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Karl-Markus, Stelică und ich
Reale Traumgestalten am Ontariosee


V
on Vasile V. Poenaru
(18. 03. 2018)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com

geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

 

 

 

 

 

Nun gut, Träume sind
Schäume, könnte man ja
meinen. Aber am nächsten
Tag traf Hofmannsthal dann
im Englischen Garten einen
Mann, der ganz so aussah
wie der große Traumdeuter
Sigmund Freud.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Karl-Markus wohnte
übrigens in meinem Traum
ebenfalls in Toronto, nur
sah die Stadt seltsamer-
weise in jener fernen,
nahen Traumwelt, in der
wir uns doch selbst bei
völliger Wachsamkeit oft
genug wähnen, eigentlich
schon fast so aus wie unser
good old Bukarest.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Toronto am Ontariosee.
Der Vater sollte bei einer
deutschsprachigen Zeitung
anfangen, Die Presse oder
so. Und aus dem Kind wäre
ein kanadischer Schrift-
steller geworden. Oder
ein Geschäftsmann. Import-
Export Europa-Kanada.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Vielleicht gehen wir mit
dem Stelică mal einen
heben, und, übrigens, es
wären auch ein paar Sakkos
im Kasten bei mir, aus
denen ich herausge-
wachsen bin."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Wellen des Huronsees
plätscherten mir spielerisch
ins Konzept. Ganz tief in
der Tiefenpsychologie der
Ahorn Mysterien befangen,
kletterten meine Freunde
empor aus dem Spalt der
Zeit, pirschten sich ans
kollektive Unbewusste
heran
– und weiter
bis zu mir.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mir wurde das Eine klar:
Der Mann, der uns den
Traum deuten kann, heißt
Rudolf Steiner. Er hat sich
seinerzeit über die seelische
Tiefenstruktur vieler Leute
hergemacht, unter seinen
Opfern befand sich ein
gewisser Franz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich hab ein paar Worte
von Karl-Markus, in die
ich mich gerne einkleide,
wenn's mal weit weg geht,
etwa in die ferne, nahe
Welt des Essays und der
intrinsischen Gereimtheit
von Textwelten. Das wird
wohl das Substrat sein,
auf dem diese hundert-
prozentig wahrhafte
G'schichte basiert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Realitätsverlust ist das
richtige Wort, die richtige
Diagnose, eine weitgehend
zutreffende Diagnose
unserer Zeit. Ja, wir sind
irgendwie allesamt zu
Nominalisten geworden,
obwohl die Einsicht
nahe liegt: Universalia
sunt realia.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Die Welt ist alles, was
der Fall ist, und was der
Fall ist, ist die Wirklichkeit.
Und die Wirklichkeit ist die
Realität. Euer Traum ist
wahr, euer Traum ist die
Wirklichkeit, eine wahrhafte
Wirklichkeit. Howgh!"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und, fast könnte ich darauf
schwören, in jenem einem
Augenblick gab es nichts
mehr auf der Welt als diese
Friedenspfeife und die
gewiss bedeutungsvollen
Rauchwölkchen, die sich
langsam zum Himmel er-
hoben, es gab nichts mehr
auf der Welt als
Karl-Markus
und die Pfeife, nichts mehr
als den Salzach-Krieger
und seinen Tabak, wie der
Dichter sagen würde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir waren Kanadier.
Wir waren Donauschwaben.
Wir waren Österreicher.
Nur, wo hatte denn
Einstein eigentlich diesen
südlichen Akzent her?
"Fahr' uns nach Haus',
du stolzer Relativitätsmann.
Wer mir san, wiss'n
ma net mehr!"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Kriegsbeile hatten
wir dabei aber selbstver-
ständlich ja gar nicht
ausge
graben, um in den
Krieg zu ziehen, sondern
vielmehr aus arch
äolo-
gischen Gründen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Keine Meile von meinem
Wohnblock entfernt, den
wir in Anlehnung an die
alten Behausungen der
Ureinwohner longhouse
nennen wollen, sausen
die sogenannten
New York
Towers
total königlich und
kaiserlich
in die Höhe.
Vier Hochhäuser. Unmittel-

bar an der Highway 401,
der meistbefahrenen
Autobahn in Nordamerika.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In seinem österreich-
ischen Leben schaut
sich Karl-Markus den
Tatort an, dachte ich, im
kanadischen "Gegenleben"
den
Flashpoint. Aber der
läuft ja jetzt auch in Öster-
reich. Was heißen will,
man kann ungeniert zur
gleichen Zeit voll und
ganz beides sein: Öster-
reicher und Kanadier.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Eins muss ich dir schon
sagen", machte sich Karl-
Markus gleich daran, ohne
viel Aufhebens zu philo-
sophieren, "dieses Dorf in
der Rumänischen Tiefebene,
von dem Stelic
ă abstammt,
Gheorghe Lazăr, h
ätte ja
strenggenommen Palanka
sein können, Du weißt
schon, jenes Palanka."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und schon setzte der
Medizinmann eine Havan-
na in Brand, die er prompt
in der Reihe herumgehen
ließ, nachdem er natürlich
den obligaten ersten Zug
eingeatmet und alsdann
in Form allerkleinster
Rauchwolken wieder in
bedachtsamer Ergriffen-
heit ausgeatmet hatte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Ist mir heißegal, antwor-
tete ihm Stelică in seiner
gelassenen Art und Weise."
Na dann, sagte ich mir
weiterhin im Stillen.
"Man sagt nicht heißegal",
meinte Karl-Markus noch,
aber dem guten Stelică
war offensichtlich auch
das so ziemlich heißegal.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Stelică, you rock!", brachte
es Karl-Markus gerade im
rechten Augenblick adäquat
auf den Punkt – und füllte
gleich mal nach. Denn er
hatte zufälligerweise noch
ein paar Dutzend Fässer
Gewürztraminer im Kanu
vorrätig. Dazu natürlich
ein paar Dutzend Fässer
Rum. Für Seeleute, versteht
sich. Denn Toronto liegt
am See.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Und wenn wir wieder
bei Sinnen sind, schreiben
wir uns das Erste, was wir
sehen, getreulich auf. Und
machen uns ein Bild davon.
Und dann zerknäueln wir
den Fetzen und stecken
ihn brav in den Medizin-
beutel."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Wir hatten in Salzburg
 auch mal so einen komi-
schen Medizinmann. Der
hat immer ganz profundes
Zeug von sich gegeben
und Totem after Totem
after Totem vollgekritzelt,
und im Rat der Weisen
sagte er seine Meinung
immer so unverhohlen,
dass einer schier seine
Freude dran hatte."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Mir hätte der Anzug
wohl gepasst", kam es
unverzüglich aus den
tieferen Schichten meiner
Persönlichkeit hervor. "Na
ja, dir scheint ja alles zu
passen", erwiderte Karl-
Markus mit donauschwä-
bischer Knappheit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich hatte mich gerade
beim Kanada Kurier anstel-
len lassen. Das war mein
erster Auftrag. Ich schrieb
einen Artikel über unsere
wackeren Toronto-Donau-
schwaben, zu denen ich
mich gleich einmal im
Sinne eines gewissen be-
grifflichen Überziehungs-
rahmens mit zählte
: "Weil
wir Donauschwaben sind."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Karl-Markus wollte das
Rauschen eines Wasserfalls
h
ören, denn zu so einer
alternativen kanadischen
Wirklichkeit, wie er sie sich
erträumte, gehören eben
auch rauere Geräusche,
nicht nur das leise Säuseln
des Windes. Es ging
– in
diesem Sinne –
erst mal
rüber zu Niagara Falls.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und jetzt hab ich ein
schlechtes Gewissen. Denn
es stimmt ja, wir Bleichge-
sichter haben den India-
nern viel Unheil zugefügt.
Immerhin hat mein Sohn
Theodor, der an der Univer-
sity of Toronto Computer-
wissenschaften studiert,
im Sommer beim Ministry
of Aboriginal Affairs gear-
beitet. Da ist wenigstens
ein Teil der Schuld schon
wieder weg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mir wurde eins klar: Wir
schaffen das nur, wenn wir
den Traum gemeinsam
weiter träumen. Meinen
Freunden wurde das auch
klar. Deshalb sind wir ja
gemeinsam so verdammt
gute Träumer.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Karten zum Thomas
 Bernhard Shaw Festival
in Niagara-on-the-Lake
werden sowieso sicher-
heitshalber von Anfang an
zusammen mit tickets for
a few wine flights
, die man
in verschiedenen Gast-
stätten in der Niagara
Region gegen einen
anständigen Schluck ein-
lösen kann
, verkauft. Total
kolossal! Nicht einmal in
Schaffhausen gibt es
mehr Wein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wo bleiben die Deutschen?
Ein Tellkamp, ein Illies –
oder doch wenigstens
ein Sebald. Keine Spur.
Immerhin: Michael Ondaat-
jies
The English Patient,
Yann Martels
Life of Pi
"Da haben wir's ja schon
wieder!", schrie Karl-Markus
begeistert auf. "
Schiffbruch
mit Tiger
. Das hätte ich
geschrieben, wäre ich
Kanadier gewesen, wäre
ich Kanadier
geworden."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und da hatte ich halt so
einen Blick, so einen
Leser-Blick, einen Kund-
schafter-Blick. Hinter
tausend kleinen Dingen
eine große Welt.
So einen
Blick hat unser Karl-Markus,
wenn er zum Bleistift
greift, um die lehrreich-
unterhaltsamen Geschich-
ten seiner Kindheit, die
ihn bis ins Alter begleiten
sollen, zu erfinden.

 

Motto: "Row, row, row your boat
Gently down the stream.
Merrily, merrily, merrily, merrily,
Life is but a dream."

(aus dem sogenannten Lied vom Rudern und vom Träumen, Großraum Toronto, in etwa a bisserl nach der Zweiten Lautverschiebung)


   Traum zwischen den Städten, so könnte man dieses Erlebnis nennen, das sich mir jetzt aus vielen Richtungen her über die geradlinigen Schnellstraßen der Vernunft und die windigen Gassen des Gemüts aufdrängt. Doch es ist mehr als ein Traum, besser: es steckt mehr in einem Traum, als sich einer je träumen lassen würde. Fiction's got nothing to do with it, würde der Medizinmann sagen, wenn er zufälligerweise gerade mal wieder mit seiner globalen Medizin im globalen Indianerdorf über die höheren Wesen, die wir ahnen, dozieren würde.

Einbildungskraft durch Dialogik: ein vorläufig gültiger, weil handfester Begriff. In ihm widerspiegelt sich das Kontinuum, dem wir uns nun wieder diskret nahen wollen, das Traum-Kontinuum zwischen den Städten, zwischen uns Menschen.

Toronto-Salzburg – was eigentlich heißen will: Toronto-Salzburg-Bukarest. Dreimal Hurra in einem Schlag. Und a bisserl Zürich nehmen wir auch in Kauf.

Doch angefangen hat's in Bayern: Vor gut hundert Jahren träumte Hugo von Hofmannsthal nämlich einmal im Hotel Vier Jahreszeiten (München), sein Haus sei zu einem Gefängnis der Französischen Revolution geworden. Ob er sich auch ein paar Szenen aus Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod erträumte, ist ungewiss. Nun gut, Träume sind Schäume, könnte man ja meinen. Aber am nächsten Tag traf Hofmannsthal dann im Englischen Garten einen Mann, der ganz so aussah wie der große Traumdeuter Sigmund Freud. Alles in Ordnung? Alles in Ordnung.

Freilich ist das nun – realistisch betrachtet – ein sehr weites Feld, nur, manchmal hat es ja was auf sich mit diesen Träumen, die da unwillkürlich-ungeniert in uns schäumen. Deswegen will ich der hochverehrten Leserschaft den im Folgenden in ein paar wenigen Zügen umrissenen bemerkenswerten Tatbestand einer totalen Traumhaftigkeit der Sinne und der Wirklichkeit, die sich dahinter versteckt, nicht länger vorenthalten.

   Im lustigen Monat Februar war's, die Tage wurden länger, da träumte mir von einem Freund, der weit weg in seiner Burg (all made of pepper and salt) die Dinge des Lebens in Angriff nimmt und – besonders während der üppigeren Mahlzeiten – oft und gerne nach den kostbaren Zutaten seiner Burg zu greifen beliebt  (now that would be salt and pepper), um nicht nur das üppige Essen, sondern auch Rhythmus und Tempo seiner inwendigen Textproduktion bei voller Wachsamkeit oder eben im sanften Halbschlaf der dichterischen Kunst vortrefflich zu würzen.

Im Haus meines Freundes gibt es viele Hemden. Ja und mir träumte eben, dass er mir ein Hemd geschenkt hatte bzw. dass er mich fragte (so ist das halt mit Träumen, manches erscheint doppeldeutig, wiewohl sinnverwandt), ob ich eins will; und dann hat er mir gesagt, so träumte mir ferner (oder war das jetzt schon die Wirklichkeit?), er sei hier in good old Toronto meinem wackeren Freund Stelică begegnet, der ja tatsächlich (Wie wird der Karl-Markus das bloß erraten haben?) seit fast zwanzig Jahren das kanadische Toronto sein Zuhause nennt. Karl-Markus wohnte übrigens in meinem Traum ebenfalls in Toronto, nur sah die Stadt seltsamerweise in jener fernen, nahen Traumwelt, in der wir uns doch selbst bei völliger Wachsamkeit oft genug wähnen, eigentlich schon fast so aus wie unser good old Bukarest – which is drüben in Europe. Auf der anderen Seite des Atlantiks. Also jedenfalls keine Spur Toronto. Und auch keine Spur Salzburg.

Na ja, wird wohl alles Teil einer alternativen Wirklichkeit sein, einer Wirklichkeit, in der mein Salzburger Freund Kanadier ist, dachte ich mir. Ein österreichisch-rumänischer Kanadier. Was nicht schlecht passen würde. Als er noch ein Kleinkind war, betrieben seine Eltern nämlich, wie er vor gar nicht so vielen Jahren beim neugierigen Herumstöbern im Dachzimmer herausfand, die Auswanderung nach Kanada. Sie schienen dabei recht entschlossen zu sein.

   Das Ziel der geplanten Reise, der sozusagen beinahe, doch bis zuletzt eben doch nicht voll und ganz Wirklichkeit gewordenen Traum-Auswanderung? Toronto am Ontariosee. Der Vater sollte bei einer deutschsprachigen Zeitung anfangen, Die Presse oder so. Und aus dem Kind wäre ein kanadischer Schriftsteller geworden. Oder ein Geschäftsmann. Import-Export Europa-Kanada. Schließlich ist die Familie dennoch in Österreich geblieben. Aber ich bin nach Kanada ausgewandert.

Sehr interessant, dachte ich mir – oder war das ein Echo des Gedankens meines beinahe, wiewohl bis zuletzt wie gesagt allerdings doch nicht mehr ausgewanderten Doppelgängers, der, so glaube ich es jetzt ziemlich genau zu wissen, meinen Traum mitträumte oder gar vor-träumte?

Und dann wusste ich bald gar nicht mehr so recht: War das nun ein Karl-Markus-Traum oder ein Traum-Karl-Markus? Im breiteren Kontext: Sind wir gerade aufgewacht oder sind wir gerade eingeschlafen? Sowas will sorgfältig und vor allem auch tiefgründig-philosophisch erwogen werden. Kein leichtes Stück.

Nimm dich zusammen!, ertönte eine freundliche Stimme in mir, die Stimme eines Freundes. Ich musste mir schnell ein paar Gedanken zu unserer Welt machen, zu unserer Wirklichkeit, zu unserer Einbildungskraft (und zu unserer Kaufkraft ja, warum auch nicht?), zu unseren Hemden, zu den Hemden, die wir uns anziehen, um als tadellose gentlemen dazustehen und nicht als trostlose Sandler. Ich musste über vieles nachdenken – und bin strenggenommen immer noch nicht damit fertig.

   But guess what? Als ich am nächsten Tag im Toronto Botanical Garten einen Mann traf, der ganz so aussah wie der große Traumdeuter Sigmund Freud (Alles in Ordnung? Alles in Ordnung!) und kurzerhand den Entschluss fasste, eine Taube nach Österreich zu schicken, um den fernen, nahen gewürz- wie sprachkundigen Freund vom Inhalt meines Traums zu unterrichten, denn im schönen Reich der Wirklichkeit (wie im schönen Reich des Traums) ist unter Umständen alles möglich, und vielleicht hatte das Ganze ja letztendlich sozusagen etwas in und an sich Kolossales zu bedeuten (oder vielleicht hatte auch er, der sprachlich begabte Freund aus dem Ostreich, von mir geträumt, wie es sich denn öfters so fügt, wenn einer ein Hemd hat und einer ein Hemd will), erhielt ich prompt folgende Antwort:

"My dear friend, was ist los mit Dir? Realitätsverlust? Gestern habe ich Dich in Toronto getroffen, nachdem ich vorher beim guten alten Stelică vorbeigeschaut hatte, und habe Dir ein Hemd von mir angeboten, das mir meine Frau gekauft hatte, das aber ein paar Nummern zu klein für mich war (die Gute sieht in mir immer noch den ranken, sportlichen Kerl von einst). Und jetzt behauptest Du, wirre Träume gehabt zu haben! Also, wirklich. Herzlich, Karl-Markus." Und am Ende kamen dann noch zwei Zeilen: "Vielleicht gehen wir mit dem Stelică mal einen heben, und, übrigens, es wären auch ein paar Sakkos im Kasten bei mir, aus denen ich herausgewachsen bin."

Ich lag erstaunt am Strand. Die Wellen des Huronsees (immerhin zwei Stunden Autobahn) plätscherten mir spielerisch ins Konzept. Ganz tief in der Tiefenpsychologie der Ahorn Mysterien befangen, kletterten meine Freunde empor aus dem Spalt der Zeit, pirschten sich ans kollektive Unbewusste heran – und weiter bis zu mir. Volle Wirklichkeit. Realistischer geht's nicht.

   Also von wegen papperlapapp, um mal kurz Fontane ins Wort zu reden, dessen Effi Briest es unvermerkt in eines meiner spärlichen Regale geschafft hat. Ens realissimum par excellance. Wenn Freud und Jung jetzt Karl-Markus und Stelică zufälligerweise über den Weg laufen würden, dachte ich mir unwillkürlich, so gäbe es allerhöchstwahrscheinlich einen epochalen Krach. Die Begegnung wäre ein Albtraum, wenn nicht gar ein Alptraum, und die allerbesten Bergsteiger psychoanalytischen Schlages würden es nicht zustande bringen, dass die abtrünnigen Jung-Leute in Zürich, wo Stelică immerhin im Laufe der Jahre öfters im schönen Monat Februar beim Schifoan gesichtet wurde (sein Sohn hat jahrelang an der ETH geforscht, da ist die ganze Familie verständlicherweise a bisserl verschweizert Gugus zusammen!), und die nicht-abtrünnigen Freud-Leute in Wien, wo Karl-Markus immerhin mal studiert hat, ganz gewaltig zerstreiten – und am Ende weiß ich dann gar nicht mehr, wer mir diesen Traum deuten darf, der in österreichisch-kanadisch gefärbter semantischer Pracht irgendwo zwischen Bukarest, Salzburg und Toronto mehr Sein anstrebt als ihm nach herkömmlichen psychoanalytischen Maßstäben zugutekommen würde.

Na ja, das Maß aller Dinge.

Und auf einmal, sozusagen mitten am Strand (denn mitten auf dem See war ich ja nicht) wurde mir alles klar. Dermaßen klar, wie es einem nur dann sein kann, wenn er so durch und durch träumt oder wenn er so durch und durch wacht – wer will das denn jetzt so genau auseinanderhalten. Mir wurde das Eine klar: Der Mann, der uns den Traum deuten kann, heißt Rudolf Steiner. Er hat sich seinerzeit über die seelische Tiefenstruktur vieler Leute hergemacht, unter seinen Opfern befand sich ein gewisser Franz.

Den verstand er voll und ganz. Prima! Nur …What about us?, war nun die kollektive Frage unseres internationalen Trios.

So buchten wir denn schnellstens unsere Fahrt (hin und zurück – bitte merken: das ist in solchen Fällen wichtig), um uns vom großen Meister zu ganz kleinen Semen zerlegen zu lassen. Die Analyse verlief leidlich. Das Urteil? Absolut zufriedenstellend. Und wir Tiefenpsychologie-Alpinisten, Karl-Markus, Stelică und Ich, erfreuen uns, so Steiner, eindeutig allerbester tiefenpsychologischer Gesundheit – sowohl in der Traumwelt als auch in der wirklichen Welt, anderweitig auch Welt der Realien genannt. Und das Hemd darf ich behalten.  Und die wundersame G'schichte von unserem Abstieg und von unserem Aufstieg wurde auch in ein paar herrlichen Vierzeilern geistig festgehalten, die ich inzwischen leider Gottes schon wieder vergessen habe.

Doch genug der Worte. Legen wir uns hin! Cause we mean business. Zeit zum Schlafengehen.

   Und jetzt, beim Aufwachen, kommt mir eins in den Sinn: Ich hab in der Tat ein paar Hemden von Stelică. Andere Klamotten freilich auch, nur, wir sind jetzt ja gerade auf Hemden zu sprechen, und dabei soll es auch bleiben. Und ich hab ein paar Worte von Karl-Markus, in die ich mich gerne einkleide, wenn's mal weit weg geht, etwa in die ferne, nahe Welt des Essays und der intrinsischen Gereimtheit von Textwelten. Das wird wohl das Substrat sein, auf dem diese hundertprozentig wahrhafte G'schichte basiert, ein Substrat, dem recht viel ontische Würde zukommt, freilich aber nicht mehr als dem Traum, der aus diesem Substrat entsprungen ist und sozusagen durch nachträgliche internationale Bewahrheitung das dichte Reich des Traumhaften verließ und sich im noch dichteren Reich der Wirklichkeit ansiedelte.

Und die Schuhe, die ich jetzt trage, hab ich von Little John. Der wohnt etwas weiter Richtung Norden, bei Leslie & Finch. "Big shoes to fill", sagte mir der Medizinmann, und klopfte mir mit dem Tomahawk (oder war das die Friedenspfeife) auf die Schulter. Okay, mein John heißt ja gar nicht John Little. Aber groß ist er schon. Und wenn man träumt, wird manche Grenze zwischen Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit tunlichst aufgehoben. Realitätsverlust ist das richtige Wort, die richtige Diagnose, eine weitgehend zutreffende Diagnose unserer Zeit. Ja, wir sind irgendwie allesamt zu Nominalisten geworden, obwohl die Einsicht nahe liegt: Universalia sunt realia. Realitätsverlust, das ist Wirklichkeitsgewinn. Dieses Wort muss ich mir merken.

Der gute Stelică aber ist der beste Tennisspieler aus Toronto. Der hat nie verloren. Ich oft.

People will try, try to define something so real!, singt die Sängerin, und wir machen uns daran, unseren Traum zu zerlegen, zu interpretieren, zu definieren, unsere Traumwelt, die inwendige Projektionsfläche unseres literarisch transzendierenden Kommunikationsprozesses zu definieren, und die Wirklichkeit dazu, die Wirklichkeit von Welten, die Wirklichkeit von Träumen, die in die Welt gesetzt werden, wenn es darum geht, Großartiges zu leisten. Singen wir mit. Kein Dichter könnte es je besser sagen.

   Now really. Was soll’s? Und warum meint Rudolf Steiner, dass mein Traum jetzt so wichtig sei? Weil es ein Traum von der Wahrheit, ein Traum vom Menschen und seiner Freiheit ist, darum, ertönt eine Stimme. Denn die Herrenmode hat uns streng geteilt. Sie, die Herrenmode, wollte nicht, dass ich das Hemd nehme. Ich aber wollte es partout nehmen. Und alles, was die Mode streng geteilt hatte, wurde wieder verbunden, als ich das Hemd anzog. In der großzügigen Geste meines Freundes, im Zauber der Traum-Geste spricht Schönheit, schmelzende Schönheit. Das Hemd schwebte auf mich zu, in einem geradezu Hegelschen Zustand des Aufgehobenseins schwebte es vom Kleiderschrank her, in dem es bis zu dem Zeitpunkt aufbewahrt worden war, wie gesagt auf mich zu, und ich hab's mir angeeignet.

Ich bin so frei, kam es aus mir hervor, kommt es noch immer aus mir hervor. Hemd und Sakko stehen mir gut. Stock und Hut stehen mir auch gut. Ein schwäbisches Schlusswort: Quod erat demonstrandum. Schiller soll's recht sein.

Und der Bach fließt immer noch in voller Erhabenheit weiter. Und das Boot geht nicht unter. Und wir rudern brav Richtung Selbstheit. Und spielen Eishockey und Tennis und essen Apfelstrudel und Mozartkugeln und sausen auf unseren schweizerisch-kanadischen Schiern österreichisch-rumänischer Art und Weise die Abgründe der Tiefenpsychologie runter, was das Zeug hält.

Und das Zeug hält. Freud, Jung und Steiner haben es uns bescheinigt. Es ist ein verwendbares Zeug. Jetzt warten Karl-Markus und Stelică aber schon mit gehobenem Glas.

Ja, ich stoße sehr gerne an. Und das Ganze nennen wir dann am besten Komparatistik.

   Stelică wollte schwitzen. Auf dem Weg zur Sweat Lodge (buchstäblich: Schwitzkammer, eine Einrichtung zur körperlichen und vor allem eben auch zur geistigen Läuterung) bei Crawford Lake schauten wir auch mal kurz beim örtlichen Medizinmann vorbei ("Unsere Medizin stammt von lokalem Ungeziefer!"), der seinerseits gerade in angemessener Badekleidung mit der gnädigen Squaw und den Kleinen von der Sweat Lodge zurückgekommen war und, vier Beutel Feuerwasser am Gürtel, auf uns wartete (Wir hatten dem guten Mann gar nicht gesagt, dass wir kommen, woher weiß er's denn bloß?, dachte ich mir, als er uns voller altkanadisch-indianischer Gastfreundschaft bedachtsam mit der Friedenspfeife, dem obligaten Feuerwasser und drei Biberfellen entgegenkam). Wir umrissen in ein paar kurzen Sätzen den Tatbestand unseres Gruppenausflugs ins schöne Reich der Tiefenpsychologie, unsere gemeinsame Frage, die dreifache Traum-Frage am Ontariosee. Seine Antwort, die Medizinmann-Antwort auf die Traum-Frage, fiel so einfach aus, dass ich sie hier leicht wiedergeben kann, ohne ins Philosophische auszurutschen, und freilich auf der anderen Seite doch dermaßen kompliziert, dass keiner von uns sie so richtig kapierte: "Die Welt ist alles, was der Fall ist, und was der Fall ist, ist die Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit ist die Realität. Euer Traum ist wahr, euer Traum ist die Wirklichkeit, eine wahrhafte Wirklichkeit. Howgh!"

"Der spinnt wohl", raunte mir Karl-Markus diskret zu, nachdem er mal ganz kurz zum Beutel griff, denn er hatte Durst und es war halt keine Schartnerbombe mehr da. "Die Wirklichkeit ist nie und nimmer die Realität. Das hab ich ja einmal in einem meiner Leitartikel im Neuen Zürcher Totem ganz klar schriftlich dokumentiert. Kann der Mann denn nicht lesen?"

Und dann tat er einen kräftigen Zug aus der Friedenspfeife. Mit sichtbarem Genuss atmete er den Rauch ein, es dauerte eine ganze Weile, und, fast könnte ich darauf schwören, in jenem einem Augenblick gab es nichts mehr auf der Welt als diese Friedenspfeife und die gewiss bedeutungsvollen Rauchwölkchen, die sich langsam zum Himmel erhoben, es gab nichts mehr auf der Welt als Karl-Markus und die Pfeife, nichts mehr als den Salzach-Krieger und seinen Tabak, wie der Dichter sagen würde, ja nicht einmal eine Trafik gab es mehr in jenem einen überdurchschnittlich lange andauernden, grenzüberschreitenden Augenblick, and I mean it, keine Trafik in the whole wide world, wir anderen warteten gespannt auf das, was er wohl noch sagen möge, doch nein, irgendwann atmete er dann einfach wieder langsam, aber sicher aus, and that was it. Schon hatte Stelică die Friedenspfeife im Mundwinkel. Dann ich. In corpore sano.

   Und wir stießen an. Cheers! Darauf kriegte jeder von uns einen nagelneuen Medizinbeutel. Und dann sagte der Medizinmann noch etwas recht Sonderliches. "Relatively speaking", sagte er. Und schon träumte der Karl-Markus den Einstein herbei. Der Einstein wollte natürlich wissen, wer wir denn alle seien (How are y'all doing today, folks? And who are y'all?).

Wir waren Kanadier. Wir waren Donauschwaben. Wir waren Österreicher. Nur, wo hatte denn Einstein eigentlich diesen südlichen Akzent her?

"Fahr' uns nach Haus', du stolzer Relativitätsmann. Wer mir san, wiss'n ma net mehr!", antworteten wir alle vier im Sprechchor (ich glaube, der Medizinmann tat es uns zuliebe, denn der war ja gar nicht so angetrunken)".

Doch Einstein hatte keinen Führerschein. "Versuchen wir's aufs Geratewohl!", schlug Stelică vor. "Vielleicht  geht's ja auch ohne. Die Chancen stehen nicht schlecht. Wenn man nämlich die Wahrscheinlichkeitslehre in Anbetracht möglicher alternativer Realitäten aus voller, aus voller… voller, voller …" (er musste innehalten, denn Karl-Markus wollte unbedingt gerade in diesem Augenblick wieder anstoßen, weswegen Stelică eine kleine Ewigkeit lang seine gewöhnliche Schlüssigkeit und Prägnanz einbüßte), "voller voller, ja prost, also aus voller …"

Doch Einstein fiel ihm unwirsch ins Wort: "Der Herrgott würfelt nicht! Eure Wahrscheinlichkeitslehre hat hier nichts verloren! Wenn eine alternative Wirklichkeit nicht der Fall ist, sollte man davon nicht sprechen", fügte er noch mit wichtiger Miene hinzu –  und verdonnerte uns zurück in die Irrealität des Faktischen, einen faden Unort ohne Träume.

"Warum Krieg?", hatte Einstein noch – beim Anblick der Kriegsbeile, die wir kürzlich ausgegraben hatten –  gefragt, bevor wir aufwachten. "Warum nicht Frieden?"  Die Kriegsbeile hatten wir dabei aber selbstverständlich ja gar nicht ausgegraben, um in den Krieg zu ziehen, sondern vielmehr aus archäologischen Gründen. Ich wollte Einstein schon erklären, was es mit diesen ausgegrabenen Kriegsbeilen – und im weitesten Sinne: mit diesen ausgegrabenen Träumen – auf sich hatte, nur, wir waren wegen des Einsteinschen Hokuspokus bereits wieder mitten drin in der tristen Irrealität des Faktischen gelandet, und good old Freud hatte Einstein eh prompt untergehakt, um ihn in aller Gemütlichkeit in Sachen Krieg und Kriegsbeil zu unterrichten.

   Hundert Kronen kostete der Spaß. Da Einstein das Geld im Moment leider nicht vorrätig hatte, flüchtete er alsdann selber mal kurz zurück in die Welt der Träume. I wish I may, I wish I might … Da ist alles kostenlos. Und die Gläubiger bleiben draußen.

"Jetzt ist der Einstein drüben. Wir nicht", brachte es der Medizinmann vortrefflich auf den Punkt.

"Spielen wir Tennis!", gab Stelică dem Gespräch eine neue, frische Wendung. "Der Mensch spielt nur da Tennis, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er Tennis spielt." Und er stellte das Radio an. Alicia Keys, New York. Empire State of Mind. "Kaiserliche Gesinnung? Passt."

Dabei wohnen wir drei, Karl-Markus, Stelică und ich, ja freilich, kaiserliche und königliche Gesinnung hin und her, gar nicht nicht in New York, sondern in North York. Das ist ein Teil von Toronto. Früher hieß Toronto nämlich York (und downtown kann man sogar Ford Old York besichtigen). Keine Meile von meinem Wohnblock entfernt, den wir in Anlehnung an die alten Behausungen der Ureinwohner der unendlichen kanadischen Wälder, in allen Wipfeln spürest du  keinen Hauch, longhouse nennen wollen, sausen aber freilich die sogenannten New York Towers total königlich und kaiserlich in die Höhe. Vier Hochhäuser. Unmittelbar an der Highway 401, der meistbefahrenen Autobahn in Nordamerika.

Würde ich aber nicht in Toronto wohnen, sondern sagen wir mal in Salzburg, etwa in der in unmittelbarer Nähe des Mönchsbergs gelegenen Reichenhaller Straße, Sie wissen schon, ja genau, man kommt da von der Altstadt her durchs Neutor hin, so würde ich natürlich eine Wohnung in der höchsten Etage eines im gutbürgerlichen Riedenburg (so heißt der Stadtteil) liegenden sanierten Altbaus beziehen (oder ich nehme halt am besten gleich mal in zwei Stockwerken Quartier, in den obersten zwei, dann bleibt mir auch noch genug Platz, die paar Bücher zu lagern; sonst muss ich sie ja alle wegschmeißen).

"Und dann kannst du dir jeden Sonntag den Tatort anschauen", redete mir Karl-Markus sozusagen ins Gewissen. "Aber bitte nicht bloß zuschauen. Echt hinschauen." Denn er hatte natürlich meine Gedanken erhascht, schon bevor ich sie überhaupt erst in meinem Kopf formulierte.

   A bisserl unheimlich, wenn man’s recht bedenkt. Ich tat noch einen tüchtigen Schluck aus dem Beutel, also klein war der nicht, der Beutel, und auch der Schluck war natürlich wie gesagt ein tüchtiger, was sonst, und schaute mir mit klarem Blick die verschiedenen Facetten der Wirklichkeit an, die in ihrer unbeständigen Verschwommenheit immerhin bisweilen ausgesprochen scharfe Umrisse aufwiesen. In seinem österreichischen Leben schaut sich Karl-Markus den Tatort an, dachte ich, im kanadischen "Gegenleben" den Flashpoint. Aber der läuft ja jetzt auch in Österreich. Was heißen will, man kann ungeniert zur gleichen Zeit voll und ganz beides sein: Österreicher und Kanadier.

"Zeit zum Tennisspielen!" Stelică hatte schnell einen Freund vom Nachbarstamm der Delaware verständigt, und los ging's! Ich bin mir jetzt im Moment mal nicht hundertprozentig sicher, wie das Spiel endete, doch eins muss ich mit Nachdruck betonen: Karl-Markus und Stelică, das sind hartgesottene Krieger. Das sind echt ritterliche Figuren. Wie aus dem Bilderbuch rausgeschnitten. Wie es in jenen Zeiten, als es noch Helden gab, gang und gäbe war. Wenn sie sich auf die Streitrosse schwingen, bricht der Asphalt unter ihnen, und zwar bis Mississauga. Das nenn' ich einen Umbruch! Oder einen Aufbruch. Aber jedenfalls keinen Bruch mit der Tradition. Wenn sie das Kriegsbeil schwingen, laufen alle Feinde davon, und wenn sie die Friedenspfeife rauchen, verdunkelt sich der Himmel ob ihrer Rauchgewalt – und danach wird er natürlich bald wieder ganz heiter. Und ganz oben kann man auf diesem heiteren Himmel gut lesen, was meine Freunde, die österreichisch-rumänischen Kraftkerle kanadischer Ausdrucksweise, mit ihren Rauchwolken so alles schreiben. Echte Recken sind das, zeitgenössische Recken, total zuverlässige Kumpel, mit denen einer getrost in den Krieg ziehen kann, wenn es denn soweit ist – und wenn wir genug Farbe zusammenkriegen, um unser Gesicht entsprechend anzumalen.

Zwei kaiserliche Kraftkerle in der kanadischen Wildnis! Kämpfe ich an ihrer Seite, so ist uns der Sieg gewiss. Und bin ich mal gerade nicht da, so kämpfen meine Freunde eben zu zweit. Und dann ist uns der Sieg ebenfalls gewiss. So einfach kann gute Kulturwissenschaft sein. Mit mir, ohne mich.

"Momentchen!", schrie Stelică ungefähr so gegen Ende des Spiels. "Meine Mutti ruft mich gerade aus der guten alten Walachei an." Wir hielten inne.  "Da, mămico", sprach er in den Hörer. Und dann weiter zu uns: "Sie hat mir einen neuen Pulli gestrickt. Echte rumänische Transhumanz-Wolle. Zum Schifoan. Den hol' ich in zwei Wochen an Ort und Stelle ab." Dann sprach er wieder in den Hörer.

   Wir durften also eine Pause einlegen. "Eins muss ich dir schon sagen", machte sich Karl-Markus gleich daran, ohne viel Aufhebens zu philosophieren, "dieses Dorf in der Rumänischen Tiefebene, von dem Stelică abstammt, Gheorghe Lazăr, hätte ja strenggenommen Palanka sein können, Du weißt schon, jenes Palanka." Ja, natürlich kennen wir Toronto-Donauschwaben allesamt beautiful Palanka, das Städtele in good old Vojvodina, und wir allesamt wissen, dass auf dem Umschlag der berüchtigten, an allen Lagerfeuern gelesenen Totems Kriegerg'schichten und Kritik öfters ein von einem gewissen Ferdinand Palanka aufgenommenes Foto zu sehen ist, von dem man gegebenenfalls annehmen könnte, dass er, der Ferdinand, eine Personifizierung jenes Ortes in der Vojvodina sei, wenn man nicht wüsste, dass Personifizierungen zwar sehr wohl im flüchtigen Reich des Märchenhaften vorkommen, aber doch nie und nimmer in unserem handfesten Reich der Wirklichkeit, wiewohl der Karl-Markus freilich manchmal zwischen zwei Friedenspfeifen, das weiß ich first-hand, wie wir Trapper in Ontario sagen, einen gewissen Onkel Palanka anruft, wenn sein total wasserdichtes donauschwäbisches Kanu stillsteht und die kanadische Nachtigall (oder meinetwegen der Loon) in donauschwäbisch-nächtlich kanadischen Tönen ihr Lied von der Unendlichkeit der weiten Wälder und der kleinen Welt, die sich hinter diesen Wäldern versteckt, für uns Menschen singt.

Und dieser Onkel Ferdi, wie ich ihn bei mir nenne, hatte auch eine Hütte, und einen Vierkanthof hatte er natürlich auch, ebenso wie Onkel Tom, der Totem-Macher. Man könnte jetzt also nicht hundertprozentig sicher sagen, dass da was falsch sei, wenn einer die Zutaten der Welt mal ein bisschen vermischt. Gheorghe Lazăr und Palanka: zwei Orte, in denen ein Teil der kanadischen Zukunft geschmiedet wurde, ja immer noch geschmiedet wird. Zwei Pole einer alteuropäischen Gesinnung, der sich im neuen Kanada eine Ausschlag gebende Wendung andichten lässt, so wie sie es – in dieser Form – sonst wohl nicht gegeben hätte. Am Ontariosee wird eben die beste Kulturgeschichte geschrieben. And that’s a fact.

"Ich würde jetzt drei Biberfelle und drei Zentner Büffelfleisch gegen einen guten Tschick tauschen! Und meine Flinte drauf!", hatte Karl-Markus eben gesagt, da er den Trading Post an der Krümmung eines kleinen Flusses sah, und schon setzte der Medizinmann eine Havanna in Brand, die er prompt in der Reihe herumgehen ließ, nachdem er natürlich den obligaten ersten Zug eingeatmet und alsdann in Form allerkleinster Rauchwolken wieder in bedachtsamer Ergriffenheit ausgeatmet hatte. Wir bliesen unsererseits den Rauch in die vier Windrichtungen und versuchten dabei mit einer gewissen unter den gegebenen Umständen angebracht dünkenden Andacht wenigstens einen Bruchteil des guten Geistes zu erhaschen, der in seiner unabdingbaren Erhabenheit, wie Häuptling Longinus einst an einem Lagerfeuer der Komparatisten sagte, zwischen den Büschen und unter den Baumkronen und über allen Gipfeln und in allen Wipfeln unserer Wolkenkratzer herumgeistert. Dichtung und Wahrheit, my friends! Denn Dichtung ist Wahrheit.

   "Also wenn ich meinen Schläger schwinge", dozierte Stelică, als er mit dem In-Andacht-Fallen fertig war, (ja, genau, er dozierte, und zwar im echten Dozenten-Ton, was bei Stelică, einem rechtschaffenen, unkomplizierten Tennis-Krieger, mit dem man in der Regel gut kann, eher selten ist), "dann saust der Ball in einer Viertelsekunde rauf in die Unendlichkeit. Schneller als ein Adler." Ich wusste, dass Stelică im vollen Ernst sprach. Um aber sicherzustellen, dass ich das jetzt nicht falsch aufgefasst hatte, fragte ich blöderweise: "Schneller als unser österreichischer Adler? Schneller als der Adler, der früher immer den Schilling in seinen Klauen festhielt?" Die Antwort kam unverzüglich: "Schneller. Cause I never lose my swing."

"Ja vielleicht nicht deinen Schwung, aber doch wohl das game", meldete sich Karl-Markus eher imperativ zum Wort. "Der Ball soll ja ins Feld fliegen, nicht in den Himmel. Handle immer so, dass der Ball … ja, du weißt schon. Häuptling Kant's thingy." Das stimmt, sagte ich mir im Stillen, da hat der Karl-Markus recht. Das ist der kategorische Tennis-Imperativ.

"Ist mir heißegal, antwortete ihm aber Stelică in seiner gelassenen Art und Weise." Na dann, sagte ich mir weiterhin im Stillen. "Man sagt nicht heißegal", meinte Karl-Markus noch, aber dem guten Stelică war offensichtlich auch das so ziemlich heißegal.

"Also wenn ich meinen Bleistift spitze, dann bin ich ganz bei Sinnen", fuhr Karl-Markus fort, "dann fang ich so richtig an mit dem Sinnieren. Und das Wort Sinnen kommt ja aus dem Althochkanadischen. Das bedeutete früher sowas wie: in See stechen. Und alles ist da – so wie es hätte sein können." Sehr tiefgründig ausgedrückt, sagte eine eher unbehagliche Stimme in mir, die ich jetzt mal vorübergehend zunächst einfach zu meinem Ich zählen will. Es mag aber ja auch das Über-Ich gewesen sein. Ich wollte was dazu sagen, sagte aber nichts mehr. Gar nichts sagte ich. Denn mir fiel nichts mehr ein. Dafür machte ich mich eifrig daran, auf geistiger Ebene festzuhalten, was sich gerade an diesem Tisch ereignet hatte. Bin strenggenommen noch immer damit beschäftigt. Natur! Natur! … Shakespeare, Karl-Markus, Stelică! …

"Der Bayview Village Tennis Club liegt direkt unter meinem Balkon", erläuterte Stelică ferner (als ob wir das nicht gewusst hätten). "Von meiner Wohnung im 10. Stock kann ich die Bahnverläufe aller Bälle ausforschen und dann am Laptop, ein Gösser in der Hand, Hopfen und Malz, Gott erhalt's, die gerade noch überschaubare Unendlichkeit des Spielfelds und die unüberschaubare Zweckmäßigkeit des Spiels an sich und für uns im Sinn, alle Infos systematisch digital erfassen." Als der Meister der Differential- und Integralrechnung, der er ist, und schon gar erst als der Computer-Guru, der er ist, kann mein Freund das wahrscheinlich tatsächlich, dachte ich mir. Nur … wozu?

"Stelică, you rock!", brachte es Karl-Markus gerade im rechten Augenblick adäquat auf den Punkt – und füllte gleich mal nach. Denn er hatte zufälligerweise noch ein paar Dutzend Fässer Gewürztraminer im Kanu vorrätig. Dazu natürlich ein paar Dutzend Fässer Rum. Für Seeleute, versteht sich. Denn Toronto liegt am See. Und am Nachmittag darf man, ja am Nachmittag sollte man. Das ist gute Essayistik. Medizinmann's orders.

   Und dann fuhren wir alle drei mal kurz raus zur Springridge Farm (liegt ja nicht so weit von Crawford Lake entfernt, wo sich die Sweat Lodge befindet), um uns als Erdbeerpflücker zu verdingen, Unsinn, nein, um a bisserl was für den Gaumen zu beschaffen. Und zum Einmachen.

Pick your own strawberries. Ein gescheites Wort. Wir blickten weit in die Zukunft. Überall Erdbeeren, wie Tacitus einst sagte. Strawberry fields forever. "Das ist indeed ein weites Feld", brachte Stelică in seiner präzisen, entschlossenen Weise zum Ausdruck, was uns in jenem Augenblick wohl allen durch den Kopf gegangen sein mochte. "Brüder, lasst uns weiter zechen, bis wir umfallen!", schlug Karl-Markus alsdann gleich mit donauschwäbischer Verbindlichkeit vor. "Und wenn wir wieder bei Sinnen sind, schreiben wir uns das Erste, was wir sehen, getreulich auf. Und machen uns ein Bild davon. Und dann zerknäueln wir den Fetzen und stecken ihn brav in den Medizinbeutel. Einen lustigen Käfer mit verpackt, sagen wir mal einen Maikäfer, Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg, dann auf alle Fälle noch etwas Weihrauch drauf und nichts wie zur Sweatlodge mit dem ganzen Zeug. Dann haben wir unsere eingemachte Vision, unser langfristig haltbares Traumbild von dieser Welt. Howgh!"

How come?

Ich hätte mir nichts Besseres einfallen lassen können. Kein Mensch hätte sich etwas Besseres einfallen lassen können. Schon jagte Karl-Markus seinem munteren Käfer nach, und wir machten's ihm gleich. Und eins steht fest, eins stand schon damals fest. In dieser unserer eingemachten dreifachen Vision steckt mehr drin als eine eingemachte dreifache Vision. Und wir wussten schon damals, ja, sofort wussten wir allesamt: Die drei Medizinbeutel werden wir nie wieder ablegen. Weil wir in der Sweatlodge geschwitzt haben. Weil wir Kanadier sind. Und weil wir – als Kanadier – genau wissen, wer wir sind.

   Hier hat was begonnen. Hier beginnt immer noch was. Hier beginnt unser Traumbild von dieser Welt. Ein haltbares Bild. Es ist eine haltbare Welt. Und wenn wir sie uns anschauen, dann haben wir eine Weltanschauung. Unsere Weltanschauung –  die aber nicht nur uns gehört. Wir haben geträumt. Wir haben gesprochen.

"Allerhand!", stieß Karl-Markus ohne sichtbaren Zusammenhang aus. "Euer Medizinmann ist wirklich ein sonderlicher Geselle. Wir hatten in Salzburg auch mal so einen komischen Medizinmann. Der hat immer ganz profundes Zeug von sich gegeben und Totem after Totem after Totem vollgekritzelt, und im Rat der Weisen sagte er seine Meinung immer so unverhohlen, dass einer schier seine Freude dran hatte. Seine Streitaxt schleuderte er mit derselben Schlagfertigkeit auf einen zu wie seine Worte, und sein Vorname war Tom und er wohnte in einer Hütte und er machte eben dort, in jener Hütte, die er von einem seiner Neffen hatte, großartige Totems. Eines seiner Totems hieß einfach Totem-Macher. Das hat er über sich selbst geschrieben. Cool. Hab ich nicht recht? Irgendwann war er dann weg. Ich glaube, er ist zum Dörfle an der Wien gezogen, aber ganz sicher sein kann ich mir da freilich nicht. Große Nummer. Lebte zuletzt als Trapper, Jäger und Cowboy auf seiner Ranch in Texas, er selber nannte sie Vierkanthof, einen Vierkanthof mit außerordentlichen Proportionen, das hab ich von der zweiten Squaw eines tapferen Kriegers der Mescalero, die meine Frau vorigen Samstag im Griensteidl getroffen hat. Die Squaw kam aus Radebeul, wo sie als Kuratorin des Indianermuseums ihre Büffelfleisch-Häppchen verdient. Meine Frau hat ihr a little something, a bisserl was von unseren eingemachten Gurken, mitgegeben. Die passen gut zum Büffelfleisch.

Also dieser Häuptling Handke (denn es handelte sich natürlich um einen Häuptling) … nein, nicht Handke, 'tschuldigung, dieser Häuptling Bernhard hatte sich einmal auf dem Kohlmarkt in Wien einen Anzug gekauft, um sich alsdann in Anerkennung der unerbittlichen Tapferkeit, mit der er immer in die Schlacht gezogen ist, wenn wieder mal zufälligerweise die Streitaxt ausgegraben wurde, ein akademisch gegerbtes Büffelfell umhängen zu lassen. Das Fell wog freilich sehr viel, und er musste es selber tragen.

Na ja, Ehrungen …

   Also dieser Häuptling Bernhard hatte sich dann wie gesagt auf dem Kohlmarkt in Wien bei Häuptling Anthony zwecks der bestmöglichen Einkleidung einen Anzug, genauer gesagt den besten Reinwollenanzug in Anthrazit angeschafft, dazu die passenden Socken, eine Krawatte und ein Hemd von Arrow, ganz fein, blau gestreift, um das Büffelfell, das ihm dann übrigens im Festsaal der Akademie der Wissenschaften in Wien von Buffalo Bill und Billy the Kid höchstpersönlich  überreicht wurde, in Empfang zu nehmen. Und als er dann schließlich wieder mit dem Büffelfell draußen war, machte er sich als Erstes auf den Weg zurück zum Kohlmarkt, um den eben gekauften Anzug, der ihn, erst jetzt, im Nachhinein, merkte er das, die ganze Zeit eingeengt hatte und folglich – ebenso wie das ganze Drum und Dran der Büffelfell-Verleihung im Festsaal der Akademie der Wissenschaften in Wien – für ihn eine Nummer zu klein war, gegen einen größeren umzutauschen."

"Mir hätte der Anzug wohl gepasst", kam es unverzüglich aus den tieferen Schichten meiner Persönlichkeit hervor. "Na ja, dir scheint ja alles zu passen", erwiderte Karl-Markus mit donauschwäbischer Knappheit. Erst dann merkten wir, dass wir alle drei recht müde waren.

Wir setzten uns auf einen Ast und verschnauften. "Hier! Nimmt schon! Zur Stärkung!", ermunterte uns Stelică. Er hatte ein Extra-Fläschchen mitgebracht, das er an seiner Brust, unmittelbar neben dem Medizinbeutel, aufbewahrte. Eine Minute später waren wir alle drei wieder ganz gut drauf und hundertprozentig marschfähig. Karl-Markus blätterte in der Zeitung. Salzburg Furniture of Toronto. "Aha! Da haben wir's ja! Das hätte ich sein können, wenn … oder da: Deutsche Presse, früher Der Österreicher. Das hätte mein Vater sein können. Yann Martell, Life of Pi. Schiffbruch mit Tiger. Klar! Das hätte ich sein können! Und da! Siehste? ESL-Teachers wanted! Das hätte ..."

Ich musste an meinen ersten Besuch bei den Donauschwaben denken. Ich war mit dem Bus von der Bathurst Street, wo ich damals wohnte, nach Scarborough gefahren, genauer gesagt down to beautiful Scarborough, zum sogenannten Donauschwaben Club. Der damalige Präsident des Clubs, Toni Baumann, empfing mich sehr freundlich, und überhaupt waren die Leute da allesamt sehr nett und, das ist ja auch nicht von ungefähr, gut aufgelegt. Ich hatte mich gerade beim Kanada Kurier anstellen lassen. Das war mein erster Auftrag. Ich schrieb einen Artikel über unsere wackeren Toronto-Donauschwaben, zu denen ich mich gleich einmal im Sinne eines gewissen begrifflichen Überziehungsrahmens mit zählte: "Weil wir Donauschwaben sind."

   Toni Baumann hatte es in der Nachkriegszeit, als niemand so recht wusste, was denn mit all den vielen sogenannten Volksdeutschen anzufangen sei, nach Kanada verschlagen. Seine Kinder und Enkelkinder waren waschechte Kanadier. Es hätte ihn aber eben unter Umständen auch etwa nach Salzburg verschlagen können, wie Karl-Markus' Familie. Ich sollte später noch oft zu der einen oder anderen Feierlichkeit unserer Donauschwaben eingeladen werden, um kulturjournalistisch zu erfassen, was das denn eigentlich sei, als Donauschwabe in Toronto aus wohlgemerkt kanadischer Perspektive das Deutschtum zu pflegen. Es ließe sich im Moment natürlich wohl kaum so genau beurteilen, inwiefern es mir gelungen ist, das Wesentliche des nordamerikanisch verklärten Donauschwabentums adäquat auf chlorfreies Zeitungspapier zu retten, doch sie, die Donauschwaben, haben's mir gedankt.

Es muss ja sozusagen nicht immer ein Schnitzel sein, aber es darf doch immer wieder mal ein leckeres Schnitzel sein.

Hut ab! Klar. Kulturjournalismus.

Und ich glaube, darin, in meinem allerersten auf kanadischem Grund und Boden verfassten Zeitungsartikel, findet sich auch die Antwort auf Karl-Markus' Frage: 'Was wäre aus mir geworden, wenn …?"

Deutschland wollte uns nicht, Kanada nahm uns auf, ungefähr so fasste es der Präsident (der Donauschwaben in Toronto) zusammen. Und jetzt sind wir a group of established Canadian citizens. Manchmal weicht das Deutsche, um dem Englischen Platz zu machen, besonders wenn jüngere Leute mit dabei sind, doch irgendwo rund um die Großen Seen und um die seltsame Behaglichkeit der kanadischen Weltanschauung ist es immer noch verankert geblieben, das Deutsche, in dem das Deutschtum steckt:

"Wir haben's geschafft. Und warum haben wir's geschafft? Weil wir Donauschwaben sind. Weil wir Deutsche sind."

A dream come true? Und wenn, dann … wessen Traum?

   Zurück nach Toronto fuhren wir nicht mehr über die Highway 401. Karl-Markus wollte das Rauschen eines Wasserfalls hören, denn zu so einer alternativen kanadischen Wirklichkeit, wie er sie sich erträumte, gehören eben auch rauere Geräusche, nicht nur das leise Säuseln des Windes. Es ging – in diesem Sinne – erst mal rüber zu Niagara Falls und dann weiter auf der Niagara Parkway bis Niagara-on-the-Lake, immer der Nase nach, ins Donauschwäbisch-Kanadische übersetzt: immer den Canyon entlang. Bei den Niagarafällen trafen wir oben, wo sich die gewaltigen Wassermassen des Lake Erie daran machen, in den Niagara River zu stürzen und ferner Richtung Lake Ontario zu eilen, die drei Indianer aus Lenaus Gedicht, die sich ursprünglich gemeinsam mit Hölderlins Empedokles in den Abgrund hatten stürzen wollen, davon jedoch nach einigem Hin und her schließlich (nicht in Lenaus erfunderen Wirklichkeit, sondern in unserer wahrhaften, das kommt: als wahrhaft empfundenen Wirklichkeit) abließen, da wir sie dazu überredeten, sich die Frage der Zweckmäßigkeit ihres Entschlusses noch mal in aller Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen.

"Ihr Bleichgesichter seid an allem schuld", meinten die drei Indianer noch, bevor sie wieder in etwa beschwichtigt zurück zu ihrem Kanu wateten. Und jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen. Denn es stimmt ja, wir Bleichgesichter haben den Indianern viel Unheil zugefügt. Immerhin hat mein Sohn Theodor, der an der University of Toronto Computerwissenschaften studiert, im Sommer beim Ministry of Aboriginal Affairs gearbeitet. Da ist wenigstens ein Teil der Schuld schon wieder weg. Jetzt wollen wir ja alles wieder gut machen. Denn alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt, um es mit dem Schwaben zu sagen, dem Dings, wie hieß er denn gleich.

Kurz, sanma wieder gut.

"Das hätten die drei Donauschwaben gewesen sein können", erkannte Karl-Markus mit seinem eindringlichen Adlerblick, nein, mit seinem Falkenauge. "Oder irgendeine andere vertriebene Völkerschaft. Gut dass wir sie gerettet haben!"

   Und ich wusste: Wenn sich schon längst nichts mehr um nichts dreht, dann dreht sich immer noch in aller Ewigkeit das großzügige Vermächtnis eines Salzburgers, eines Mönchsberg-Kraftkerls, eines Traum-Kanadiers österreichischen Schlages, der die bewegte Geschichte seiner Familie, die Vorgeschichte und all die vielen sozusagen aussterbenden Kleingeschichten, Träume, Schäume, Hoffnungen und Ideale seines Geschlechts, des Menschengeschlechts, im Blut hat und immer wieder ans Tageslicht rettet.

Ja, klar. In orbit. In orbit ultima. Ontario, Kanada.

"Liberté, égalité, fraternité!", sagten wir den drei Indianern noch, bevor wir uns auf den Weg zur Weinkostprobe machten. Denn in uns lebte der Geist der Französischen Revolution (aber ohne die Morde, also sagen wir mal: ein Halb-Geist der Französischen Revolution, die bessere Hälfte, kurz, ein guter Geist), der Geist der Aufklärung, des Humanismus. Freilich: Hätte Hugo von Hofmannsthal damals im Hotel Vier Jahreszeiten in München seinen Traum weiter geträumt, so wäre er darin bestimmt sehr bald auf Büchners Camille (in Dantons Tod) gestoßen:

"Nimmt einer ein Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff und zieht ihm Rock und Hosen an, macht ihm Hände und Füße, färbt ihm das Gesicht und läßt das Ding sich drei Akte hindurch herumquälen, bis es sich zuletzt verheiratet oder sich totschießt – ein Ideal!"

Zeitgenössisch ausgedrückt, eine Wunderformel: sich Mokassins und Lederhemd schenken lassen, Streitaxt ausgraben, Geschichte machen. Mir wurde eins klar: Wir schaffen das nur, wenn wir den Traum gemeinsam weiter träumen. Meinen Freunden wurde das auch klar. Deshalb sind wir ja gemeinsam so verdammt gute Träumer.

   Probieren geht vor Studieren, so haben es die wackeren Krieger an der Salzach wie am Ontariosee von alters her gehalten. Und die Karten zum Thomas Bernhard Shaw Festival in Niagara-on-the-Lake werden sowieso sicherheitshalber von Anfang an zusammen mit tickets for a few wine flights, die man in verschiedenen Gaststätten in der Niagara Region gegen einen anständigen Schluck einlösen kann, verkauft. Total kolossal! Nicht einmal in Schaffhausen gibt es mehr Wein. "Wollen wir es also auf eine Kostprobe ankommen lassen?", stellten Karl-Markus und Stelică tadellos synchronisiert die Rebenfrage. Und ich sagte natürlich Ja, wie hätte ich auch bloß Nein sagen können.  In der Niagara Region gibt es nämlich so viele Weinberge (und so viele vollgeladene Busse, die zum wine tasting fahren), dass einer gar nicht mehr weiß, wo er anfangen soll.

Wir schauten naturgemäß erst mal bei Konzelmann vorbei. Konzelmann war nicht zu Hause. Aber sein Goldener Meisterbrief thronte wie immer stattlich in der Halle. Mehr als fünfzig Jahre waren vergangen, seit er drüben in good old Germany, in the old country, wie unsereiner hierzulande zu sagen pflegt, seine Ausbildung zum Fassbinder und Holzexperten und Reben-Zauberer abgeschlossen hatte. Jetzt verkauft er in Ontario seinen Qualitätswein mit Prädikat. Das ist eine gute Sache. Prost!

Als es dann schon wieder langsam Zeit zum Schlafengehen wurde, lud uns Stelică, der Ur-Tennisspieler, noch zu einem späten Braunen bei Starbucks (in unserer lokalen Chapters-Buchhandlung) ein.

Ja, so einer ist unser Stelică nun mal. Wir schauten uns um, stets in Bereitschaft, ganz geistesgegenwärtig, ganz umsichtlich, immerfort auf der Hut, denn in dieser fürchterlichen kanadischen Wildnis, mittendrin im Dickicht der Städte und ganz am Rande der kanonisierten Kulturwissenschaft kann man ja nie wissen.

   Riesengroß an der Wand: die Werbung für die Bestseller: David Bergen, Carol Shields, Frances Mayes … Wo bleiben denn bloß die Donauschwaben?, musste einer da unwillkürlich denken. Wo bleiben die Deutschen? Ein Tellkamp, ein Illies – oder doch wenigstens ein Sebald. Keine Spur. Immerhin: Michael Ondaatjies The English Patient, Yann Martels Life of Pi … "Da haben wir's ja schon wieder!", schrie Karl-Markus begeistert auf. "Schiffbruch mit Tiger. Das hätte ich geschrieben, wäre ich Kanadier gewesen, wäre ich Kanadier geworden."

"Bist du ja", sagte ich. Und mir fiel ein, dass der Held in Martels Buch seinen Autor (also Yann) fragt, welche Fassung der Schiffbruchsgeschichte ihm denn besser behage: diejenige mit dem Tiger oder diejenige ohne den Tiger. Digital-philosophisch formuliert: Mit Tiger, ohne Tiger.

Die mit dem Tiger, lautete natürlich die Antwort. Dabei hatte freilich der Autor, Yann Martel, der ja möglicherweise in einer anderen Existenz, in so einem "Gegenleben", wie Karl-Markus zu sagen beliebt, ruhig hätte Österreicher sein können, wenn es sich denn so gefügt hätte, als der verschlagene lector in fabula, der er ist, längst gemerkt, dass die zwei Fassungen der Schiffbruchsg'schichte (Mit Tiger/ohne Tiger) eigentlich strenggenommen in aller augenscheinlicher Unterschiedlichkeit genauestens auf den selben Tatbestand hinauslaufen. Denn in der alternativen Wirklichkeit des Romans, in der sozusagen die großen Themen Tiger und Tigertum des allmächtigen Glaubwürdigkeits-Imperativs des Faktischen wegen den Kürzeren ziehen mussten (Klartext: kein Tiger) wurde die Rolle des Tigers ja gar nicht gestrichen, sondern einfach dem Jungen, dem Helden, dem menschlichen Helden zugewiesen, den der Tiger rettet.

Mit mir, ohne mich, sagt der Tiger, wenn ich mich nicht irre, und prägt das narrative Wesen des sprachlich wiedergegebenen Abenteuers durch eine recht philosophisch in den Raum gestellte Ambivalenz der begrifflichen Folgerichtigkeit. Dieser Tiger ist also, wie die Donauschwaben in Toronto, immer da, selbst wenn er nicht da ist. Und die Augen des Tigers, die ein gewisser von Aschenbach in Thomas Manns Tod in Venedig irgendwie exterritorial im fernen Asien funkeln sieht, sind eben diese Augen, durch die wir unsere Geschichte wahrnehmen, ob es sich nun um einen Schiffbruch, einen Aufbruch oder einen Umbruch handelt. Anders als der vom Vorübergehn der Stäbe so müd' gewordene Blick des Panthers in Rilkes Gedicht strotzt dieser Blick vor Lebenskraft, vor Bejahung. Es ist der gierig verschlingende, nach vorne gerichtete Blick des Überlebenden.

   Ich hatte mal, daran kann ich mich noch gut erinnern, mit so einem ähnlichen Blick direkt in Yann Martels Augen geforscht, um seine Welten zu sichten, die Welten seiner Bücher, von denen sich so manches in die Wirklichkeit rettet, in unsere faktisch definierte Wirklichkeit. Er sprach nämlich vor ein paar Jahren, meine Tochter Lavinia war damals noch ein Kleinkind, hier, in dieser Chapters-Buchhandlung, in der ich nun mit Karl-Markus und Stelică gemütlich bei einem Braunen saß. Ich war mit dem Kinderwagen gekommen, um für die Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien über die Veranstaltung zu berichten. Und da hatte ich halt so einen Blick, so einen Leser-Blick, einen Kundschafter-Blick. Hinter tausend kleinen Dingen eine große Welt.

So einen Blick hat unser Karl-Markus, wenn er zum Bleistift greift, um die lehrreich-unterhaltsamen Geschichten seiner Kindheit, die ihn bis ins Alter begleiten sollen, zu erfinden. Geschichte, meinte unser Fährtenleser Yann, kann man nur im Nachhinein – und das heißt eben auf imaginärer Ebene –  erleben, erkunden, empfinden.

"Allerhand! Der Mann spricht mir aus der Seele!", bekundete Karl-Markus feuertrunken, als ich ihm davon erzählte. "Sag ich doch immer, wenn ich mein Gläschen Rum am Nachmittag genieße." Und so einen Blick hat auch unser Stelică, wenn er den Schläger schwingt. So einen Blick haben ferner (spätestens seit dem Gespräch mit Karl-Markus, Stelică  und mir) unsere drei Indianer und unsere drei Donauschwaben  und – wer weiß? – vielleicht, ja vielleicht hat auch unsere Sprache, die deutsche Sprache, so einen Blick, soweit wir uns hier im fernen kanadischen Dickicht nur hinreichend bemühen.

   Mit Braunbär, ohne Braunbär. Mit Kanada, ohne Kanada. Es ist unsere Geschichte. Wir können sie gestalten, wie wir wollen. Und jetzt sind wir eben nun mal gerade in der kanadischen Wildnis – innerhalb der deutschen Sprache.

But it was just a dream. Ein Traum von unserer Sprache, ein Traum der deutschsprachigen Selbstverständlichkeit am Ontariosee. Jetzt ist er zu Ende.

Oder vielleicht dauert er ja  noch eine Weile.

Ausdrucken?

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