Zwei
ihrer Inszenierungen zeigen unterschiedliche Perspektiven auf die
Auswirkungen der Auswanderung der 2000er-Jahre. Die von der
GO-WEST-Theaterplattform produzierten Rovegan und Good for Export
dokumentieren persönliche Schicksale. Als Teile einer Migrationstrilogie
wurden diese 2017 bzw. 2018 im Rahmen des Bukarester
Nationaltheaterfestivals (FNT) gezeigt (die letzte Produktion, Karte und
Gebiet nach Houellebecqs gleichnamigen Roman, ist noch in Arbeit).
Die Aufnahme von
Drăgănescus Inszenierungen im Festivalprogramm ist nicht nur ein Beweis für
die Anerkennung der Relevanz des sozialdokumentarischen Theaters, sondern
auch für die in der unabhängigen Szene eingesetzten
minimalistisch-performativen ästhetischen Mittel. Im Fokus von Rovegan
stehen die in Italien Arbeit suchenden rumänischen Mütter, die ihre Kinder
in der Obhut von Verwandten oder Nachbarn zu Hause lassen. Catinca
Drăgănescu zeichnet verantwortlich für Text und Regie. Die Textfassung
basiert auf realen Geschehnissen aus dem Kreis Vaslui (östlicher Teil
Rumäniens, Anm. d. Ü.). Für die Bühnenumsetzung wird eine aktualisierte
Version des Märchens "Die Ziege mit den drei Geißlein" verwendet (das ist
die rumänische Version von "Der Wolf und die sieben Geißlein", Anm. d. Ü.).
Good for Export kombiniert Geschichten über den
Migrations-Brain-Drain mit dem konkreten Fall des ausgewanderten und
in die Heimat zurückgekehrten Schriftstellers Alex Tocilescu (Sohn des
Regisseurs Alexandru Tocilescu). Die Eingliederung der beiden Produktionen
in das Programm des FNT ist das Ergebnis des von den freischaffenden
Künstlern auf den Mainstream der Theaterszene ausgeübten Drucks. Dadurch
schafft es die "Y-Generation", die sich seit 2010 nur in der unabhängigen
Szene künstlerisch ausdrücken konnte, mehr Sichtbarkeit zu erreichen.
Die beiden erwähnten
Produktionen sind ein Beweis dafür, dass soziale Themen und die fiktionale
Umsetzung realer Lebenserfahrungen das Rückgrat von Drăgănescus
Bühnenkreationen bilden. Durch ihre Themenauswahl übernimmt die junge
Regisseurin die Verantwortung für das Schaffen eines Theaters, das sie
"Theater des Bewusstseins" nennt. Zudem wurde bei der Auflage 2018 des
Nationaltheaterfestivals eine weitere Dokumentartheater-Produktion von
Drăgănescu gezeigt: Im Schatten des großen Plans, inszeniert beim
Kreations- und Versuchsreaktor in Klausenburg – diese wird weiter unten
besprochen. Die zeitgenössische Dramatik, die Aktualisierung von Klassikern
und die Übernahme der Rolle des Dramatikers charakterisieren die
Bühnenarbeit von Catinca Drăgănescu, all das gekoppelt mit ihrer Vision von
der Rolle des Theaters als Widerspiegelungsmedium des Verhältnisses von
Individuum und Gesellschaft.
Mit einem Studienabschluss
in Kommunikationswissenschaft (2007, "David Ogilvy"-Fakultät für
Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit) und einem weiteren Abschluss im
Jahr 2010
der Studienrichtung Regie an der Nationaluniversität für Theater und Film
Bukarest (2015 folgte die Masterarbeit, 2019 die Promotion zum Doktortitel),
ist Drăgănescu Teil der Nachfolgegeneration von dramAcum und Tanga-Project.
Es wäre jedoch verallgemeinernd, über Generationsmerkmale zu sprechen, zumal
nur einige wenige Regisseure Interesse am Experimentieren anhand der neuen
Dramatik gezeigt haben.
Eine enge Zusammenarbeit mit dem Künstlerensemble
sowie journalistische Dokumentationsmethoden sind Hauptmerkmale von
Drăgănescus Arbeit. Im ersten Jahrzehnt widmet sie sich der Suche nach einer
Sprache zur Bühnenumsetzung von Gegenwartsthemen. Sie lehnt die Rolle des
Regisseurs als Deuter des dramatischen Textes ab und befasst sich schon in
den Inszenierungen ihres Studienabschlusses mit der deutschen zeitgenössischen
Dramatik: Zeit zu lieben, Zeit zu sterben von Fritz Kater (2010) und
Feuergesicht von Marius von Mayenburg (2012) – beide preisgekrönte
Produktionen der damaligen Absolventengala.
Von Anfang an strebt Drăgănescu
die kombinierte Rolle von Regisseurin & Autorin an. 2012 ist ein gutes Jahr für die
Künstlerin. Sie gewinnt mit ihrem ersten eigenen Text Photoshop den
Wettbewerb "Auf der Suche nach einem Regisseur, auf der Suche nach einem
Dramatiker" des Nationaltheaters "Marin Sorescu" in Craiova. Es folgt ein
weiteres von Drăgănescu verfasstes Stück: dontcrybaby, von Eugen
Jebeleanu am UNATC inszeniert. Durch die Themenauswahl
(Vergangenheitserkenntnis und -verständnis, Identitätsprobleme) weisen ihre
Produktionen einen kontrollierten Aktivismus auf.
Auf Einladung des
Kreations- und Versuchsreaktors in Klausenburg bringt Drăgănescu 2018 Im
Schatten des großen Plans auf die Bühne, und vertieft damit das
Prinzip der engen Zusammenarbeit mit dem Künstlerensemble. Die Produktion
basiert auf Interviews und spiegelt eine Etappe der jüngeren
Geschichte wider, die von keinem der Ensemblemitglieder am eigenen Leib
erfahren worden ist: die
Stellung der Frau im Kommunismus. Hier muss sich die Regisseurin den Gefahren
des militanten Aktivismus im Theater entgegenstellen. Trotz der von der
Kritik gelobten Inszenierung führt die Erfahrung in Klausenburg dazu, dass
sich die Regisseurin vom expliziten sozialen Engagement auf der Bühne
abgrenzt. Darüber hinaus erklärt Catinca Drăgănescu ihre Neigung zu einem
Theater, das durch fiktive Lebensgeschichten Fragen aufwirft.
Während des kreativen
Prozesses übernimmt die Regisseurin auch die Rolle des Dramaturgen, wird
sich dabei aber auch einer gewissen Ambiguität bewusst, die mit dieser
Doppelfunktion einhergeht, insbesondere dann, wenn sie versucht,
klassische Stücke zu aktualisieren. Für die Produktion Schöne neue Welt
nach Aldous Huxley (2018, Excelsior-Theater Bukarest) zeichnet Drăgănescu
für die Dramatisierung verantwortlich. Ihr Ziel ist es, einen Text zu
schreiben, der vor allem Jugendliche anspricht. Jedes Mal, wenn sie klassische Stücke
aktualisiert, versucht Drăgănescu das Publikum zu fordern und aus der
Komfortzone herauszubewegen. Daraus ergibt sich die Radikalität von neu
zusammengesetzten Texten wie Dystopia. Shakespeare. Remix (2014, 9G
beim Nationaltheater Bukarest), Ibsen Incorporated (2015, ARPAS und
Komödientheater Bukarest), iHamlet (2016, Punctart und
Excelsior-Theater Bukarest), 3 Schwestern (2017, Punctart und "Matei
Vişniec" Stadttheater Suceava), [die] Mö@we (2018, Klassisches
Theater Arad). Mit jeder Dramatisierung kreiert Drăgănescu einen Text,
der die Epoche des Originals mit der heutigen Realität verbindet. So
versteht sich die Regisseurin-Autorin als Vermittlerin, deren Aufgabe es
ist, den klassischen Text in eine aktualisierte Sprache zu übersetzen.
Themen, Figuren, Fragmente aus dem Originaltext werden übernommen und in die
Gegenwart versetzt.
In ihrer letzten
Produktion 2019 am Andrei-Mureşanu-Theater in Sfântu Gheorghe (Der
Goldene Drache von Roland Schimmelpfennig) sorgt Drăgănescu für ein
ausgewogenes Verhältnis zwischen der Erforschung von Theaterelementen und
der Arbeit mit den Schauspielern. "Sagte ich am Anfang über mich, dass
ich eine Regisseurin mit einer konzeptuellen Handschrift bin, dann vertrete
ich jetzt die Ansicht, dass ich eine Regisseurin bin, die auf größte
Aufmerksamkeit bei der Arbeit mit den Schauspielern setzt", so
Drăgănescu über sich selbst. Diese zehnjährige Erfahrung, Regie an
staatlichen Theatern sowie in der unabhängigen Szene zu führen, habe sie
davon überzeugt, meint
Drăgănescu, dass ideale Arbeitsbedingungen nur in einer eigenen Theatergruppe zu
verwirklichen seien. Mit einer solchen könne sie nämlich langfristig szenische
experimentelle Arbeit betreiben.
Am Schluss noch ein paar Schlüsselwörter, die das
Regieprofil von Catinca Drăgănescu umschreiben: Theater des Bewusstseins,
Mitgefühl, eine hybride Sprache, Vermittlerin, Schauspieler-Performer,
Regisseurin-Autorin, Theater der Zukunft. Sie sind die Attribute einer
Künstlerin, für die die Relevanz des Theaters durch die Suche nach der
Sprache gerechtfertigt ist, die mit dem Wandel in Mensch und Gesellschaft in
Einklang steht.
Aus dem Rumänischen von Irina Wolf
(Auszug aus dem Originaltext in rumänischer Sprache,
Teil des
Sammelbandes Teatrul.ro 30-Noi nume/Theatre.ro 30 New Entries)