von ungefähr, gut aufgelegt. Ich hatte mich gerade beim Kanada
Kurier anstellen lassen. Das war mein erster Auftrag. Ich schrieb einen
Artikel über unsere wackeren Toronto-Donauschwaben, zu denen ich mich gleich
einmal im Sinne eines gewissen begrifflichen Überziehungsrahmens mit zählte:
"Weil wir Donauschwaben sind."
Toni Baumann hatte es in der Nachkriegszeit,
als niemand so recht wusste, was denn mit all den vielen sogenannten
Volksdeutschen anzufangen sei, nach Kanada verschlagen. Seine Kinder und
Enkelkinder waren waschechte Kanadier. Es hätte ihn aber eben unter
Umständen auch etwa nach Salzburg verschlagen können, wie Karl-Markus'
Familie. Ich sollte später noch oft zu der einen oder anderen Feierlichkeit
unserer Donauschwaben eingeladen werden, um kulturjournalistisch zu
erfassen, was das denn eigentlich sei, als Donauschwabe in Toronto aus
wohlgemerkt kanadischer Perspektive das Deutschtum zu pflegen.
Es ließe sich im Moment natürlich wohl
kaum so genau
beurteilen, inwiefern es mir gelungen ist, das Wesentliche des
nordamerikanisch verklärten Donauschwabentums adäquat auf chlorfreies
Zeitungspapier zu retten, doch sie, die Donauschwaben, haben's mir gedankt.
Es muss ja sozusagen nicht immer ein
Schnitzel sein, aber es
darf
doch immer wieder mal ein leckeres Schnitzel sein.
Hut ab!
Klar. Kulturjournalismus.
Und ich glaube, darin, in meinem allerersten
auf kanadischem Grund und Boden verfassten Zeitungsartikel, findet sich auch
die Antwort auf Karl-Markus' Frage: 'Was wäre
aus mir geworden, wenn …?"
Deutschland wollte uns nicht, Kanada nahm uns
auf, ungefähr
so fasste es der
Präsident (der Donauschwaben in Toronto) zusammen. Und jetzt sind wir a
group of established Canadian citizens. Manchmal weicht das Deutsche, um
dem Englischen Platz zu machen, besonders wenn jüngere Leute mit dabei sind,
doch irgendwo rund um die Großen Seen und um die seltsame Behaglichkeit der
kanadischen Weltanschauung ist es immer noch verankert geblieben, das
Deutsche, in dem das Deutschtum steckt:
"Wir haben's geschafft. Und warum haben wir's
geschafft? Weil wir Donauschwaben sind. Weil wir Deutsche sind."
A dream
come true? Und wenn, dann … wessen Traum?
Zurück
nach Toronto fuhren wir nicht mehr über die Highway 401. Karl-Markus
wollte das Rauschen eines Wasserfalls hören,
denn zu so einer alternativen kanadischen Wirklichkeit, wie er sie sich
erträumte, gehören eben auch rauere Geräusche, nicht nur das leise Säuseln
des Windes. Es ging – in diesem Sinne –
erst mal rüber zu
Niagara Falls und dann weiter auf der Niagara Parkway bis Niagara-on-the-Lake,
immer der Nase nach, ins Donauschwäbisch-Kanadische übersetzt: immer den
Canyon entlang. Bei den Niagarafällen
trafen wir oben, wo sich die gewaltigen Wassermassen des Lake Erie daran
machen, in den Niagara River zu stürzen und ferner Richtung Lake Ontario zu
eilen, die drei Indianer aus Lenaus Gedicht, die sich ursprünglich gemeinsam
mit Hölderlins Empedokles in den Abgrund hatten stürzen wollen, davon jedoch
nach einigem Hin und her schließlich
(nicht in Lenaus
erfunderen Wirklichkeit, sondern in unserer wahrhaften, das kommt: als
wahrhaft empfundenen Wirklichkeit)
abließen, da wir sie
dazu überredeten, sich die Frage der Zweckmäßigkeit ihres Entschlusses noch
mal in aller Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen.
"Ihr Bleichgesichter
seid an allem schuld", meinten die drei Indianer noch, bevor sie wieder in
etwa beschwichtigt zurück zu ihrem Kanu wateten. Und jetzt hab ich ein
schlechtes Gewissen. Denn es stimmt ja, wir Bleichgesichter haben den
Indianern viel Unheil zugefügt. Immerhin hat mein Sohn Theodor, der an der
University of Toronto Computerwissenschaften studiert, im Sommer beim
Ministry of Aboriginal Affairs gearbeitet. Da ist wenigstens ein Teil der
Schuld schon wieder weg. Jetzt wollen wir ja alles wieder gut machen. Denn
alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt, um es mit dem
Schwaben zu sagen, dem Dings, wie hieß er denn gleich.
Kurz,
sanma wieder gut.
"Das hätten die drei
Donauschwaben gewesen sein können", erkannte Karl-Markus
mit seinem eindringlichen Adlerblick, nein, mit seinem Falkenauge.
"Oder irgendeine
andere vertriebene Völkerschaft.
Gut dass wir sie gerettet
haben!"
Und ich wusste:
Wenn
sich schon längst nichts mehr um nichts
dreht, dann dreht sich immer noch in aller Ewigkeit das großzügige
Vermächtnis eines Salzburgers, eines Mönchsberg-Kraftkerls,
eines Traum-Kanadiers
österreichischen Schlages,
der die bewegte Geschichte
seiner Familie, die Vorgeschichte und all die vielen sozusagen aussterbenden
Kleingeschichten, Träume, Schäume, Hoffnungen und Ideale seines Geschlechts,
des Menschengeschlechts, im Blut hat und immer wieder ans Tageslicht rettet.
Ja, klar. In orbit. In orbit ultima. Ontario,
Kanada.
"Liberté, égalité,
fraternité!", sagten wir den drei Indianern noch, bevor wir uns auf den Weg
zur Weinkostprobe machten. Denn in uns lebte der Geist der Französischen
Revolution (aber ohne die Morde, also sagen wir mal:
ein Halb-Geist
der Französischen Revolution, die bessere Hälfte, kurz,
ein guter Geist),
der Geist der Aufklärung, des Humanismus. Freilich: Hätte Hugo von
Hofmannsthal damals im Hotel Vier Jahreszeiten in München seinen Traum
weiter geträumt, so wäre er darin bestimmt sehr bald auf Büchners Camille
(in Dantons Tod) gestoßen:
"Nimmt einer ein
Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff und zieht ihm Rock und Hosen an,
macht ihm Hände und Füße, färbt ihm das Gesicht und läßt das Ding sich drei
Akte hindurch herumquälen, bis es sich zuletzt verheiratet oder sich
totschießt – ein Ideal!"
Zeitgenössisch
ausgedrückt, eine Wunderformel:
sich
Mokassins und
Lederhemd schenken lassen, Streitaxt ausgraben, Geschichte machen. Mir wurde
eins klar: Wir schaffen das nur, wenn wir den Traum gemeinsam weiter
träumen. Meinen Freunden wurde das auch klar. Deshalb sind wir ja gemeinsam
so verdammt gute Träumer.
Probieren geht vor Studieren, so haben es die
wackeren Krieger an der Salzach wie am Ontariosee von alters her gehalten.
Und die Karten zum
Thomas Bernhard Shaw Festival in Niagara-on-the-Lake werden sowieso
sicherheitshalber von Anfang an zusammen mit tickets for a few wine
flights, die man in verschiedenen Gaststätten in der Niagara Region
gegen einen anständigen Schluck einlösen kann,
verkauft.
Total kolossal! Nicht einmal in Schaffhausen gibt es mehr Wein. "Wollen
wir es also auf eine Kostprobe ankommen lassen?", stellten Karl-Markus und
Stelică tadellos
synchronisiert die Rebenfrage. Und ich sagte natürlich
Ja, wie hätte ich auch bloß Nein sagen können.
In der Niagara Region gibt es nämlich so viele Weinberge (und so viele
vollgeladene Busse, die zum
wine tasting
fahren), dass einer gar nicht mehr weiß, wo er anfangen soll.
Wir schauten naturgemäß erst mal bei
Konzelmann vorbei. Konzelmann war nicht zu Hause. Aber sein Goldener
Meisterbrief thronte wie immer stattlich in der Halle. Mehr als fünfzig
Jahre waren vergangen, seit er drüben in good old Germany, in the old
country, wie unsereiner hierzulande zu sagen pflegt, seine
Ausbildung zum Fassbinder
und Holzexperten
und Reben-Zauberer abgeschlossen hatte. Jetzt verkauft er in Ontario seinen
Qualitätswein mit Prädikat. Das ist eine gute Sache. Prost!
Als es dann schon wieder langsam Zeit zum
Schlafengehen wurde, lud uns Stelică, der Ur-Tennisspieler, noch zu einem
späten Braunen bei Starbucks (in unserer lokalen Chapters-Buchhandlung) ein.
Ja, so einer ist unser Stelică nun mal. Wir
schauten uns um, stets in Bereitschaft, ganz
geistesgegenwärtig, ganz
umsichtlich, immerfort auf
der Hut, denn in dieser fürchterlichen kanadischen Wildnis, mittendrin im
Dickicht der Städte und ganz am Rande der kanonisierten Kulturwissenschaft
kann man ja nie wissen.
Riesengroß an der Wand: die Werbung für die
Bestseller: David Bergen, Carol Shields, Frances Mayes … Wo bleiben denn bloß
die Donauschwaben?,
musste einer da unwillkürlich denken. Wo bleiben die Deutschen? Ein
Tellkamp, ein Illies – oder doch wenigstens ein Sebald. Keine Spur.
Immerhin: Michael Ondaatjies
The English
Patient,
Yann Martels
Life of Pi
… "Da haben wir's ja schon wieder!", schrie Karl-Markus begeistert auf. "Schiffbruch
mit Tiger.
Das hätte
ich
geschrieben, wäre ich Kanadier gewesen, wäre ich Kanadier
geworden."
"Bist du ja",
sagte ich. Und mir fiel ein, dass der Held in Martels Buch seinen Autor
(also Yann) fragt, welche Fassung der Schiffbruchsgeschichte ihm denn besser
behage: diejenige mit dem Tiger oder diejenige ohne den Tiger.
Digital-philosophisch formuliert: Mit Tiger, ohne Tiger.
Die mit dem Tiger,
lautete natürlich die Antwort. Dabei hatte freilich der Autor, Yann Martel,
der ja möglicherweise in einer anderen Existenz, in so einem "Gegenleben",
wie Karl-Markus zu sagen beliebt, ruhig hätte Österreicher sein können, wenn
es sich denn so gefügt hätte, als der verschlagene lector in fabula, der er
ist, längst gemerkt, dass die zwei Fassungen der Schiffbruchsg'schichte (Mit
Tiger/ohne Tiger) eigentlich strenggenommen in aller augenscheinlicher
Unterschiedlichkeit genauestens auf den selben Tatbestand hinauslaufen. Denn
in der alternativen Wirklichkeit des Romans, in der sozusagen die großen
Themen Tiger und Tigertum des allmächtigen Glaubwürdigkeits-Imperativs des
Faktischen wegen den Kürzeren ziehen mussten (Klartext: kein Tiger) wurde
die Rolle des Tigers ja gar nicht gestrichen, sondern einfach dem Jungen,
dem Helden, dem menschlichen Helden zugewiesen, den der Tiger rettet.
Mit mir, ohne
mich, sagt der Tiger, wenn ich mich nicht irre, und prägt das narrative
Wesen des sprachlich wiedergegebenen Abenteuers durch eine recht
philosophisch in den Raum gestellte Ambivalenz der begrifflichen
Folgerichtigkeit. Dieser Tiger ist also, wie die Donauschwaben in Toronto,
immer da, selbst wenn er nicht da ist. Und die Augen des Tigers, die ein
gewisser von Aschenbach in Thomas Manns Tod in Venedig irgendwie
exterritorial im fernen Asien funkeln sieht, sind eben diese Augen, durch
die wir unsere Geschichte wahrnehmen, ob es sich nun um einen Schiffbruch,
einen Aufbruch oder einen Umbruch handelt. Anders als der vom Vorübergehn
der Stäbe so müd' gewordene Blick des Panthers in Rilkes Gedicht strotzt
dieser Blick vor Lebenskraft, vor Bejahung. Es ist der gierig
verschlingende, nach vorne gerichtete Blick des Überlebenden.
Ich hatte mal,
daran kann ich mich noch gut erinnern, mit so einem ähnlichen Blick direkt
in Yann Martels Augen geforscht, um seine Welten zu sichten, die Welten
seiner Bücher, von denen sich so manches in die Wirklichkeit rettet, in
unsere faktisch definierte Wirklichkeit. Er sprach nämlich vor ein paar
Jahren, meine Tochter Lavinia war damals noch ein Kleinkind, hier, in dieser
Chapters-Buchhandlung, in der ich nun mit Karl-Markus und Stelică gemütlich
bei einem Braunen saß. Ich war mit dem Kinderwagen gekommen, um für die
Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien über die Veranstaltung zu
berichten. Und da hatte ich halt so einen Blick, so einen
Leser-Blick, einen Kundschafter-Blick. Hinter tausend kleinen Dingen eine
große Welt.
So einen Blick hat unser Karl-Markus, wenn er
zum Bleistift greift, um die lehrreich-unterhaltsamen
Geschichten seiner Kindheit, die ihn bis ins
Alter begleiten sollen, zu erfinden. Geschichte, meinte unser Fährtenleser
Yann, kann man nur im Nachhinein – und das
heißt eben auf imaginärer Ebene – erleben, erkunden, empfinden.
"Allerhand! Der Mann spricht mir aus der
Seele!", bekundete Karl-Markus feuertrunken, als ich ihm davon erzählte.
"Sag ich doch immer, wenn ich mein Gläschen
Rum am Nachmittag genieße."
Und so einen Blick hat auch unser Stelică, wenn er den Schläger schwingt. So
einen Blick haben ferner (spätestens seit dem Gespräch mit Karl-Markus,
Stelică und mir) unsere drei Indianer und unsere drei Donauschwaben
und – wer weiß? – vielleicht, ja vielleicht hat auch unsere Sprache, die
deutsche Sprache, so einen Blick, soweit wir uns hier im fernen kanadischen
Dickicht nur hinreichend bemühen.
Mit Braunbär, ohne Braunbär. Mit Kanada, ohne
Kanada. Es ist unsere Geschichte. Wir können sie gestalten, wie wir wollen.
Und jetzt sind wir eben nun mal gerade in der kanadischen Wildnis –
innerhalb der deutschen Sprache.
But it was just a dream. Ein Traum von
unserer Sprache, ein Traum der deutschsprachigen Selbstverständlichkeit am
Ontariosee. Jetzt ist er zu Ende.
Oder vielleicht dauert er ja noch eine
Weile.
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