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Auf den Zeitbogen geritzt

Virtuelles transatlantisches Erlebnis aus dem Geiste reeller Celan-Lektüren.
 

Von Vasile V. Poenaru
(01. 06. 2016)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com

geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

 

Markus Fischer:
Celan-Lektüren.
Reden, Gedichte und Über-
setzungen Paul Celans
im poetologischen und
literarhistorischen Kontext.
Frank & Timme, 2014, 208 S.
ISBN: 978-3732900336 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hunderttausend Autoren,
die unbedingt allesamt
sofort von mir gelesen
werden wollten, ich aber
wollte überhaupt nichts
lesen, ich wollte mich nur
hindurchschleichen ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die undergraduate
students mussten sich
den Zugang zur Bücherwelt
blutig erkämpfen und "Fort
Book", wie dieser massive
akademisch-militärische
Stützpunkt genannt wurde,
erst einmal stürmen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich stieß meine scharfe
Schaufel tief in den Fuß-
boden – und kam zu Fall;
und stieß wieder – und
kam wieder zu Fall. Erst
im Keller fand ich die
nuggets.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich strauchelte über
einen verflixten Haufen
weggeschmissener Bücher: Celan-Lektüren, Sebald
und kein Ende, Shake-
speares Hamlet, Lenau
(den es übrigens mal bis
hierher zu den Niagara-
fällen verschlagen hat)
und Markus Fischer, ein
Bukarester aus Stuttgart.

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Buch war bei Seite
131 aufgeschlagen, Büch-
nerpreis, Meridian und
das ganze Drum und Dran –
Georg Büchners Lenz, ein
Mann, dem es manchmal
leid tat, dass er nicht auf
dem Kopf gehen konnte.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Seine floss ungetrübt
weiter, Josef Winkler
lebte weiter, spielte
weiter mit seinen Selbst-
mordgedanken, schrieb
weiter.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fischers Exkurs ist zu ent-
nehmen, dass es keines-
wegs auf das unbeküm-
merte Wandern im Früh-
tau zu Berge ankommt,
sondern vielmehr auf das
grundlegende Moment
begrifflicher Mobilität,
der Bewegung, des  Erleb-
nispotenzials innerhalb
von Textwelten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wo beginnt eine so
durch und durch ergie-
bige, eine anständige,
eine erlebnisreiche und
erbauliche Tour durch
die Literatur? Wo beginnt
eine schneidige Ermitt-
lung? Wo beginnt die
Lektüre? Ach ja,
im Seminar!

 

 

 

 

 

 

 

 

Jetzt, beim Durchkäm-
men der aktuellen Celan-
Lektüren
, ist mir, als säße
ich in wundersamer Art
und Weise erneut in
Markus Fischers
Seminarsaal.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir peitschen auf das
tote Pferd der Germanistik
los, was das Zeug hält.
Professoren und Studenten
stehen in Reih und Glied
vor der laufenden Kamera
und sind sich dessen einig,
dass Celan, unser Celan,
unser Busenfreund, ein
großer Schriftsteller war.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus einem fernen Grab
blickt uns ein trauter
Schädel entgegen. Und
darunter ein Körper, ein
Sprachkörper.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nietzsches Einfluss?, fragt
der Kommissar im Leser,
im Philosophen, im Germa-
nisten – und geht a bisserl
innerhalb der Kulturge-
schichte rum. Gut mög-
lich, doch ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"What do you call a person
who builds stronger things
than a stonemason, a
shipbuilder or a carpen-
ter does?"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das zentrale Moment
der Betrachtungen dürfte
notwendig auf Zugehörig-
keit und Besitz, kurz, auf
die bedeutungsproduktiv
herauskristallisierten Moda-
litäten des Possessiv-
pronomens hinauslaufen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Shaw Festival. Eine alter-
native Wirklichkeit. Gar
nicht so fremd, wenn
man’s recht bedenkt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im fünften Stock, so
glaube ich es heute mit
an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit zu
wissen, saß ein Germanist
namens Markus Fischer
an einem runden Tisch
in allerbester schriftstell-
erischer Gesellschaft.

"What do you call a person who builds stronger things than
a stonemason, a shipbuilder or a carpenter does?"

"A grave-maker. The houses that he makes last till doomsday."
(Willi Shakespeare,
Hamlet)

 

Prolog in der Bibliothek

Als Ursache allen Übels bzw. als Anregung zu diesem in viele Richtungen gehenden Lese-Erlebnis durfte folgender Band herhalten: Markus Fischer. Celan-Lektüren. Reden, Gedichte und Übersetzungen Paul Celans im poetologischen und literarhistorischen Kontext. Es ist ein lebendiges Buch, ein Buch für die Lebendigen. It's a book for the quick, wie unser Shakespeare sagen würde. Mehrere Menschen haben es atmen sehen. Ich auch. Und in dem Augenblick, da sich die Celan-Lektüren jäh vor meinen Augen auftaten (hier spricht das auktoriale Ich), war mir klar: Dieser Abgrund hat einen starken Sog. Manche nennen sowas flow of language, andere wiederum sprechen von Zeitvertreib, von Genuss, von Gewinn, ja von unermesslicher Bereicherung, von Spracherwerb und Sprachverlust. Wie dem auch sei: Da liege ich nun. Brutal niedergeschlagen. Ich: ein Stück von uns. Allerdings hätte es unter Umständen noch schlimmer kommen können.


   Manchmal überrumpelt einen halt der Drang, zu lesen. Manchmal überrumpelt einen der Zufall. Manchmal muss einer das Ruder wieder ins Kanu legen und die Brille aufsetzen – ja, es ist soweit, aber nur zum Lesen. Und dabei war ich die ganze Zeit auf der Hut gewesen! Den Bärentoter in Reichweite. Einen guten Schluck Real Canadian Whisky zur Hand. Eine Havanna im Mundwinkel (okay, keine Havanna im Mundwinkel, das ist in der Bibliothek nämlich verboten; außerdem bin ich Nichtraucher). Mein letztes Buch war wie von selbst ins Regal zurück geflogen, der Name des Autors längst vergessen. Die Lesezeit: vorbei.

Ich hatte mir die Füße in den virtuellen Mäandern der allergrößten kanadischen Bibliothek (Robarts Library, University of Toronto) vertreten, die Zehen taten weh, mehr als fünfundsiebzigtausend Kubikmeter Stahlbeton, indeed quite brutal, würde ich mal sagen (deswegen auch der Name: Brutalismus), das Herz schlug in meinem hundertprozentig kanadischen Brustkasten, im zunehmend wackligen Kopf tummelten sich hunderttausend Gedanken, hunderttausend Autoren, die unbedingt allesamt sofort von mir gelesen werden wollten, ich aber wollte überhaupt nichts lesen, ich wollte mich nur hindurchschleichen: durch die Weltliteratur (das wären dann also wohl Shakespeare, mein bester Freund, Goethe, ein Mensch mit vielen Häusern, Celan, den jeder besser zu kennen meint als seine Hosentasche, Lenau, ein Globetrotter, und … den fünften hab ich nun leider schon wieder mal vergessen), durch die Philosophie, durch die Literaturgeschichte, durch die Komparatistik. Hindurchschleichen, nicht hindurchlesen.

   Dieses große Haus, unsere good old Robarts Library, sollte ursprünglich bis zum Himmel reichen. Das war so: Ein paar auflehnende Architekten der unsanfteren Sorte hatten in den guten Sechzigern mal Lust, einen unendlichen dreieckigen Bücher-Turm zu bauen (für jedermann und jeden Bücherwurm – okay, nicht für jedermann, gedacht war das Ding ja eigentlich nur für graduate students, die Postgraduierten, die undergraduate students mussten sich den Zugang zur Bücherwelt blutig erkämpfen und "Fort Book", wie dieser massive akademisch-militärische Stützpunkt genannt wurde, erst einmal stürmen, drei Kanonen wurden auch abgefeuert, weswegen dann bald der ganze Kram kurzerhand kanonisiert wurde, was aber nicht hierher gehört, denn jetzt sind wir ja alle Freunde), hundert Meter die Kante, noch höher als der CN-Turm, noch geheimnisvoller als der Kirchturm in Umberto Ecos Namen der Rose, noch noch noch ... Es sind aber nur sechzehn Geschoße draus geworden (darunter zwei unterirdische, da hausen natürlich die Leut‘ aus dem underground), denn nach dem achten Stock, wo die Cheng Yu Tung East Asian Library beherbergt wurde, verstanden die Bauarbeiter auf einmal kein Englisch mehr. Für ein paar weitere Stockwerke reichte das Verständigungspotential gerade noch, und dann war Feierabend. Immerhin: Robarts Library? Das ist mir ein anständiges, tüchtig gebautes, dauerhaftes, ja ein ewiges Zuhause. Ganz und gar nicht prekär, wie der Dichter sagen würde.

Original sei der Mensch, edel und gerecht, hatte der Mensch gesagt, dessen Buch zuletzt in weitem Bogen aus meiner Hand geflogen war. "You’ve got to stick it to the man!", meinte ein anderer. In jedem Autor steckt ein Originalgenie. Also auch in mir. Ich stieß meine scharfe Schaufel tief in den Fußboden – und kam zu Fall; und stieß wieder – und kam wieder zu Fall. Erst im Keller fand ich die nuggets. Nichts wie rauf zum Generalgouverneur der Bibliothek. Nuggets vorzeigen. Auszeichnung erhalten. Brav so! Gut recherchiert. Wer in diesem Hause fleißig schaufelt, findet auch was.

   Die Einsicht meiner Wertigkeit als schaufelnder Wissenschaftler, als akademischer Wanderer, als Prärieläufer (ein Pferd hab ich immer noch nicht), als Ruderer, als Spaziergänger in der Literatur hatte sich freilich kaum so richtig in den tieferen Schichten meines noblen Bewusstseins gefestigt (Es, Ich, Über-Ich: alles in Stellung), als ich über einen verflixten Haufen weggeschmissener Bücher strauchelte: Celan-Lektüren (mit offenen Türen), Sebald und kein Ende, Shakespeares Hamlet (bei der Seite mit der Totengräberszene aufgeschlagen), Lenau (den es übrigens mal bis hierher zu den Niagarafällen verschlagen hat), Markus Fischer, ein Bukarester aus Stuttgart (der Fernsehturm in Stuttgart sei älter als unser good old CN-Tower, hat er einmal – erfolglos – geltend machen wollen) … ja halt ungefähr das, was ich so quasi-kulturwissenschaftlich veranlagter Schlafwanderer der Bücherwelt wohl sine qua non, wie es der Nibelungendichter sagen würde, jahrzehntelang gesucht haben mag, ohne freilich genau zu wissen, dass ich es suchte.

"Fischer? Ist der Name nicht gedruckt? Habe ich nicht einige literaturwissenschaftliche Abhandlungen, eine hochgelahrte Dissertation, eine schneidige Streitschrift, einen atemberaubenden Roman und eine Menge Zeitungsartikel gelesen, die einem Herrn dieses Namens zugeschrieben werden? Ist dieser Herr nicht etwa ein Schwabe, der jeweils jahrelang an der Universität Heidelberg, an der Universität Tübingen und an der Universität Kairo wirkte und den an der Universität Bukarest, seiner gegenwärtigen Alma Mater, seit geraumer Zeit kein einziger Hund (außer den tollwütigen) mehr anbellt? Stand sein Wigwam nicht vor kurzem in der Nähe von Hermannstadt – gar nicht so weit entfernt vom Longhouse des Präsidenten? Und einen Verlag hat der Herr auch, wenn ich mich nicht irre."

   Ich glaube, ich stellte all diese Fragen ein klein bisschen zu laut, jedenfalls blickte mich die versammelte Leserschaft der Robarts Library achselzuckend an. "Die Thomas Fischer Rare Books Library erreichen Sie über dieses Mezzanin, das ist nämlich ein anderes Gebäude", belehrte mich die tunlichst verständigte Leiterin der Royal Ontario Book Conservation Commission, drei Kommissare an ihrer Seite und eine Peitsche in der Hand. Unser Tross marschiert gerade hin. Wollen wir halt gemeinsam ...? Nein, danke. Nicht Thomas. Inzwischen hatte ich das Buch aufgehoben. Markus Fischer, anno 2014: Celan-Lektüren. Reden, Gedichte usw. Natürlich im poetologischen und literarhistorischen Kontext. What else?

"Ja, aber belieben Sie mich nicht darnach zu beurteilen", ertönte die Antwort aus irgendeinem Lautsprecher, ich könnte jetzt nicht genau sagen, ob es der Autor der Celan-Lektüren war, der da sprach, die Celan-Lektüren selbst (aber Bücher sprechen ja nicht, right?) oder – das Buch war bei Seite 131 aufgeschlagen, Büchnerpreis, Meridian und das ganze Drum und Dran – Georg Büchners Lenz, ein Mann, dem es manchmal leid tat, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte. Na ja. Dichter.

   Eines der am Boden liegenden Bücher hatte ich ursprünglich übersehen, es handelte sich um ein ganz, ganz neues Indianer-Ding: Winnetou, Abel und ich, Suhrkamp, 2014. Darin gedenkt der Österreicher Josef Winkler, der ja hier am schönen Ontariosee eigentlich strenggenommen nichts verloren hat, nur, wer hat denn hier schon was verloren, u.a. der in Paris verbrachten Zeiten. "Tag für Tag" ging der Neunundzwanzigjährige damals, in seiner Pariser Zeit, am Ufer der Seine entlang und suchte den Ort, an dem wohl Celan in die Fluten gegangen sein mag. Fast wollte es ihm Winkler, der zu dem Zeitpunkt "nach der Niederschrift mehrerer Romane die Sprache verloren hatte", später dann freilich seinerseits den Georg-Büchner-Preis erhalten sollte und übrigens 2004 in einem Interview das Celansche Wort vom Meister aus Deutschland sicherheitshalber mal kurz auf Österreich überträgt, gleich tun – aber eben nur fast. Die Seine floss ungetrübt weiter, Winkler lebte weiter, spielte weiter mit seinen Selbstmordgedanken, schrieb weiter. Jenseits des Atlantiks stürzt der Lake Erie (Lenau hat’s mit eigenen Augen gesehen, also sanft die Wellen gleiten, dass der Wandrer ungestört und erstaunt die meilenweiten Katarakte rauschen hört – drei Indianer mussten an Ort und Stelle dran glauben, wie Lenau in einem anderen Gedicht dokumentiert, der Titel lautet, wer hätte das gedacht, "Die drei Indianer") – weiterhin in den Lake Ontario, aus dem dann der Sankt-Lorenz-Strom seine Wasser schöpft, die er dem lieben Atlantischen Ozean anspeist, dem ja auch die Seine sozusagen letztendlich ihre Seele vermacht. Sehr poetisch.

Wenn Markus Fischer "das literarische Wander-Motiv von Lenau und Büchner bis Weißglas und Celan" aufgreift, um zu erkennen, wo ein Text herkommt, wo er hingleitet, wie seine Bedeutungskonstellationen weit ins Weite wandern, um schon wieder mal auch ein bisschen Goethe mit einzuschmuggeln, der sich bekanntlich seinerseits sehr gut aufs Wandern versteht und auf die Wanderszeit (die gibt uns Freud’) und auf die Wanderjahre und die Wanderschuhe, in Nordamerika werden sie übrigens Mokassins genannt, wenn Fischer also das literarische Wander-Motiv aufgreift und Celans Worte in all ihrer hinreißenden Dynamik diesseits wie jenseits der Abgründe, der Wasserfälle, der semantischen Gefälle zwischen dem mehr oder weniger reellen Bezeichneten und dem mehr oder weniger virtuellen Bezeichnenden stilvoll argumentativ erfassen will, werden breitere Zusammenhänge sichtbar, die dem Verständnis der Celanchen Dichterwelt gewiss dienlich sind. Sehr akademisch.

   Und nicht nur dies. Vom Wasser haben wir’s gelernt. Aber Fischers Exkurs ist zu entnehmen, dass es hier keineswegs etwa auf das fröhliche, unbekümmerte Wandern im Frühtau zu Berge ankommt, sondern vielmehr auf das grundlegende Moment begrifflicher Mobilität, der Bewegung, des  Erlebnispotenzials innerhalb von Textwelten, auf den mal schönen, mal unschönen poetisch gezeitigten Paradigmenzusammenbruch, der sich vor den Augen des Lesers, des Forschers, des Wanderers abspielt und ihn erregt, wenn sich etwas in den tieferen Schichten sprachlichen Seins regt. Sehr ansprechend. Sehr anspruchsvoll.

Kein Problem für einen kanadisch geschulten Fährtenleser mit langjähriger Rauchzeichen- und Totem-Erfahrung. Je mehr ich mich durch die sich tonnenweise anhäufende Primär- und Sekundärliteratur schleiche, desto klarer muss ich, ja desto klarer muss jeder erkennen: Diese Pfade führen wo hin.

Zuerst einmal gilt es aber, Fragen loszuwerden, aus dem Kanu zu werfen, in den Raum zu stellen, auf die Schaubühne rauf, auf den CN-Turm: Wo beginnt eine so durch und durch ergiebige, eine anständige, eine erlebnisreiche und erbauliche Tour durch die Literatur? Wo beginnt eine schneidige Ermittlung? Wo beginnt die Lektüre? Ach ja, im Seminar!

Prolog im der Deutschstunde

Und zugleich ein Seitensprung zur Alchemie der Lektüren. Man schreibt das Jahr 1992. Goethe-Saal. Pitar-Moș-Straße, Universität Bukarest. Ein Mann war aus deutschen Landen angereist, genauer gesagt aus Schwaben,  ein junger Wissenschaftler, ein Germanist mit Herz und Verstand und voller Energie und mit dreieinhalb Kilo Kant in der Hosentasche, ein sprachlich begabter Experte der Tintenwelt, den der Deutsche Akademische Austauschdienst gerade mit der guten alten Walachei belehnt hatte, einem Landstrich zwischen alteingesessener akademischer Willkür und den neulich zunehmend intensiv wehenden Winden eines tatsächlich gehaltvollen Gedankenaustausches im schönen Reich der Geisteswissenschaften. Der kurzweilige rumäniendeutsche Leumund studentischer Nation erkannte im Nu den damit bewerkstelligten Paradigmenwandel in Lehre und Forschung. Zusammenhängend seien die Fischer-Vorlesungen, die Fischer-Lektüren, die Fischer-Touren rund um Celan-Lektüren (und um zahlreiche andere Lektüren), wie eine sanfte baden-württembergische Richtschnur im dichten transkarpatischen Nebel, so wusste es das Volk. Und so mussten es auch die oberen Zehntausend anerkennend wahrhaben – was heißen wollte: gar nicht so schlecht.

   Dies und vieles mehr konnte man sich sagen lassen, wenn der Bukarester Studentenpöbel der Germanistik etwa schon wieder mal auf das naturgemäß hochdifferenzierte Unterrichtsangebot der Rumänischen Tiefebene zu sprechen kam. Selbst mit dabei gewesen zu sein: eine Sache der Exzellenz.

Und jetzt, beim Durchkämmen der aktuellen Celan-Lektüren, ist mir, als säße ich in wundersamer Art und Weise erneut in Markus Fischers Seminarsaal. Büchners Lenz ist da. Geht den zwanzigsten durchs Gebirg, so wie wir’s alle – verblüfft, verwirrt, von jener unheimlichen Vorahnung eines gewaltigen Spracherlebnisses erfüllt, das in jenem Seminarsaal an dem Wochentag und zu der Stunde schon eher zur Regel geworden war –  mehr als einmal gelesen haben. Celan ist da, und stellt fest, dass sich gerade möglicherweise jäh etwas aufgetan haben mag. Gomringer ist da, der stille konkrete Dichter, und die ganze konkrete Poesie, ja die gesamte deutschsprachige Poesie der Nachkriegszeit ist wieder da –  wenigstens den einen Augenblick lang, da wir sie brauchen. Und der schlaue Heidegger ist auch da. Und das Seiende. Und das Dasein. Und das Sein. Und das Schwein.

Intermezzo zwischen zwei Zeilen

Wir sind alle da. Wir Dichter. Wir Forscher und Klonen: wir Epigonen. Denn steckt nicht in jedem von uns ein kleiner Celan? "Jaja!... Celan!..." brüsten sich die allerwichtigsten Worteschlächter auf den Schlachthöfen der Literaturwissenschaft, denn gutes Deutsch ist, wenn ... nein, das ist ein ganz andere Vorlesung. Wie gesagt: hochdifferenziert. Das war der Herr Prof. Dr. Häuptling von und ... nein, die Frau Prof. Dr. Häuptling von ... quite hochdifferenziert, würde einer hier am Ontariosee sagen.

   Auch diese Von-und-zu-Vorlesungsreihe taucht freilich aus dem kollektiven Unbewussten  der ehemaligen Studenten der Bukarester Germanistik auf, wenn die Celan-Lektüren unvermittelt jene, ungleich sinnvollere, in die Gegenwart herbeizaubern. Wir peitschen auf das tote Pferd der Germanistik los, was das Zeug hält. Professoren und Studenten stehen in Reih und Glied vor der laufenden Kamera und sind sich dessen einig, dass Celan, unser Celan, unser Busenfreund, ein großer Schriftsteller war. Einer von uns. Einer, der uns aus der Seele gesprochen hat. Einer, der’s immer noch tut. Ich und du, Celans Kuh. Das Wandern ist des Müllers Lust.

Jeder will das tote Pferd reiten. Germanistik is good for you. Es steht wieder auf, fäustelt mit den Hinterhufen, wiehert, trabt ans Pult heran, wirft den Lehrer ab, er hatte sich in den Sattel geschwungen, denn Lehrer sitzen bekanntlich sehr gerne im Sattel, jetzt strauchelt der arme Kutschgaul, fällt um, stirbt immer wieder  aufs Neue. Der Lehrer schlägt ihn, die Fiaker vor dem Stephansdom rufen den Heiligen Augustin an, der Heilige Augustin ruft die Bachmann an, alles hin, alles vorbei, die Bachmann ruft den Großen Bären an. Er ist nicht zu Hause.

Nietzsche weint. Celan schreibt. Winkler schweigt. Der Bär brummt, die Wirtschaft tut’s ihm gleicht. Der tote Kutschgaul wiehert, wissenschaftlicher Nachwuchs wird herumkutschiert, dankeschön, Pferdi. Jetzt wiehert er nicht mehr.

   Todesschrei. Todesstille. Aus einem fernen Grab blickt uns ein trauter Schädel entgegen. Und darunter ein Körper, ein Sprachkörper. Wer mag‘s wohl ... also Schiller ist es ganz bestimmt nicht, den hat unser Goethe längst in Gewahrsam genommen, in seine Dichterwelt gestellt, auf seinen Schreibtisch, als er, Goethe, mal an einem schönen Sonntagmorgen – nur so, zum Fitbleiben und zum Kraftkerlsein und zum Originalgeniewerden – den Berg der Welt erklomm. Vielleicht ist es Thomas Browne, den ein gewisser Sebald auf Seite 21 seiner Ringe des Saturn (Fischer Taschenbuchverlag, 2007) in aller Schädelhaftigkeit exponiert, wie der Fachmann sagt. Oder es ist einfach Yorick, König Hamlet‘s weltbekannter Hofnarr.

Als ich bei Markus Fischers Analysen und Verortungen von Celans Übersetzungen ins Deutsche angelangt war, lief mir jedenfalls Herr Arghezi, ein Mann aus rumänischen Landen, über den Weg. Ich fuhr natürlich erschrocken zusammen, denn diesen Autor hatte ich völlig vergessen. "Da stimmt was nicht", raunte mir Arghezi unvermittelt zu. "Temporalität. Räumlichkeit. Absolutheit. Alles a bisserl durcheinander."

Und wie!, schrie ich kurzentschlossen, um mir ja keine Blöße zu geben. Dann schlug ich die Lektüren schnell bei Seite 196 auf. Da stimmt was nicht, und zwar ganz gewaltig! Nur, was war’s denn bloß?

Aha! "Zwischen zwei Nächten", allerletzter Vers. "În cer era tîrziu" / "Im Himmel war es spät" (meine Übersetzung, nicht Celans Übersetzung; ja, hier meldet sich schon wieder das auktoriale Ich).

   Bei Arghezi war es also spät. Genauer gesagt, es war (bereits) spät im Himmel, wohlgemerkt aber nicht unbedingt zu spät. Bei Celan hingegen wird die Himmelszeit wenn schon nicht völlig abgeschafft, so doch jedenfalls in den poetologisch verklärten Zustand eines unbehaglichen Aufgehobenseins entrückt bzw. – noch schlimmer – in der Vergangenheit angesiedelt. Das Ewig-Göttliche wird ja dann gerade in seiner Ewigkeit verhängnisvoll relativiert. "Die Himmelszeit vorbei."

Nietzsches Einfluss?, fragt der Kommissar im Leser, im Philosophen, im Germanisten – und geht a bisserl innerhalb der Kulturgeschichte rum. Gut möglich, doch die Angabe können wir im Moment wohl kaum mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit machen. Und auch der Autor der Lektüren geht nicht so weit. Er beleuchtet einfach sowohl das rumänische Original als auch die deutsche Übersetzung mit seinem multifunktionalen akademischen Feuerzeug – und fast will mir schon zumute werden, als handle es sich um dasselbe Feuerzeug, mit dem ich mir meine imaginäre Havanna in den virtuellen Mäandern der Bibliothek angesteckt hatte.

   Erbaulich sei die Lektüre, edel und gerecht. Und was gut gebaut ist, ist erbaulich. Nur, wer baut die besten Häuser? Oder auf Englisch: "What do you call a person who builds stronger things than a stonemason, a shipbuilder or a carpenter does?" So stellt Shakespeares Totengräber die Preisfrage in eigener Sache. Und die Lösung kann nicht verwundern: "A grave-maker. The houses that he makes last till doomsday." Sehr haltbar.

Am besten, wir fragen auch gleich mal bei Celan und Arghezi nach. Doch sagen sie nicht jäh gerade was im Sprechchor? Und ob! Celans Stimme ist freilich lauter:


Ich stieß in meiner Kammer die scharfe Schaufel tief.
Es war ein Wind vorm Hause. Der Regen strömte schief.

Ich höhlt die neue Kammer tief in der Erde aus.
Es strömt der schiefe Regen. Es war der Wind vorm Haus.

Ich warf hinaus zum Fenster was ich gegraben hier.
Schwarz war die Erde, blau war der Schleier über ihr.

Das Erdreich vor dem Fenster – wie es gewachsen ist:
Der Berg der Welt und oben weinet Herr Jesus Christ.

Ich grub, da brach die Schaufel. Sie stieß auf harten Stein.
Es war Gottvater selber, sein steinernes Gebein.

So stieg ich durch die Zeiten den gleichen Weg empor.
In meiner leeren Kammer wars öde wie zuvor.

Da wollt ich ihn erklimmen, den Berg, und oben sein.
Es war ein Stern am Himmel. Die Himmelszeit vorbei.

(Tudor Arghezi, "Zwischen zwei Nächten", deutsche Übers. von Paul Celan,  zitiert nach Markus Fischer, S.196)


   Erst jetzt verstand ich, was Arghezi meinte. Es handelt sich ja keineswegs etwa um eine neue Kammer, sondern um die Kammer, die eine Kammer, die als Vehikel der großen Reise dient: das Grab. Würde man hier die zweckmäßige Parallele zur Totengräberszene in Shakespeares Hamlet weiter anstrengen, so dürfte das zentrale Moment der Betrachtungen notwendig auf Zugehörigkeit und Besitz, kurz, auf die gerade in dieser Szene so feinfühlig-bedeutungsproduktiv herauskristallisierten Modalitäten des Possessivpronomens hinauslaufen. "Whose grave is this?", will der Prinz wissen. "It’s mine, sir", antwortet der Leichenbestatter. Er ist es ja, der schaufelt. Nur, Gräber seien für die Toten bestimmt, nicht for the quick, die Lebendigen. Wem gehört also die Schaufel, die Kammer, das Graben, die Zeit?

Dass der Tod, eine der ewigen, eine der absoluten Wahrheiten, in der köstlichen, auf sprachwissenschaftlicher, ontologischer, moralphilosophischer, poetologischer und metaphorologischer Ebene äußerst dankbaren, zwischen Prinz Hamlet und den Totengräbern ausgetragenen Polemik des von Shakespeare thematisierten polysemantischen Verbs to lie (liegen/lügen) so tiefgreifend in die Begrifflichkeit des Seins an sich, in die Beschaffenheit menschlichen Daseins dringt, hat mit der grundlegenden Dynamik menschlicher Kommunikation und Wechselwirkung, mit Infragestellen, Bewahrheitung und Dialogik zu tun ("It’s a quick lie, soon it will gain away from me to you") – und mit der horizontalen Lebensweise, wie Thomas Mann sagen würde, wenn … aber es schneit ja nicht.

"Soon it will gain away from me to you." Ich schaute mich um. Der es sagte, stieß seine scharfe Schaufel ins Nichts und wollte, das etwas sei. Über den Ontariosee sind es nur fünfzig Kilometer bis Niagara-on-the Lake (bitte nicht mit Niagara Falls verwechseln, das ist eine andere Ortschaft): Shaw Festival. Eine alternative Wirklichkeit. Gar nicht so fremd, wenn man’s recht bedenkt. Freilich braucht einer ein gutes Boot, um sich über den See hinüber setzen zu können, anders gesagt ein tüchtiges Vehikel zum Übersetzen.

   Arghezi schaufelt also noch tiefer als Shakespeare. Dass sein stimmungsvoll-bedeutungsreiches Grab ("groapă") in den Lektüren zur Grube verkommt, was nicht ganz falsch ist, da "groapă" in der Tat gegebenenfalls auch Grube bedeuten kann, aber eben auch nicht ganz richtig, wie Arghezi mir durch ein diskretes Wimpern-Zucken zu verstehen gab, ist zwar schade, lässt sich aber wohl im Moment kaum ändern. Ich kann zwar Arghezi angesichts des durchaus aufschlussreichen Kontexts (Gottvater, Jesus, Relikte bzw. Gebein) schlecht widersprechen. "Grab" hätte es, da muss ich ihm recht geben, heißen sollen; nur, Arghezi äußerste sich nicht allzulaut dazu, und so will auch ich dazu schweigen. Ich werde sehr lange schweigen.

In der Robarts Library gibt es viele Kammern. Es roch nach Erde, nach Wasser, nach frischer Luft. Ich suchte einen Halt. Celan-Lektüren, Seite 127: Die drei Indianer aus Lenaus Gedicht, die das Zeitliche segnen mussten, weil – ja weil sie es eben so beschlossen hatten, waren immer noch da, gegen falsches Sein aufbegehrende Tropfen im Wasserfall der Zeit, das Ich, das Selbst, das Wir und das Nichts in einem. Drehte man den Wasserhahn in der hauseigenen Hexenküche an (third floor on the left), so sprühte daraus das stumme Leiden der anderen hervor –  und all die verklungenen Todesschreie, auf denen unsere Gegenwarts-Sinfonien der Lebendigkeit aufbauen, erfüllten wieder jedes Wesen mit Sein, jedes Wort mit Reim, jedes Mein mit einem Dein. Im fünften Stock, so glaube ich es heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu wissen, saß ein Germanist namens Markus Fischer an einem runden Tisch in allerbester schriftstellerischer Gesellschaft. Außer Celan und Kafka (ja, der hatte sich auch eingeschlichen) waren mir nur ein paar  Leute bekannt. Jemand winkte mir zu. Ich möge mich an den Tisch begeben. Die Fahrtreppe war aber kaputt, das Erklimmen der Stiege zu umständlich. So schwebte ich hin.

Ausdrucken?

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