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"Unabhängigkeit gebiert die wichtigsten Ideen"

Interview mit Vlaicu Golcea.

Von Daniela Şilindean
(06. 06. 2020)

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(c) https://fmt.uvt.ro

Daniela Șilindean
danielasilindean [at]
gmail.com

Daniela Șilindean ist Theater-
kritikerin, Übersetzerin, Uni-
versitätsdozentin und Kultur-
redakteurin des Kulturmaga-
zins "Orizont". Sie schreibt
Studien und Artikel für Zeit-
schriften und Sammelbände
im In- und Ausland. Sie ver-
öffentlichte die Bände "Matei
Vişniec, die unwiderstehliche
Anziehungskraft warmher-
ziger Worte" (RKI, Bukarest,
2010), "Das Buch des glück-
lichen Prinzen. Landver-
messung: Radu-Alexandru
Nicas Happy Prince" (Timpul
Verlag, Iași, 2014). Șilindean
ist Co-Autorin des Albums
"Szabó K. István. Die Illusion
der Zugehörigkeit" (Caiete
Silvane, Zalău, 2019). Sie ist
Mitglied der Internationalen
Vereinigung der Theaterkritiker
(rumänische Sektion) und der
Rumänischen Schriftsteller-
vereinigung.

 

 


(c) Emil Mandanac

Vlaicu Golcea

 

 


 

Nur ein winziger Prozent-
satz junger Menschen hat
Zugang zu künstlerischen
Strukturen und Ausdrucks-
mitteln, das ist nicht
normal
.

 

 

 

 

 

Mobbing wird in einigen
Institutionen immer noch
toleriert, mit der Begrün-
dung, dass es für das
künstlerische Schaffen
notwendig wäre.

 

 

 

 

 

Wie kann ein Dramatiker
aufsteigen, wenn nicht
durch Ausprobieren? Wie
können junge Dramatiker
bekannt werden, wenn
niemand Interesse zeigt
beziehungsweise niemand
ausreichend "Geduld"
mitbringt, ihre Stücke
zu produzieren?

 

 

 

 

 

 

Was es bräuchte, ist eine
professionelle Gemein-
schaft von Kritikern, aus-
reichend und gut informiert,
nicht Partei ergreifend, kon-
zentriert auf die tatsäch-
liche künstlerische Arbeit,
auf Debatte und auf prägen-
de Leistungen für das
Publikum.

 

 

 

 

 

Ich bin mir völlig bewusst,
dass alles, was ich sage,
radikal, zynisch, oft nihi-
listisch klingt. Meine Gedan-
ken entspringen aber dem
Gefühl eines notwendigen
Gegengewichts.

 

 

 

 

 

Denn in dieser kleinen
Künstlerwelt ist jeder mit
jedem bekannt. So ist es
ziemlich schwierig, wirklich
unvoreingenommen zu
bleiben, wenn die Ent-
scheidung getroffen werden
soll, wohin die öffentlichen
Gelder fließen sollen.

 

 

 

 

 

 In Rumänien sind die
Künstler mit einem System
konfrontiert, das die Angst
umtreibt, ihre Macht mit
dem Altwerden zu verlie-
ren, das hermetisch in
sich abgeschlossen und
nicht in der Lage ist, den
Platz fortschrittlichen
Kräften zu überlassen.

 

 

 

 

 

Was ich an den Künstlern
und Theaterleuten beson-
ders schätze? Ich schätze
ihre moralische Integrität
und ihre bedingungslose
und oft naive Hingabe. Ich
respektiere zutiefst ihren
Professionalismus, zumal
er oft an Orten und in
Arbeitsbedingungen blüht,
die eher das Gegenteil
bewirken.

 

 

 

 

Ich glaube, es gibt die
Voraussetzungen für ein
echtes soziales Theater, für
eine neue Ausdrucksform,
abgestimmt mit unserer
Dynamik.

 

   Vlaicu Golcea ist Komponist und Arrangeur, Performer, Sound Designer und Produzent. Von ihm stammen zahlreiche Installationen, er hat Musik für mehr als hundert Theaterproduktionen komponiert und Performance- und Filmmusik geschrieben. Golcea wirft einen analytisch scharfen Blick auf die rumänische Theaterszene und verbindet damit eine Reihe von Schlüssen über die Rolle der Kunst im Kontext des aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurses.


DŞ: Dreißig Jahre Freiheit. Wurde diese Freiheit auch im Theaterbereich umgesetzt? Ist das rumänische Theater frei?

Golcea: Frei... wovon? Von Vereinheitlichung? Von politischen und kulturellen Gruppierungen? Von Oberflächlichkeit? Von Tabus? Von Konservatismus? Von Stanislawski? Von religiösen Strukturen? Von kommunistischen Konzepten und Strukturen? Von Vetternwirtschaft? Von "blauem Blut"? Von der Arroganz, dass das einzig Wichtige in der Theatergilde und ihren virtuellen Räumlichkeiten stattfindet? Frei von Vorurteilen? Von Opportunismus? Von Dilettantismus? Von Mobbing? Von jeglichem Einfluss auf die Kunst? Von Steuerhinterziehung? Von positiver Diskriminierung, verknüpft mit fehlenden, an die Neuzeit angepassten kulturellen Richtwerten? Frei von Frauenfeindlichkeit und Sexismus? Von Inkompetenz? Von Selbstherrschaft? Von Kompromissen? Von Im-Dunkeln-Umherirren?

DŞ: Hat das rumänische Theater die Phase der Projektstarre überstanden? Wenn nicht, welche Chancen sehen Sie, dies zu erreichen?

Golcea: Es erfordert junge Führungskräfte mit ausreichenden Entscheidungsbefugnissen sowie Gewerkschaften, die die Rechte der Arbeitnehmer wirklich verteidigen sollten. Mit 45 Jahren befinde ich mich "mit einem Fuß im Grab" – so der Volksausdruck –, aber ich werde immer noch oft der jungen Generation zugerechnet. Nur ein winziger Prozentsatz junger Menschen hat Zugang zu künstlerischen Strukturen und Ausdrucksmitteln, das ist nicht normal. Wie viele Manager mit administrativen und künstlerischen Entscheidungsfähigkeiten sind unter vierzig? Und welche echte Macht zu handeln haben sie unter den Strukturen eines Managements, innerhalb dessen sie einen – sofern überhaupt transparent durchgeführten – Wettbewerb gewonnen haben? Ein weiterer Aspekt könnte mit dem Mobbing-Verbot zusammenhängen: Mobbing wird in einigen Institutionen immer noch toleriert, mit der Begründung, dass es für das künstlerische Schaffen notwendig wäre. Ich sage: Nicht blöd herumkommentieren; das Verbot ist umzusetzen, punkt.

Eine andere Frage: Wie viele Stücke von jungen rumänischen Dramatikern werden auf die Bühne gebracht? Die Antwort würde Sie ein bisschen irritieren. Wie kann ein Dramatiker aufsteigen, wenn nicht durch Ausprobieren? Wie können junge Dramatiker bekannt werden, wenn niemand Interesse zeigt beziehungsweise niemand ausreichend "Geduld" mitbringt, ihre Stücke zu produzieren? Keiner scheint zu verstehen, dass ein Experiment eine Investition in die Zukunft ist. Wer aber interessiert sich schon dafür, wenn die eigene Position von politischen Nichtigkeiten abhängt und vielleicht noch vom ganz speziellen Talent, möglichst gekonnt den mit feinstem Laucharoma geschwängerten rumänischen Styx durchsegeln zu können?

Was es bräuchte, ist eine professionelle Gemeinschaft von Kritikern, ausreichend und gut informiert, nicht Partei ergreifend, konzentriert auf die tatsächliche künstlerische Arbeit, auf Debatte und auf prägende Leistungen für das Publikum. Sowohl die Theatrologie als auch die Musikwissenschaft sind von ihrer Natur her durchwegs schwierige und einen hohen Bildungsgrad erfordernde Berufe, ganz ihrem hehren Tätigkeitsgegenstand entsprechend. Dieser Anspruch muss sich im selbstständigen und auch finanziellen Status des Theaterkritikers widerspiegeln, und auch in seiner Arbeitsqualität. Ich weiß, dass jeder, der Zugang zum Onlinebereich hat, automatisch seine Meinung äußert, aber ich weiß auch, dass es eine hochnotwendige intellektuelle und emotionale Ebene gibt, die geschützt und gesteuert werden muss. Auch bei der Kindererziehung ist das nicht viel anders. Ich persönlich würde mir nicht wünschen, dass einige der im Offline- oder Online-Bereich "gesetzlich" zugelassenen Stimmen meine Eltern wären. Der Schauspieler und sein Status als Angestellter – und all die Fragen und vielgestaltigen Details, die sich daraus ergeben – könnten jederzeit ein Buch füllen.

Ich bin mir völlig bewusst, dass alles, was ich sage, radikal, zynisch, oft nihilistisch klingt. Meine Gedanken entspringen aber dem Gefühl eines notwendigen Gegengewichts. Um eine echte Entwöhnung und Suchtbefreiung in der Art "die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter" einleiten zu können, ist es zunächst notwendig, den aktuellen Zustand zu akzeptieren, einen ehrlichen Blick in den Spiegel zu werfen, der überhaupt nicht angenehm ist, ganz im Gegenteil. Die Überwindung der Verneinungsphase ist Teil eines möglichen neuen deontologischen Weges.

DŞ: Ist die unabhängige Sparte eine wichtige Quelle im rumänischen Theater? Besitzt sie eine ausstrahlende Kraft?

Golcea: Das wollen wir hoffen. Ich würde mir das gerne wünschen. Unabhängigkeit ist die Geburtsstätte der authentischsten und wichtigsten Ideen, die geschichtlich einen Richtungswechsel einschlagen kann. Bisher gibt es aus meiner Sicht nur ein Pop-Out, das ein 3D-Bild aus einer 2D-Aufnahme erzeugt. Für den rumänischen Kulturraum hätte ich mir von Anfang an 4D gewünscht. Wir sprechen aber auch über eine Übergangsgeneration, die mit wesentlich mehreren Übergangsregelungen als meine konfrontiert war, und eine viel gewaltsamere Beschleunigung des Wandels durchläuft. Eine Generation, die ihre Authentizität über Ziffern- und Buchstabenkürzel definiert, ganz nach dem Motto: "Authentifizierung durch Passworteingabe". Dies schließt nicht den Umstand aus, dass ich bereits zu alt und von den Zeiten überholt bin und dass das, was mir derzeit oberflächlich vorkommt, in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen wird und "altmodisch" in der kulturell-hipsteriösen Akzeptanz des Wortes sein wird.

Übrigens: Unabhängige Sparte wovon? Letztlich sind die meisten Kulturschaffenden doch der Gnade des AFCN ausgeliefert, gelobt als "das kleinste Übel". Es geht hier nicht um deren Finanzierungsbedingungen, ihre Schwerpunktsetzungen, die verfügbaren Beträge, die Qualität, das Fachwissen und das Berufsethos der Bewerter, und insbesondere nicht um die Halb-Heuchelei der Anonymität und der Nicht-Voreingenommenheit. Denn in dieser kleinen Künstlerwelt ist jeder mit jedem bekannt. So ist es ziemlich schwierig, wirklich unvoreingenommen zu bleiben, wenn die Entscheidung getroffen werden soll, wohin die öffentlichen Gelder fließen sollen. Wie wäre es mit einer Sparte wie dieser: Unabhängig von einem Manager oder von einer Entscheidungsgruppe, die sie nicht versteht oder vor ihr Angst hat oder im besten Fall die Intransparenz und das tiefe Desinteresse der Stadtverwaltung, des Ministeriums, der Bezirksräte nicht stören möchte, sprich: von Parteien, die abgeordnet sind nämlich: als Vertreter der Rumänen –, um die kulturellen Geschicke des Landes im Blick zu haben und diese zu "lenken"? Wie klingt denn das?

Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass die neue Generation, die ihr Recht auf die Gegenwart beansprucht, die Kraft zum Reden und Tun finden wird, und in der Lage sein wird, unseren rumänischen DNA-Code umzuschreiben, eine echte Revolution anzuführen und eine Kunst zu schaffen, die im Einklang mit ihren wahren Bedürfnissen steht. Das sage ich aus der Perspektive eines Menschen, der seit 1995 mindestens zehn Jahre im Underground verbracht hat, zur Zeit als dies noch ein echtes Underground war, ohne Facebook, Twitter und Instagram, die es augenblicklich zum Upperground und cool machen.

Um zu den jungen Künstlern zurückzukommen: Diese befinden sich in einer äußerst heiklen und fragilen Position, entsprungen aus Geldmangel und infolge der fehlenden Verwaltungsstrukturen, die dem Wohl der Künstler dienen sollten, so wie das in vielen Ländern Europas der Fall ist. In Rumänien sind die Künstler mit einem System konfrontiert, das die Angst umtreibt, ihre Macht mit dem Altwerden zu verlieren, das hermetisch in sich abgeschlossen und nicht in der Lage ist, den Platz fortschrittlichen Kräften zu überlassen. Statt dessen verharrt es in einem Stadium ohne Zukunftsvision. Doch Gerechtigkeit wird es wieder geben, und sie kommt ganz sicher aus der Zukunft.

DŞ: Was schätzen Sie an der jetzigen rumänischen Theaterwelt?

Golcea: Die moralische Integrität und Hingabe vieler Mitarbeiter des technischen Personals, die ich im Laufe der Zeit kennengelernt habe. Mit einigen von ihnen bin ich befreundet, wir rufen uns regelmäßig an. Die Hoffnung einiger Schauspieler, künstlerischer Leiter, technischer Angestellter oder Dramaturgen, dass noch etwas Authentisches und Neues, Zeitgemäßes geschaffen werden kann. Ich schätze ihre bedingungslose und oft naive Hingabe. Ich respektiere zutiefst den Professionalismus, zumal er oft an Orten und in Arbeitsbedingungen blüht, die eher das Gegenteil bewirken.

Was ich auch schätze sind zeitgemäße Fragestellungen, künstlerische Prozesse, die ein Gefühl der totalen und bekennenden Hingabe ausstrahlen. Ich mag sehr die jüngsten Bemühungen, das Theaterklima frauenfreundlich zu gestalten. Ich schätze ebenfalls die jungen Künstler, die sich mit den stark veralteten Strukturen anlegen. Ich glaube, es gibt die Voraussetzungen für ein echtes soziales Theater, für eine neue Ausdrucksform, abgestimmt mit unserer Dynamik. Ich verbeuge mich vor den Künstlern, die andauernd weitersuchen, die sich nicht von den Hindernissen, die sie überall finden – wie in einem Videospiel von schlechter Qualität –, abschrecken lassen, und vor den Künstlern, denen es gelingt, durch den in der Öffentlichkeit aufgebrachten Aufwand den Status der wachsamen Gesellschaft zu ändern. Zu guter Letzt bin ich von allen Formen eingenommen, in denen ein Künstler seine Gefühle offenbart, wohl wissend, dass es bei dieser Art der persönlichen Entblößung auch einen möglichen Gewinner gibt – das Publikum.


Aus dem Rumänischen von Irina Wolf


(Auszug aus dem Originaltext in rumänischer Sprache,
Teil des Sammelbandes Teatrul.ro 30-Noi nume/Theatre.ro 30 New Entries)

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