Um
7:30 Uhr Weckruf; von 8 bis 8:15 Koffer vor der Tür; Abfahrt um 9 Uhr. Solch
deutsche Genauigkeit hatte ich in Indien nicht erwartet. Dass die
Ankündigung um 6 Uhr erfolgte, war für unsere gesamte Reisegruppe
bestürzend. Und das nach neun Stunden Flug. Hinzu kommen noch die verdammte
Zeitverschiebung und die schleppende Abfertigung bei der Passkontrolle. Denn
in Indien wird gründlichst kontrolliert: Meine Fingerabdrücke sind nun
doppelt und dreifach in den Akten vorhanden.
Diese Hürde
überstanden, ging es nach nur anderthalb Stunden Schlaf per Bus nach Agra.
Der weltbekannte Taj Mahal, den der Großmogul Shah Jahan zum Gedenken an
seine im Jahre 1631 verstorbene große Liebe Mumtaz Mahal erbauen ließ, macht
Agra zu einer der von Touristen am meisten besuchten Städte Indiens. In den
knappen zwei Stunden auf der fast leeren Yamuna-Autobahn war vom
berüchtigten indischen Verkehr nichts zu bemerken. Bald sollten wir aber
eines Besseren belehrt werden. Denn bevor wir uns zum Taj Mahal begaben,
machten wir noch einen Abstecher zum Mittagessen. Die stark befahrene, nicht
ampelgeregelte Kreuzung, an der sich das Restaurant befand, war schon eine
Sehenswürdigkeit an sich. Minutenlang staunte unsere Reisegruppe über den
ununterbrochenen chaotischen und lärmenden Verkehr. Kleine Lastkraftwagen,
PKWs, Tuk-Tuks, Fahrradrikschas, Motorräder, Fahrräder und Busse fuhren
kreuz und quer. Dazwischen trödelte unbekümmert eine Kuh dahin. Als dann
noch ein Mann, einen mit Kuhfladen beladenen Wagen hinter sich herziehend,
mitten im Geschehen auftauchte, war die Show perfekt. So heilig die Kuh in
Indien auch sein mag, wird ihr Mist doch ganz profan verwendet: Getrocknet
dient er als Heizmaterial, wie uns anschließend der perfekt deutsch
sprechende Reiseleiter aufklärte.
Im
Allgemeinen scheint das Leben am Land im Einklang mit den Tieren zu
verlaufen: Schweine, Ziegen oder Hunde spazieren ungehindert auf Parkplätzen
zwischen den Touristenbussen, Affen laufen bei den Hauptsehenswürdigkeiten
in Agra frei herum oder entpuppen sich als ... Motorradbeifahrer. Auf
unserer Reiseroute sollten wir noch brav 'geparkte' Elefanten, bereit für
den Ritt hinauf zum atemberaubenden Fort Amber, entdecken. Vor allem aber
bieten sich auf der Landstraße Dromedare den europäischen Touristen als
Fotomotiv an. Sobald der Reiseleiter diese sichtet, mahnt er den Busfahrer,
links anzuhalten (ja, in Indien herrscht Linksverkehr). Im Nu steigt dann
die ganze Gruppe, zum Staunen der Dorfbewohner, aus dem Bus aus.
Am Straßenrand
reihen sich Friseure, Köche, in hockender Position arbeitende Matratzen-
oder Polsternäher. Gleich daneben sitzen Männer ganz gemütlich auf
Plastiksesseln und lesen Zeitung. Auffallend sind vor allem
Reifenreparatur-Werkstätten, in denen noch mit mittelalterlichen Methoden
gearbeitet wird. Alles scheint sich auf dem staubigen Gehsteig abzuspielen.
Berge von Plastikmüll liegen dicht neben reich beladenen Obst- und
Gemüsewagen. Eine für europäische Augen bizarre bunte Vielfalt. Denn
zwischen den Dörfern Rajasthans und den im klimatisierten Bus, durch eine
vom Fahrer und seinem als menschliches Navigationsgerät eingesetzten
Beifahrer getrennte Glaswand reisenden Touristen, liegen Welten.
Doch
was hat mir von den kulturellen Sehenswürdigkeiten am besten gefallen? Diese
Frage sollte mir auf dem Rückflug immer wieder gestellt werden. Außer dem
berühmten Taj Mahal in Agra und dem filigranen Palast der Winde in der
rosaroten Stadt Jaipur hat der Norden Indiens viel mehr zu bieten. So
entpuppt sich der gewaltige Stufenbrunnen von Abhaneri, dem kleinen Dorf, in
dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, als Geheimtipp. Hinter
unscheinbaren Mauern verbirgt sich ein architektonisches Meisterwerk: ein
aus 13 Ebenen bestehender, etwa 3.500 Stufen zählender Jahrhunderte alter
Brunnen, zugleich ein riesiges Wasserreservoir, das zur Bewässerung diente,
aber auch das nötige Nass für Rituale beim benachbarten Tempel bot.
Und dann gibt es
– abseits des klassischen 'Goldenen Dreiecks', bestehend aus Delhi, Agra und
Jaipur –,
noch Nawalgarh. Die etwa 270 km südwestlich von Delhi gelegene Stadt bot im
18. Jahrhundert den unternehmungsfreudigen Kaufleuten der durchziehenden
Handelskarawanen Stabilität und Sicherheit, mit dem Ergebnis, dass viele
Familien sich in Nawalgarh niederließen und große Wohn- und Geschäftshäuser
(Havelis) bauten. Dass jedes dieser wunderschön bemalten Häuser mit
dem Hakenkreuz versehen ist, ist nicht verwunderlich, steht ja die Swastika
in Indien für Glück, Erfolg, Reichtum und Ewigkeit.
Besonders
sehenswert ist das Haveli der reichen und mächtigen Kaufmannsfamilie
Podar, die in Mumbai (Bombay) zum Industriemagnaten wurde und über die Jahre
hinweg in ganz Indien den Bau von Schulen und Lehrinstituten finanzierte.
Das heute in ein Museum verwandelte, mit über 750 Fresken verzierte Gebäude
vereint alle Merkmale eines Haveli: ein zweistöckiges Bauwerk, eine
offene Plattform vor dem Eingangstor, ein Haupttor, verziert mit
Holzschnitzereien, zwei Innenhöfe und zahlreiche Wohnzimmer. Die
Hotelübernachtung in einem dieser ehemaligen Geschäftshäuser war ein
einzigartiges Erlebnis. Auf ein ungewöhnliches Türschloss deutete bereits
der Akt der Schlüsselübergabe. So war mein Zimmer – ebenso wie alle anderen
– mit einer speziellen Schließeinrichtung versehen: Eine eiserne Kette und
ein schweres Schloss sperrten die Holztür an ihrem obersten Teil zu. Nichts
für klein gewachsene Menschen.
Der bleibendste
Eindruck, den die kurze, aber intensive Rundreise bei mir hinterlassen hat,
war jedoch der Mann mit dem roten Turban und dem einen Meter langen
Schnurrbart, der den Eingang zum Suhrabi-Restaurant in Jaipur bewachte. Wenn
Sie sich nun fragen, wie lange es wohl dauert, so einen Schnurrbart wachsen
zu lassen, sei Ihnen hier die Lösung gegönnt: ganze acht Jahre. Ähnliche
Kuriositäten bieten auch die Kalbelia-Tänzerinnen. Mit ihren außergewöhnlich
gelenkigen Körpern sind sie in der Lage, mit den Augenbrauen eine Münze vom
Boden aufzuheben. Bislang habe ich sie nur auf Youtube gesehen. So stehen
mir noch spannende Erlebnisse für die nächste Indienreise bevor.