Vasile V.
Poenaru
bardaspoe [at]
rogers.com
geboren
1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in Toronto.

Markus Fischer:
Celan-Lektüren.
Reden, Gedichte und Über-
setzungen Paul Celans
im poetologischen und
literarhistorischen Kontext.
Frank & Timme, 2014, 208 S.
ISBN: 978-3732900336
Hunderttausend Autoren,
die unbedingt allesamt
sofort von mir gelesen
werden wollten, ich aber
wollte überhaupt nichts
lesen, ich wollte mich nur
hindurchschleichen ...
Die undergraduate
students mussten sich
den Zugang zur Bücherwelt
blutig erkämpfen und "Fort
Book", wie dieser massive
akademisch-militärische
Stützpunkt genannt wurde,
erst einmal stürmen.
Ich stieß meine scharfe
Schaufel tief in den Fuß-
boden – und kam zu Fall;
und stieß wieder – und
kam wieder zu Fall. Erst
im Keller fand ich die
nuggets.
Ich strauchelte über
einen verflixten Haufen
weggeschmissener Bücher: Celan-Lektüren, Sebald
und
kein Ende, Shake-
speares Hamlet, Lenau
(den es übrigens mal bis
hierher zu den Niagara-
fällen verschlagen hat)
und Markus Fischer, ein
Bukarester aus Stuttgart.
Das Buch war bei Seite
131 aufgeschlagen, Büch-
nerpreis, Meridian und
das ganze Drum und Dran –
Georg Büchners Lenz, ein
Mann, dem es manchmal
leid tat, dass er nicht auf
dem Kopf gehen konnte.
Die Seine floss ungetrübt
weiter, Josef Winkler
lebte weiter, spielte
weiter mit seinen Selbst-
mordgedanken, schrieb
weiter.
Fischers Exkurs ist zu ent-
nehmen, dass es keines-
wegs auf das unbeküm-
merte Wandern im Früh-
tau zu Berge ankommt,
sondern vielmehr auf das
grundlegende Moment
begrifflicher Mobilität,
der Bewegung, des Erleb-
nispotenzials innerhalb
von Textwelten.
Wo beginnt eine so
durch und durch ergie-
bige, eine anständige,
eine erlebnisreiche und
erbauliche Tour durch
die Literatur? Wo beginnt
eine schneidige Ermitt-
lung? Wo beginnt die
Lektüre? Ach ja,
im Seminar!
Jetzt, beim Durchkäm-
men der aktuellen Celan-
Lektüren, ist mir, als säße
ich in wundersamer Art
und Weise erneut in
Markus Fischers
Seminarsaal.
Wir peitschen auf das
tote Pferd der Germanistik
los, was das Zeug hält.
Professoren und Studenten
stehen in Reih und Glied
vor der laufenden Kamera
und sind sich dessen einig,
dass Celan, unser Celan,
unser Busenfreund, ein
großer Schriftsteller war.
Aus einem fernen Grab
blickt uns ein trauter
Schädel entgegen. Und
darunter ein Körper, ein
Sprachkörper.
Nietzsches Einfluss?,
fragt
der Kommissar im Leser,
im Philosophen, im Germa-
nisten – und geht a
bisserl
innerhalb der Kulturge-
schichte rum. Gut mög-
lich, doch ...
"What do you call a person
who builds stronger things
than a stonemason, a
shipbuilder or a carpen-
ter does?"
Das zentrale Moment
der Betrachtungen dürfte
notwendig auf Zugehörig-
keit und Besitz, kurz, auf
die bedeutungsproduktiv
herauskristallisierten Moda-
litäten des Possessiv-
pronomens hinauslaufen.
Shaw Festival. Eine alter-
native Wirklichkeit. Gar
nicht so fremd, wenn
man’s recht bedenkt.
Im fünften Stock, so
glaube ich es heute mit
an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit zu
wissen, saß ein Germanist
namens Markus Fischer
an einem runden Tisch
in allerbester schriftstell-
erischer Gesellschaft.
|
"What do you call a person who builds stronger things than a stonemason, a shipbuilder or a carpenter does?"
"A grave-maker. The houses that he makes last till doomsday." (Willi Shakespeare,
Hamlet)
Prolog in der Bibliothek
Als Ursache allen Übels bzw. als Anregung zu diesem in
viele Richtungen gehenden Lese-Erlebnis durfte folgender Band herhalten:
Markus Fischer. Celan-Lektüren. Reden, Gedichte und Übersetzungen Paul
Celans im poetologischen und literarhistorischen Kontext. Es ist ein
lebendiges Buch, ein Buch für die Lebendigen. It's a book for the quick, wie
unser Shakespeare sagen würde. Mehrere Menschen haben es atmen sehen. Ich
auch. Und in dem Augenblick, da sich die Celan-Lektüren jäh vor
meinen Augen auftaten (hier spricht das auktoriale Ich), war mir klar:
Dieser Abgrund hat einen starken Sog. Manche nennen sowas flow of language,
andere wiederum sprechen von Zeitvertreib, von Genuss, von Gewinn, ja von
unermesslicher Bereicherung, von Spracherwerb und Sprachverlust. Wie dem
auch sei: Da liege ich nun. Brutal niedergeschlagen. Ich: ein Stück von uns.
Allerdings hätte es unter Umständen noch schlimmer kommen können.
Manchmal
überrumpelt einen halt der Drang, zu lesen. Manchmal überrumpelt einen der
Zufall. Manchmal muss einer das Ruder wieder ins Kanu legen und die Brille
aufsetzen – ja, es ist soweit, aber nur zum Lesen. Und dabei war ich die
ganze Zeit auf der Hut gewesen! Den Bärentoter in Reichweite. Einen guten
Schluck Real Canadian Whisky zur Hand. Eine Havanna im Mundwinkel (okay,
keine Havanna im Mundwinkel, das ist in der Bibliothek nämlich verboten;
außerdem bin ich Nichtraucher). Mein letztes Buch war wie von selbst ins
Regal zurück geflogen, der Name des Autors längst vergessen. Die Lesezeit:
vorbei.
Ich hatte mir die Füße in
den virtuellen Mäandern der allergrößten kanadischen Bibliothek (Robarts
Library, University of Toronto) vertreten, die Zehen taten weh, mehr als
fünfundsiebzigtausend Kubikmeter Stahlbeton, indeed quite brutal, würde ich
mal sagen (deswegen auch der Name: Brutalismus), das Herz schlug in meinem
hundertprozentig kanadischen Brustkasten, im zunehmend wackligen Kopf
tummelten sich hunderttausend Gedanken, hunderttausend Autoren, die
unbedingt allesamt sofort von mir gelesen werden wollten, ich aber wollte
überhaupt nichts lesen, ich wollte mich nur hindurchschleichen: durch die
Weltliteratur (das wären dann also wohl Shakespeare, mein bester Freund,
Goethe, ein Mensch mit vielen Häusern, Celan, den jeder besser zu kennen
meint als seine Hosentasche, Lenau, ein Globetrotter, und … den fünften hab
ich nun leider schon wieder mal vergessen), durch die Philosophie, durch die
Literaturgeschichte, durch die Komparatistik. Hindurchschleichen, nicht
hindurchlesen.
Dieses große Haus, unsere
good old Robarts Library, sollte ursprünglich bis zum Himmel reichen. Das
war so: Ein paar auflehnende Architekten der unsanfteren Sorte hatten in den
guten Sechzigern mal Lust, einen unendlichen dreieckigen Bücher-Turm zu
bauen (für jedermann und jeden Bücherwurm – okay, nicht für jedermann,
gedacht war das Ding ja eigentlich nur für graduate students, die
Postgraduierten, die undergraduate students mussten sich den Zugang zur
Bücherwelt blutig erkämpfen und "Fort Book", wie dieser massive
akademisch-militärische Stützpunkt genannt wurde, erst einmal stürmen, drei
Kanonen wurden auch abgefeuert, weswegen dann bald der ganze Kram kurzerhand
kanonisiert wurde, was aber nicht hierher gehört, denn jetzt sind wir ja
alle Freunde), hundert Meter die Kante, noch höher als der CN-Turm, noch
geheimnisvoller als der Kirchturm in Umberto Ecos Namen der Rose,
noch noch noch ... Es sind aber nur sechzehn Geschoße draus geworden
(darunter zwei unterirdische, da hausen natürlich die Leut‘ aus dem
underground), denn nach dem achten Stock, wo die Cheng Yu Tung East Asian
Library beherbergt wurde, verstanden die Bauarbeiter auf einmal kein
Englisch mehr. Für ein paar weitere Stockwerke reichte das
Verständigungspotential gerade noch, und dann war Feierabend. Immerhin:
Robarts Library? Das ist mir ein anständiges, tüchtig gebautes, dauerhaftes,
ja ein ewiges Zuhause. Ganz und gar nicht prekär, wie der Dichter sagen
würde.
Original sei der Mensch,
edel und gerecht, hatte der Mensch gesagt, dessen Buch zuletzt in weitem
Bogen aus meiner Hand geflogen war. "You’ve got to stick it to the man!",
meinte ein anderer. In jedem Autor steckt ein Originalgenie. Also auch in
mir. Ich stieß meine scharfe Schaufel tief in den Fußboden – und kam zu
Fall; und stieß wieder – und kam wieder zu Fall. Erst im Keller fand ich die
nuggets. Nichts wie rauf zum Generalgouverneur der Bibliothek. Nuggets
vorzeigen. Auszeichnung erhalten. Brav so! Gut recherchiert. Wer in diesem
Hause fleißig schaufelt, findet auch was.
Die Einsicht meiner
Wertigkeit als schaufelnder Wissenschaftler, als akademischer Wanderer, als
Prärieläufer (ein Pferd hab ich immer noch nicht), als Ruderer, als
Spaziergänger in der Literatur hatte sich freilich kaum so richtig in den
tieferen Schichten meines noblen Bewusstseins gefestigt (Es, Ich, Über-Ich:
alles in Stellung), als ich über einen verflixten Haufen weggeschmissener
Bücher strauchelte: Celan-Lektüren (mit offenen Türen), Sebald und
kein Ende, Shakespeares Hamlet (bei der Seite mit der
Totengräberszene aufgeschlagen), Lenau (den es übrigens mal bis hierher zu
den Niagarafällen verschlagen hat), Markus Fischer, ein Bukarester aus
Stuttgart (der Fernsehturm in Stuttgart sei älter als unser good old
CN-Tower, hat er einmal – erfolglos – geltend machen wollen) … ja halt
ungefähr das, was ich so quasi-kulturwissenschaftlich veranlagter
Schlafwanderer der Bücherwelt wohl sine qua non, wie es der
Nibelungendichter sagen würde, jahrzehntelang gesucht haben mag, ohne
freilich genau zu wissen, dass ich es suchte.
"Fischer? Ist der Name
nicht gedruckt? Habe ich nicht einige literaturwissenschaftliche
Abhandlungen, eine hochgelahrte Dissertation, eine schneidige Streitschrift,
einen atemberaubenden Roman und eine Menge Zeitungsartikel gelesen, die
einem Herrn dieses Namens zugeschrieben werden? Ist dieser Herr nicht etwa
ein Schwabe, der jeweils jahrelang an der Universität Heidelberg, an der
Universität Tübingen und an der Universität Kairo wirkte und den an der
Universität Bukarest, seiner gegenwärtigen Alma Mater, seit geraumer Zeit
kein einziger Hund (außer den tollwütigen) mehr anbellt? Stand sein Wigwam
nicht vor kurzem in der Nähe von Hermannstadt – gar nicht so weit entfernt
vom Longhouse des Präsidenten? Und einen Verlag hat der Herr auch, wenn ich
mich nicht irre."
Ich glaube, ich stellte
all diese Fragen ein klein bisschen zu laut, jedenfalls blickte mich die
versammelte Leserschaft der Robarts Library achselzuckend an. "Die Thomas
Fischer Rare Books Library erreichen Sie über dieses Mezzanin, das ist
nämlich ein anderes Gebäude", belehrte mich die tunlichst verständigte
Leiterin der Royal Ontario Book Conservation Commission, drei Kommissare an
ihrer Seite und eine Peitsche in der Hand. Unser Tross marschiert gerade
hin. Wollen wir halt gemeinsam ...? Nein, danke. Nicht Thomas. Inzwischen
hatte ich das Buch aufgehoben. Markus Fischer, anno 2014: Celan-Lektüren.
Reden, Gedichte usw. Natürlich im poetologischen und
literarhistorischen Kontext. What else?
"Ja, aber belieben Sie
mich nicht darnach zu beurteilen", ertönte die Antwort aus irgendeinem
Lautsprecher, ich könnte jetzt nicht genau sagen, ob es der Autor der
Celan-Lektüren war, der da sprach, die Celan-Lektüren selbst
(aber Bücher sprechen ja nicht, right?) oder – das Buch war bei Seite 131
aufgeschlagen, Büchnerpreis, Meridian und das ganze Drum und Dran – Georg
Büchners Lenz, ein Mann, dem es manchmal leid tat, dass er nicht auf dem
Kopf gehen konnte. Na ja. Dichter.
Eines der am Boden
liegenden Bücher hatte ich ursprünglich übersehen, es handelte sich um ein
ganz, ganz neues Indianer-Ding: Winnetou, Abel und ich, Suhrkamp,
2014. Darin gedenkt der Österreicher Josef Winkler, der ja hier am schönen
Ontariosee eigentlich strenggenommen nichts verloren hat, nur, wer hat denn
hier schon was verloren, u.a. der in Paris verbrachten Zeiten. "Tag für Tag"
ging der Neunundzwanzigjährige damals, in seiner Pariser Zeit, am Ufer der
Seine entlang und suchte den Ort, an dem wohl Celan in die Fluten gegangen
sein mag. Fast wollte es ihm Winkler, der zu dem Zeitpunkt "nach der
Niederschrift mehrerer Romane die Sprache verloren hatte", später dann
freilich seinerseits den Georg-Büchner-Preis erhalten sollte und übrigens
2004
in einem Interview
das Celansche Wort vom Meister aus Deutschland sicherheitshalber mal kurz
auf Österreich überträgt, gleich tun – aber eben nur fast. Die Seine floss
ungetrübt weiter, Winkler lebte weiter, spielte weiter mit seinen
Selbstmordgedanken, schrieb weiter. Jenseits des Atlantiks stürzt der Lake
Erie (Lenau hat’s mit eigenen Augen gesehen, also sanft die Wellen gleiten,
dass der Wandrer ungestört und erstaunt die meilenweiten Katarakte rauschen
hört – drei Indianer mussten an Ort und Stelle dran glauben, wie Lenau in
einem anderen Gedicht dokumentiert, der Titel lautet, wer hätte das gedacht,
"Die drei Indianer") – weiterhin in den Lake Ontario, aus dem dann der
Sankt-Lorenz-Strom seine Wasser schöpft, die er dem lieben Atlantischen
Ozean anspeist, dem ja auch die Seine sozusagen letztendlich ihre Seele
vermacht. Sehr poetisch.
Wenn Markus Fischer "das
literarische Wander-Motiv von Lenau und Büchner bis Weißglas und Celan"
aufgreift, um zu erkennen, wo ein Text herkommt, wo er hingleitet, wie seine
Bedeutungskonstellationen weit ins Weite wandern, um schon wieder mal auch
ein bisschen Goethe mit einzuschmuggeln, der sich bekanntlich seinerseits
sehr gut aufs Wandern versteht und auf die Wanderszeit (die gibt uns Freud’)
und auf die Wanderjahre und die Wanderschuhe, in Nordamerika werden sie
übrigens Mokassins genannt, wenn Fischer also das literarische Wander-Motiv
aufgreift und Celans Worte in all ihrer hinreißenden Dynamik diesseits wie
jenseits der Abgründe, der Wasserfälle, der semantischen Gefälle zwischen
dem mehr oder weniger reellen Bezeichneten und dem mehr oder weniger
virtuellen Bezeichnenden stilvoll argumentativ erfassen will, werden
breitere Zusammenhänge sichtbar, die dem Verständnis der Celanchen
Dichterwelt gewiss dienlich sind. Sehr akademisch.
Und nicht nur dies. Vom
Wasser haben wir’s gelernt. Aber Fischers Exkurs ist zu entnehmen, dass es
hier keineswegs etwa auf das fröhliche, unbekümmerte Wandern im Frühtau zu
Berge ankommt, sondern vielmehr auf das grundlegende Moment begrifflicher
Mobilität, der Bewegung, des Erlebnispotenzials innerhalb von
Textwelten, auf den mal schönen, mal unschönen poetisch gezeitigten
Paradigmenzusammenbruch, der sich vor den Augen des Lesers, des Forschers,
des Wanderers abspielt und ihn erregt, wenn sich etwas in den tieferen
Schichten sprachlichen Seins regt. Sehr ansprechend. Sehr anspruchsvoll.
Kein Problem für einen
kanadisch geschulten Fährtenleser mit langjähriger Rauchzeichen- und
Totem-Erfahrung. Je mehr ich mich durch die sich tonnenweise anhäufende
Primär- und Sekundärliteratur schleiche, desto klarer muss ich, ja desto
klarer muss jeder erkennen: Diese Pfade führen wo hin.
Zuerst einmal gilt es
aber, Fragen loszuwerden, aus dem Kanu zu werfen, in den Raum zu stellen,
auf die Schaubühne rauf, auf den CN-Turm: Wo beginnt eine so durch und durch
ergiebige, eine anständige, eine erlebnisreiche und erbauliche Tour durch
die Literatur? Wo beginnt eine schneidige Ermittlung? Wo beginnt die
Lektüre? Ach ja, im Seminar!
Prolog im der Deutschstunde
Und zugleich ein Seitensprung zur Alchemie der Lektüren. Man schreibt das Jahr 1992. Goethe-Saal. Pitar-Moș-Straße,
Universität Bukarest. Ein Mann war aus deutschen Landen angereist, genauer
gesagt aus Schwaben, ein junger Wissenschaftler, ein Germanist mit Herz und
Verstand und voller Energie und mit dreieinhalb Kilo Kant in der
Hosentasche, ein sprachlich begabter Experte der Tintenwelt, den der
Deutsche Akademische Austauschdienst gerade mit der guten alten Walachei
belehnt hatte, einem Landstrich zwischen alteingesessener akademischer
Willkür und den neulich zunehmend intensiv wehenden Winden eines tatsächlich
gehaltvollen Gedankenaustausches im schönen Reich der Geisteswissenschaften.
Der kurzweilige rumäniendeutsche Leumund studentischer Nation erkannte im Nu
den damit bewerkstelligten Paradigmenwandel in Lehre und Forschung.
Zusammenhängend seien die Fischer-Vorlesungen, die Fischer-Lektüren, die
Fischer-Touren rund um Celan-Lektüren (und um zahlreiche andere Lektüren),
wie eine sanfte baden-württembergische Richtschnur im dichten
transkarpatischen Nebel, so wusste es das Volk. Und so mussten es auch die
oberen Zehntausend anerkennend wahrhaben – was heißen wollte: gar nicht so
schlecht.
Dies und vieles mehr
konnte man sich sagen lassen, wenn der Bukarester Studentenpöbel der
Germanistik etwa schon wieder mal auf das naturgemäß hochdifferenzierte
Unterrichtsangebot der Rumänischen Tiefebene zu sprechen kam. Selbst mit
dabei gewesen zu sein: eine Sache der Exzellenz.
Und jetzt, beim
Durchkämmen der aktuellen Celan-Lektüren, ist mir, als säße ich in
wundersamer Art und Weise erneut in Markus Fischers Seminarsaal. Büchners
Lenz ist da. Geht den zwanzigsten durchs Gebirg, so wie wir’s alle –
verblüfft, verwirrt, von jener unheimlichen Vorahnung eines gewaltigen
Spracherlebnisses erfüllt, das in jenem Seminarsaal an dem Wochentag
und zu der Stunde schon eher zur Regel geworden war – mehr als
einmal gelesen haben. Celan ist da, und stellt fest, dass sich gerade
möglicherweise jäh etwas aufgetan haben mag. Gomringer ist da, der stille
konkrete Dichter, und die ganze konkrete Poesie, ja die gesamte
deutschsprachige Poesie der Nachkriegszeit ist wieder da – wenigstens
den einen Augenblick lang, da wir sie brauchen. Und der schlaue Heidegger
ist auch da. Und das Seiende. Und das Dasein. Und das Sein. Und das Schwein.
Intermezzo zwischen zwei Zeilen
Wir sind alle da. Wir Dichter. Wir Forscher und Klonen:
wir Epigonen. Denn steckt nicht in jedem von uns ein kleiner Celan?
"Jaja!... Celan!..." brüsten sich die allerwichtigsten Worteschlächter auf
den Schlachthöfen der Literaturwissenschaft, denn gutes Deutsch ist, wenn
... nein, das ist ein ganz andere Vorlesung. Wie gesagt: hochdifferenziert.
Das war der Herr Prof. Dr. Häuptling von und ... nein, die Frau Prof. Dr.
Häuptling von ... quite hochdifferenziert, würde einer hier am Ontariosee
sagen.
Auch diese
Von-und-zu-Vorlesungsreihe taucht freilich aus dem kollektiven Unbewussten
der ehemaligen Studenten der Bukarester Germanistik auf, wenn die
Celan-Lektüren unvermittelt jene, ungleich sinnvollere, in die Gegenwart
herbeizaubern. Wir peitschen auf das tote Pferd der Germanistik los, was das
Zeug hält. Professoren und Studenten stehen in Reih und Glied vor der
laufenden Kamera und sind sich dessen einig, dass Celan, unser Celan, unser
Busenfreund, ein großer Schriftsteller war. Einer von uns. Einer, der uns
aus der Seele gesprochen hat. Einer, der’s immer noch tut. Ich und du,
Celans Kuh. Das Wandern ist des Müllers Lust.
Jeder will das tote Pferd
reiten. Germanistik is good for you. Es steht wieder auf, fäustelt mit den
Hinterhufen, wiehert, trabt ans Pult heran, wirft den Lehrer ab, er hatte
sich in den Sattel geschwungen, denn Lehrer sitzen bekanntlich sehr gerne im
Sattel, jetzt strauchelt der arme Kutschgaul, fällt um, stirbt immer wieder
aufs Neue. Der Lehrer schlägt ihn, die Fiaker vor dem Stephansdom rufen den
Heiligen Augustin an, der Heilige Augustin ruft die Bachmann an, alles hin,
alles vorbei, die Bachmann ruft den Großen Bären an. Er ist nicht zu Hause.
Nietzsche weint. Celan
schreibt. Winkler schweigt. Der Bär brummt, die Wirtschaft tut’s ihm
gleicht. Der tote Kutschgaul wiehert, wissenschaftlicher Nachwuchs wird
herumkutschiert, dankeschön, Pferdi. Jetzt wiehert er nicht mehr.
Todesschrei. Todesstille.
Aus einem fernen Grab blickt uns ein trauter Schädel entgegen. Und darunter
ein Körper, ein Sprachkörper. Wer mag‘s wohl ... also Schiller ist es ganz
bestimmt nicht, den hat unser Goethe längst in Gewahrsam genommen, in seine
Dichterwelt gestellt, auf seinen Schreibtisch, als er, Goethe, mal an einem
schönen Sonntagmorgen – nur so, zum Fitbleiben und zum Kraftkerlsein und zum
Originalgeniewerden – den Berg der Welt erklomm. Vielleicht ist es Thomas
Browne, den ein gewisser Sebald auf Seite 21 seiner Ringe des Saturn
(Fischer Taschenbuchverlag, 2007) in aller Schädelhaftigkeit exponiert, wie
der Fachmann sagt. Oder es ist einfach Yorick, König Hamlet‘s weltbekannter
Hofnarr.
Als ich bei Markus
Fischers Analysen und Verortungen von Celans Übersetzungen ins Deutsche
angelangt war, lief mir jedenfalls Herr Arghezi, ein Mann aus rumänischen
Landen, über den Weg. Ich fuhr natürlich erschrocken zusammen, denn diesen
Autor hatte ich völlig vergessen. "Da stimmt was nicht", raunte mir Arghezi
unvermittelt zu. "Temporalität. Räumlichkeit. Absolutheit. Alles a bisserl
durcheinander."
Und wie!, schrie ich
kurzentschlossen, um mir ja keine Blöße zu geben. Dann schlug ich die
Lektüren schnell bei Seite 196 auf. Da stimmt was nicht, und zwar ganz
gewaltig! Nur, was war’s denn bloß?
Aha! "Zwischen zwei
Nächten", allerletzter Vers. "În cer era tîrziu" / "Im Himmel war es spät"
(meine Übersetzung, nicht Celans Übersetzung; ja, hier meldet sich schon
wieder das auktoriale Ich).
Bei Arghezi war es also
spät. Genauer gesagt, es war (bereits) spät im Himmel, wohlgemerkt aber
nicht unbedingt zu spät. Bei Celan hingegen wird die Himmelszeit wenn
schon nicht völlig abgeschafft, so doch jedenfalls in den poetologisch
verklärten Zustand eines unbehaglichen Aufgehobenseins entrückt bzw. – noch
schlimmer – in der Vergangenheit angesiedelt. Das Ewig-Göttliche wird ja
dann gerade in seiner Ewigkeit verhängnisvoll relativiert. "Die Himmelszeit
vorbei."
Nietzsches Einfluss?,
fragt der Kommissar im Leser, im Philosophen, im Germanisten – und geht a
bisserl innerhalb der Kulturgeschichte rum. Gut möglich, doch die
Angabe können wir im Moment wohl kaum mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit machen. Und auch der Autor der Lektüren geht nicht
so weit. Er beleuchtet einfach sowohl das rumänische Original als auch die
deutsche Übersetzung mit seinem multifunktionalen akademischen Feuerzeug –
und fast will mir schon zumute werden, als handle es sich um dasselbe
Feuerzeug, mit dem ich mir meine imaginäre Havanna in den virtuellen
Mäandern der Bibliothek angesteckt hatte.
Erbaulich sei die Lektüre,
edel und gerecht. Und was gut gebaut ist, ist erbaulich. Nur, wer baut die
besten Häuser? Oder auf Englisch: "What do you call a person who builds
stronger things than a stonemason, a shipbuilder or a carpenter does?" So
stellt Shakespeares Totengräber die Preisfrage in eigener Sache. Und die
Lösung kann nicht verwundern: "A grave-maker. The houses that he makes last
till doomsday." Sehr haltbar.
Am besten, wir fragen auch
gleich mal bei Celan und Arghezi nach. Doch sagen sie nicht jäh gerade was
im Sprechchor? Und ob! Celans Stimme ist freilich lauter:
Ich stieß in meiner Kammer
die scharfe Schaufel tief.
Es war ein Wind vorm
Hause. Der Regen strömte schief.
Ich höhlt die neue Kammer
tief in der Erde aus.
Es strömt der schiefe
Regen. Es war der Wind vorm Haus.
Ich warf hinaus zum
Fenster was ich gegraben hier.
Schwarz war die Erde, blau
war der Schleier über ihr.
Das Erdreich vor dem
Fenster – wie es gewachsen ist:
Der Berg der Welt und oben
weinet Herr Jesus Christ.
Ich grub, da brach die
Schaufel. Sie stieß auf harten Stein.
Es war Gottvater selber,
sein steinernes Gebein.
So stieg ich durch die
Zeiten den gleichen Weg empor.
In meiner leeren Kammer
wars öde wie zuvor.
Da wollt ich ihn
erklimmen, den Berg, und oben sein.
Es war ein Stern am
Himmel. Die Himmelszeit vorbei.
(Tudor Arghezi, "Zwischen zwei Nächten", deutsche Übers.
von Paul Celan, zitiert nach Markus Fischer, S.196)
Erst jetzt verstand ich,
was Arghezi meinte. Es handelt sich ja keineswegs etwa um eine neue Kammer,
sondern um die Kammer, die eine Kammer, die als Vehikel der
großen Reise dient: das Grab. Würde man hier die zweckmäßige Parallele zur
Totengräberszene in Shakespeares Hamlet weiter anstrengen, so dürfte das
zentrale Moment der Betrachtungen notwendig auf Zugehörigkeit und Besitz,
kurz, auf die gerade in dieser Szene so feinfühlig-bedeutungsproduktiv
herauskristallisierten Modalitäten des Possessivpronomens hinauslaufen.
"Whose grave is this?", will der Prinz wissen. "It’s mine, sir", antwortet
der Leichenbestatter. Er ist es ja, der schaufelt. Nur, Gräber seien für die
Toten bestimmt, nicht for the quick, die Lebendigen. Wem gehört also die
Schaufel, die Kammer, das Graben, die Zeit?
Dass der Tod, eine der
ewigen, eine der absoluten Wahrheiten, in der köstlichen, auf
sprachwissenschaftlicher, ontologischer, moralphilosophischer,
poetologischer und metaphorologischer Ebene äußerst dankbaren, zwischen
Prinz Hamlet und den Totengräbern ausgetragenen Polemik des von Shakespeare
thematisierten polysemantischen Verbs to lie (liegen/lügen) so tiefgreifend
in die Begrifflichkeit des Seins an sich, in die Beschaffenheit menschlichen
Daseins dringt, hat mit der grundlegenden Dynamik menschlicher Kommunikation
und Wechselwirkung, mit Infragestellen, Bewahrheitung und Dialogik zu tun
("It’s a quick lie, soon it will gain away from me to you") – und mit der
horizontalen Lebensweise, wie Thomas Mann sagen würde, wenn … aber es
schneit ja nicht.
"Soon it will gain away
from me to you." Ich schaute mich um. Der es sagte, stieß seine scharfe
Schaufel ins Nichts und wollte, das etwas sei. Über den Ontariosee sind es
nur fünfzig Kilometer bis Niagara-on-the Lake (bitte nicht mit Niagara Falls
verwechseln, das ist eine andere Ortschaft): Shaw Festival. Eine alternative
Wirklichkeit. Gar nicht so fremd, wenn man’s recht bedenkt. Freilich braucht
einer ein gutes Boot, um sich über den See hinüber setzen zu können, anders
gesagt ein tüchtiges Vehikel zum Übersetzen.
Arghezi schaufelt also
noch tiefer als Shakespeare. Dass sein stimmungsvoll-bedeutungsreiches Grab
("groapă") in den Lektüren zur Grube verkommt, was nicht ganz falsch
ist, da "groapă" in der Tat gegebenenfalls auch Grube bedeuten kann, aber
eben auch nicht ganz richtig, wie Arghezi mir durch ein diskretes
Wimpern-Zucken zu verstehen gab, ist zwar schade, lässt sich aber wohl im
Moment kaum ändern. Ich kann zwar Arghezi angesichts des durchaus
aufschlussreichen Kontexts (Gottvater, Jesus, Relikte bzw. Gebein) schlecht
widersprechen. "Grab" hätte es, da muss ich ihm recht geben, heißen sollen;
nur, Arghezi äußerste sich nicht allzulaut dazu, und so will auch ich dazu
schweigen. Ich werde sehr lange schweigen.
In der Robarts Library
gibt es viele Kammern. Es roch nach Erde, nach Wasser, nach frischer Luft.
Ich suchte einen Halt. Celan-Lektüren, Seite 127: Die drei Indianer
aus Lenaus Gedicht, die das Zeitliche segnen mussten, weil – ja weil sie es
eben so beschlossen hatten, waren immer noch da, gegen falsches Sein
aufbegehrende Tropfen im Wasserfall der Zeit, das Ich, das Selbst, das Wir
und das Nichts in einem. Drehte man den Wasserhahn in der hauseigenen
Hexenküche an (third floor on the left), so sprühte daraus das stumme Leiden
der anderen hervor – und all die verklungenen Todesschreie, auf denen
unsere Gegenwarts-Sinfonien der Lebendigkeit aufbauen, erfüllten wieder
jedes Wesen mit Sein, jedes Wort mit Reim, jedes Mein mit einem Dein. Im
fünften Stock, so glaube ich es heute mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit zu wissen, saß ein Germanist namens Markus Fischer an
einem runden Tisch in allerbester schriftstellerischer Gesellschaft. Außer
Celan und Kafka (ja, der hatte sich auch eingeschlichen) waren mir nur ein
paar Leute bekannt. Jemand winkte mir zu. Ich möge mich an den Tisch
begeben. Die Fahrtreppe war aber kaputt, das Erklimmen der Stiege zu
umständlich. So schwebte ich hin. |
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