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Land der extremen Gegensätze

Alles scheint sich hier auf dem staubigen Gehsteig abzuspielen. Berge von
Plastikmüll liegen dicht neben reich beladenen Obst- und Gemüsewagen.
Motorrad fahrende
Affen treffen auf gemächlich dahintrottende Dromedare. Jahrhunderte alte Bauwerke und Dörfer,
in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, wechseln sich ab mit lärmendem Verkehr
und dem wuselnden Treiben der Märkte. Und dazwischen: Ein klimatisierter Bus und
darin eine Glaswand, die säuberlich die
Touristen von den einheimischen Fahrern
trennt. Mit einem Wort: Willkommen in Indien!

Von Irina Wolf
(17. 03. 2017)

...



Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.







(c) Irina Wolf



Linktipp

podarhavelimuseum.org

   Um 7:30 Uhr Weckruf; von 8 bis 8:15 Koffer vor der Tür; Abfahrt um 9 Uhr. Solch deutsche Genauigkeit hatte ich in Indien nicht erwartet. Dass die Ankündigung um 6 Uhr erfolgte, war für unsere gesamte Reisegruppe bestürzend. Und das nach neun Stunden Flug. Hinzu kommen noch die verdammte Zeitverschiebung und die schleppende Abfertigung bei der Passkontrolle. Denn in Indien wird gründlichst kontrolliert: Meine Fingerabdrücke sind nun doppelt und dreifach in den Akten vorhanden.

Diese Hürde überstanden, ging es nach nur anderthalb Stunden Schlaf per Bus nach Agra. Der weltbekannte Taj Mahal, den der Großmogul Shah Jahan zum Gedenken an seine im Jahre 1631 verstorbene große Liebe Mumtaz Mahal erbauen ließ, macht Agra zu einer der von Touristen am meisten besuchten Städte Indiens. In den knappen zwei Stunden auf der fast leeren Yamuna-Autobahn war vom berüchtigten indischen Verkehr nichts zu bemerken. Bald sollten wir aber eines Besseren belehrt werden. Denn bevor wir uns zum Taj Mahal begaben, machten wir noch einen Abstecher zum Mittagessen. Die stark befahrene, nicht ampelgeregelte Kreuzung, an der sich das Restaurant befand, war schon eine Sehenswürdigkeit an sich. Minutenlang staunte unsere Reisegruppe über den ununterbrochenen chaotischen und lärmenden Verkehr. Kleine Lastkraftwagen, PKWs, Tuk-Tuks, Fahrradrikschas, Motorräder, Fahrräder und Busse fuhren kreuz und quer. Dazwischen trödelte unbekümmert eine Kuh dahin. Als dann noch ein Mann, einen mit Kuhfladen beladenen Wagen hinter sich herziehend, mitten im Geschehen auftauchte, war die Show perfekt. So heilig die Kuh in Indien auch sein mag, wird ihr Mist doch ganz profan verwendet: Getrocknet dient er als Heizmaterial, wie uns anschließend der perfekt deutsch sprechende Reiseleiter aufklärte.

   Im Allgemeinen scheint das Leben am Land im Einklang mit den Tieren zu verlaufen: Schweine, Ziegen oder Hunde spazieren ungehindert auf Parkplätzen zwischen den Touristenbussen, Affen laufen bei den Hauptsehenswürdigkeiten in Agra frei herum oder entpuppen sich als ... Motorradbeifahrer. Auf unserer Reiseroute sollten wir noch brav 'geparkte' Elefanten, bereit für den Ritt hinauf zum atemberaubenden Fort Amber, entdecken. Vor allem aber bieten sich auf der Landstraße Dromedare den europäischen Touristen als Fotomotiv an. Sobald der Reiseleiter diese sichtet, mahnt er den Busfahrer, links anzuhalten (ja, in Indien herrscht Linksverkehr). Im Nu steigt dann die ganze Gruppe, zum Staunen der Dorfbewohner, aus dem Bus aus.

Am Straßenrand reihen sich Friseure, Köche, in hockender Position arbeitende Matratzen- oder Polsternäher. Gleich daneben sitzen Männer ganz gemütlich auf Plastiksesseln und lesen Zeitung. Auffallend sind vor allem Reifenreparatur-Werkstätten, in denen noch mit mittelalterlichen Methoden gearbeitet wird. Alles scheint sich auf dem staubigen Gehsteig abzuspielen. Berge von Plastikmüll liegen dicht neben reich beladenen Obst- und Gemüsewagen. Eine für europäische Augen bizarre bunte Vielfalt. Denn zwischen den Dörfern Rajasthans und den im klimatisierten Bus, durch eine vom Fahrer und seinem als menschliches Navigationsgerät eingesetzten Beifahrer getrennte Glaswand reisenden Touristen, liegen Welten.

   Doch was hat mir von den kulturellen Sehenswürdigkeiten am besten gefallen? Diese Frage sollte mir auf dem Rückflug immer wieder gestellt werden. Außer dem berühmten Taj Mahal in Agra und dem filigranen Palast der Winde in der rosaroten Stadt Jaipur hat der Norden Indiens viel mehr zu bieten. So entpuppt sich der gewaltige Stufenbrunnen von Abhaneri, dem kleinen Dorf, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, als Geheimtipp. Hinter unscheinbaren Mauern verbirgt sich ein architektonisches Meisterwerk: ein aus 13 Ebenen bestehender, etwa 3.500 Stufen zählender Jahrhunderte alter Brunnen, zugleich ein riesiges Wasserreservoir, das zur Bewässerung diente, aber auch das nötige Nass für Rituale beim benachbarten Tempel bot.

Und dann gibt es  abseits des klassischen 'Goldenen Dreiecks', bestehend aus Delhi, Agra und Jaipur , noch Nawalgarh. Die etwa 270 km südwestlich von Delhi gelegene Stadt bot im 18. Jahrhundert den unternehmungsfreudigen Kaufleuten der durchziehenden Handelskarawanen Stabilität und Sicherheit, mit dem Ergebnis, dass viele Familien sich in Nawalgarh niederließen und große Wohn- und Geschäftshäuser (Havelis) bauten. Dass jedes dieser wunderschön bemalten Häuser mit dem Hakenkreuz versehen ist, ist nicht verwunderlich, steht ja die Swastika in Indien für Glück, Erfolg, Reichtum und Ewigkeit.

   Besonders sehenswert ist das Haveli der reichen und mächtigen Kaufmannsfamilie Podar, die in Mumbai (Bombay) zum Industriemagnaten wurde und über die Jahre hinweg in ganz Indien den Bau von Schulen und Lehrinstituten finanzierte. Das heute in ein Museum verwandelte, mit über 750 Fresken verzierte Gebäude vereint alle Merkmale eines Haveli: ein zweistöckiges Bauwerk, eine offene Plattform vor dem Eingangstor, ein Haupttor, verziert mit Holzschnitzereien, zwei Innenhöfe und zahlreiche Wohnzimmer. Die Hotelübernachtung in einem dieser ehemaligen Geschäftshäuser war ein einzigartiges Erlebnis. Auf ein ungewöhnliches Türschloss deutete bereits der Akt der Schlüsselübergabe. So war mein Zimmer – ebenso wie alle anderen – mit einer speziellen Schließeinrichtung versehen: Eine eiserne Kette und ein schweres Schloss sperrten die Holztür an ihrem obersten Teil zu. Nichts für klein gewachsene Menschen.

Der bleibendste Eindruck, den die kurze, aber intensive Rundreise bei mir hinterlassen hat, war jedoch der Mann mit dem roten Turban und dem einen Meter langen Schnurrbart, der den Eingang zum Suhrabi-Restaurant in Jaipur bewachte. Wenn Sie sich nun fragen, wie lange es wohl dauert, so einen Schnurrbart wachsen zu lassen, sei Ihnen hier die Lösung gegönnt: ganze acht Jahre. Ähnliche Kuriositäten bieten auch die Kalbelia-Tänzerinnen. Mit ihren außergewöhnlich gelenkigen Körpern sind sie in der Lage, mit den Augenbrauen eine Münze vom Boden aufzuheben. Bislang habe ich sie nur auf Youtube gesehen. So stehen mir noch spannende Erlebnisse für die nächste Indienreise bevor.

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